Montag, 21. September 2020

Wo ist bloß die Zeit geblieben!

 Als ich im Französisch-Unterricht Auszüge aus  "A l'ombre des jeunes filles en fleur" übersetzen musste, hätte ich fast schon meine pubertäre Lust am Schreiben verloren. "Im Schatten junger Mädchenblüte" erschien 1918  als zweiter Band  von Marcel Prousts siebenteiligen Roman-Epos "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" (A la recherche du temps perdu). Mein frankophiler Vater hatte glücklicher Weise die Deutsche Übersetzung im Bücherschrank, und so begann daher  leider auch  bereits meine Karriere als literarischer Anleihen-Vertreter. 

Marcel Proust 1871 - 1922

Ich verstand auch in der Übersetzung, die ich für die Hausarbeit "kanibalisierte" nicht die Bohne. Diese überbordend zu Papier gebrachte Seelen- und Gefühlspein erreichte mich einfach nicht. Mit den "Leiden des jungen Werther" von J.W.v.G. ging es mir übrigens genauso, um meine deutsch-französische Gerechtigkeit im Unverständnis zu gestehen.

Hätte nicht 1984 der geniale Volker Schlöndorf - als ich mich längst textlich mit meinem Mangel an Intellekt abgefunden hatte -  "Eine Liebe von Swann" (Band 1)  filmisch umgesetzt,  Proust wäre mir ein Rätsel geblieben. Jetzt in meinem Alter, das Proust ja um zwei Jahrzehnte verfehlt hat, könnte ich ihm besser folgen. Und wissend um seinen Lebenslauf  auch als sich nicht outen könnender Homosexueller, erkenne ich, weshalb ich ihn nicht verstehen konnte. Weil er eben in einer der schlimmsten Epochen der Weltgeschichte über die Suche nach der verlorenen Zeit seine Gefühle literarisch verarbeiten musste. Ich hingegen habe bis Corona wie die Made im Speck der 70 Jahre Freiheit  als Schreiberling mehr oder weniger vor mich hin gedödelt.

Dieses verflixte 2020 hat mich eigentlich erstmals wirklich existenziell dazu veranlasst, mir all die Fragen über die Zeit zu stellen, die Marcel Proust ja quasi von der Geschichte aufgezwungen bekam:
Hast du die zur Verfügung stehende Zeit immer gut genug genutzt? Wer hat dir am meisten Zeit gestohlen? Wo - außer im Sport - hast du wirklich wertvolle Zeit verloren? Wer alles und was blieb bei deiner Hast auf der Strecke? Und so weiter...

"And so it goes" beendete Kurt Vonnegut,  der Sarkast der amerikanischen Postmoderne gerne die Kapitel seiner Bücher, und der war sogar aktiv traumatisiert durch den Krieg (Slaughtehouse Five...).

Der pandemische Feind, wenn wir den denn besiegten, ist so perfide, dass er wohl kaum noch lyrische Impulse auslöst. Es gab ja bislang nur Science Fiction, die sich den Viren-Horror ausmalte. Und das es Romanciers geben könnte, die mit einigem Abstand dann Herzens-Handlungen  über Covid 19 in den Computer tippen, werde ich wohl nicht mehr erleben. Was bleibt, sind die Auswirkungen des letzen Halbjahres, aus dem offenbar nichts gelernt wurde:

Am Samstag, schrieben sie, hätte das Oktoberfest beginnen sollen. Deshalb wurden sogar Verordnungen und Verbote erlassen, die Party-People daran hindern sollen, auf der verwaisten Theresien-Wiese private Sauforgien zu veranstalten. Der Straßen-Karneval in den Hochburgen wurde auch schon abgesagt.

"Alles zu seiner Zeit!" möchte ich den nicht Verstehenden zurufen, aber dann fällt mir ein, dass ja hier der Bock als Gärtner schreibt. Denn "aus beruflichen Gründen" gab es mehrere Jahre bei denen ich fast jeden Tag auf der "Wies'n" war und wichtige Zeit aber auch Geld dort im Rausch vertan habe. Und waren wir im kompletten Großfamilien-Verbund  nicht alljährlich beim "Tanz der Marktweiber" am Faschingsdienstag auf dem Münchner Viktualienmarkt?

Und dann stoße ich doch endlich auf eine verlorene Zeit, die ich wirklich so vermissen werde, dass mir beim Schreiben, die Tränen kommen. Denn mit meinem Enkel ging ich in den vergangenen Jahren lieber auf die eher überschaubare "Auer Dult": Steckerl-Fisch essen, Ketten-Karussell fahren und Kuriosa an den Antik-Bunden kaufen... Das Oktoberfest entwickelte eben Potenzial bedroht und daher bedrohlich zu werden - in einem Ausmaß, der mich un den Kleinen bangen ließ. Was die Terror-Gefahr nicht schaffte, erledigt nun die unsichtbare Bedrohung durch einen Virus, der auch Enkel von seinen Großeltern fern hält.

Das Karussell des Lebens macht jedenfalls keine Pausen,
in denen man aus- und zusteigen kann - so lange es sich nicht im Kreis dreht

Ja, das ist verlorene Zeit, die fehlt! Zum Beispiel das halbe Jahr, indem der Kleine sich nur am Telefon von einem "Nuschelchen"   zu einer gut verständlichen Plauder-Tasche entwickelt hat, habe ich leibhaftig verpasst. Übrigens  war das anders herum ein positives Ergebnis der im Lockdown so intensiv geprüften Eltern-Kind-Beziehung durch Homeoffice und Kurzarbeit. Für ihn also keine verlorene Zeit, sondern eine, die ihm später vielleicht einmal zugute kommt.

Wir - das alte Paar mit dem an Erlebnissen so reich gelebten Leben - haben hier in der selbst gewählten Isolation als Risiko-Viren-Empfänger auf der Burg hingegen nichts verpasst, was wir nicht versäumen wollten. Ganz im Gegenteil ist unsere Zeit hier verlustfrei trotz ultimativen Nichtstuns derart an uns vorbei gerast, dass wir uns täglich erstaunt die Augen reiben und uns fragen:

Wo ist bloß die Zeit geblieben?

Schlag nach bei Proust!

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