Dienstag, 30. Oktober 2012

Schnee von gestern

Maremonti, die ligurische Lebensformel, hat gerade um diese Jahreszeit extreme Überraschungen zu bieten. Vorgestern sind wir mit Lieblingsnachbarn mal wieder zu einer dieser vielgängigen Sonntagsorgien ins Gebirge aufgebrochen. Am Samstag noch mit blankem Oberkörper am Meer, konnte der Kundige mit Internet-Zugang allerdings schon sehen, dass sich ein Wetterwechsel ankündigte: Also erstmals Winterhosen an und die dickere Lederjacke angezogen; die frostbeulige Zweitbeste wählte zum Twinset sogar den Poncho und noch zusätzlich ein Cape. Beide standen wir dann vor unserem Auto und überlegten Steppjacken und Winterstiefel herauszunehmen, denn schon bei der Abreise betrug der Temperaturunterschied zum Vortag gute 20 Grad.

Aber wir wurden ja mit einem Fourwheel-SUV neuester Bauart gefahren.

Unser Ziel war das Restaurant Tramontana in Viozene (Frazzione di I -12078 Omea Cuneo) jenseits des Nava-Passes (Tel. 0039 0174 390 110). Vorher wollten wir noch beim Feinkostladen in Ponte di Nava einkaufen, für den die Pass-Überschreitung alleine schon lohnte. Denn die Spitzenerzeugnisse aus heimischer Produktion sparen dort im Vergleich - selbst zu den am Meer gelegenen Supermärkten - leicht eine ganze Tankladung, wenn man auf Vorrat kauft. Allerdings sollte das nicht mit vor Hunger knurrendem Magen geschehen, weil dann selbst der geräumigste Kofferraum zu klein werden könnte.

Die Fahrt über den Nava Pass ist ja allein schon ein landschaftlicher Hochgenuss. Selbst als wir anstatt der erwarteten Herbststimmung vom einbrechenden Winter umhüllt wurden. Die Flocken umpeitschten die von Markisen geschützte Auslage, was dem Kauf von knackigen Steinpilzen, Gartengemüsen und Back-Spezereien trotz Oktober bereits etwas Vorweihnachtliches gab.

Aber dann begann wirklich ein Wintermärchen: Der Schnee blieb nicht nur liegen, sondern schüttelte auch das gefärbte Laub von den Bäumen, sodass zwischen Herbst und Winter eigentlich nur die zwölf Kilometer Fahrt durch die Schlucht des wilden Fiume Tanàro lagen. 

Bei der Ankunft am Tramontana verkündete die Digital-Anzeige am Albergo zum ersten Mittag nach der  Umstellung auf Winterzeit: -3 Grad  - so als wolle sie unterstreichen, wie passend sein Name gewählt sei. Dieser Gebirgswind mit seinem Schneegestöber vor den Panorama-Fenstern verwandelte nämlich die ganze Atmosphäre in den eher praktisch eingerichteten Gasträumen in eine Art Hüttenzauber, bei der man allerdings Schwierigkeiten hatte, sein eigenes Wort zu verstehen. Weshalb der Burgbriefe-Blogger auch gleich eines seiner bereits verbreiteten Vorurteile (siehe Post "Velocità") revidieren muss: Es gibt doch Ligurer, die sich bei so einem Wetter allein fürs leibliche Wohl auf die Straßen wagen. Ohne Vorbestellung hätte es wohl keinen Platz mehr gegeben.

Alles war lecker, aber nichts herausragend:
Es gab sieben Antipasti, zweimal Pasta, dann panierte Steinpilze, Wildschwein-Gulasch und abschließend gebratene Forelle aus dem Tanàro letztlich gefolgt von einem Teller mit Nachtisch-Variationen. Rot- und Weißwein sowie Liköre und Kaffee waren für 25 Euro inklusive. Wir mussten eine wenig mehr zahlen, weil wir auch ein wenig mehr getrunken hatten als üblich. Typisch Deutsche halt! Man hätte aber - um nicht nur kalorienmäßig etwas günstiger wegzukommen - auch nur die Vorspeisen nehmen können. - Probieren bei den anderen kann man ja immer mal...

Als wir wieder heil auf der Burg zurück waren, kehrten wir auch noch bei unserer neuen Bar auf eine Grappa und einen Espresso ein. Wie berichtet, wird die ja von der ehemaligen Trägerin buntester Jogging-Anzüge betrieben, die ich hiermit zum  - versprochen! - letzten Mal so nenne. 
Zukünftig heißt sie wie ihre Bar: Girasole - Sonnenblume. Denn so hat sie  gestrahlt, als ihre vicini tedeschi erstmals in Mannschaftsstärke bei ihr einfielen...

Samstag, 27. Oktober 2012

Die Geschichte argumentiert für Europa

Wenn der Blick in die Historie eines verdeutlicht, dann ist es die Tatsache, dass der Mensch sie zwar studiert, aber bislang nicht in der Lage war, aus ihr zu lernen. Deshalb sollten wir alle genauer auf die hören, die das derzeitige Europa um jeden Preis erhalten wollen. Und zwar vor allem auf jene, die dafür weniger die wirtschaftlichen Argumente anführen, sondern vorrangig geschichtliche.

Keine Bange: Ich zähle jetzt nicht all die demokratischen Errungenschaften auf, die immer wieder durch ihre gewaltsame Bekämpfung konterkariert wurden. Ich verweise da lieber auf die aktuellen Bedrohungen durch rückläufige Tendenzen in der russischen Oligarchie, im weißrussischen Despotismus, in der ungarischen Entdemokratisierung und nicht zuletzt auch auf den möglichen Rücksturz der Griechen, Spanier und Portugiesen in gehabte Junta-Zustände, wenn wir ihnen nicht als europäische Gemeinschaft helfen...

Mir ist das durch den Kopf geschossen, als ich dieser Tage in Menton an der Place du Cap Menschen-Zoo gucken war. Dieser Platz ist quasi das alte Ende des Quai, der nach einem der größten europäischen Kriegsverbrecher der Neuzeit benannt ist: Napoleon Bonaparte: Ein weiterer Beleg dafür, wie schlimme Zeiten historische Blickwinkel verändern können, sonst würde die Grande Nation ihre diesbezügliche Heldenverehrung des im Dôme des Invalides zu Paris sarkophagierten kleinen Kaisers vielleicht unter dem europäischen Aspekt überdenken.Es gibt keinerlei humanistische oder politische Rechtfertigung für das, was er Europa angetan hat. Der Himmel bewahre auch uns Deutsche davor, dass Menschen bei uns an die Macht kommen, die dereinst mit dem Schicklgruber dergleichen vorhaben. Aber ich verirre mich wiedermal im Wirrwarr meiner Gedanken. Wer ohne Beckmesserei zusammengetragene, historische Fakten zum generellen Verständnis Europas einsehen möchte, dem empfehle ich Heinrich-August Winklers zweibändige "Geschichte des Westens".

Ich selbst bin eher jemand, der selbst  Erlebtes verwebt. Und unter diesem Aspekt komme ich langsam zur Erkenntnis welches Privileg ich allein durch die Tatsache genieße, dass ich bald 64 Jahre auf der Welt bin, ohne im unmittelbaren europäischen Umfeld einen Krieg erleben zu müssen. Mein Vater hatte in diesem Alter schon zwei Weltkriege hinter sich. Beide Großväter, die sie auch überlebten,  glaubten gar - trotz traumatischer  Erlebnisse in den Schützengräben - noch an das Ehrenhafte des Heldentodes und hielten die Erbfeindschaft gegenüber den Franzosen als gottgegeben.

Vielleicht hat unser stets frankophiler Vater deshalb unsere Kindheit so pan-europäisch und mit anderen Wertbegriffen gestaltet. Er ist mit uns auch  in Länder mit schwierigen politischen Verhältnissen gereist: Spanien unter Franco, die Tschechoslowakei vor dem Prager Frühling und die abgeschotteten Balkanstaaten bevor sie den Tourismus als Einnahme-Quelle entdeckten. Durch Bulgarien mussten wir sogar einmal im Konvoi mit schwer bewaffneter Begleitung... Irgendwie hatte er es aber bei der Routenplanung immer wieder mal hinbekommen, dass wir noch eine Woche mindestens avec les tantes entweder in Paris oder an der Côte d'Azur als Kontrastprogramm geboten bekamen. Die Tanten waren Nenn-Tanten. Es handelte sich dabei um seinen Studenten-Harem aus alten Sorbonne-Tagen. Sie verstanden sich übrigens auch mit unserer Mutter bestens . Aber davon vielleicht später einmal.

Heute geht es also um den Umstand, dass ich diesen Küstenstrich zwischen Nizza und Imperia, in dem ich heute wohne, seit Kindertagen meist einmal im Jahr bereist habe, und das bis in die Tage beibehalten habe, da ich schon eigene Kinder hatte oder beruflich in der Nähe zu tun hatte. Teile der Tantchen hatten nämlich Menton als ihren Alterssitz auserkoren  Aber da sah Menton noch nicht so aus dem Ei gepellt aus und die Altstadt war nicht dieses touristische Schmuckstück wie heute. An der italienischen Grenze unten kam es immer zu nervenden Warteschlangen, die auch nicht kürzer wurden, als man oben auf der Autobahn bleiben konnte. Da kamen nämlich noch die Maut-Stationen hinzu...

Wenn also ein ganz billiges, kleinbürgerliches Argument für Schengen zählt, dann ist es die Tatsache, dass wir heute über die Grenze zum Einkaufen fahren, als hätte es nie ein anderes Europa gegeben. Aber wir übersehen dennoch nicht die Veränderungen: 

Trotz Herbst-Ferienzeit war Menton noch nie so ruhig, und noch nie wurde soviel italienisch gesprochen wie seit der Zeit als dieser Küstenstrich von den Machthabern des 18. und 19. Jahrhunderts quasi im Dekaden-Rhythmus als Beute oder Pfand hin und her geschachert wurde. Nicht, dass Frankreich nun viel billiger wäre als Italien, aber das Angebot ist vielleicht breiter und die Restaurants bieten pauschale Menüs für unter 20 Euro an.

Der Ober im Le Balico an der Place Herbes, das vor drei Jahren den Besitzer gewechselt hat, kennt mich.
Nicht etwa weil wir so häufig dort waren, sondern weil er früher im Da Beppa am Hafen von Oneglia serviert hat, als wir uns jenes noch häufiger leisten konnten. Davor war er jahrelang in München tätig. Er schwadroniert dreisprachig - wie viele seiner Kollegen hier und fährt an freien Tagen zu seiner Familie nach Imperia.

Früher hatte Menton in etwa den Ruf, das "Freiburg Frankreichs" zu sein. Das milde Klima lockt aber mittlerweile Alte und Junge gleichermaßen an: Wenn mich mein Gefühl nicht trügt, verschmilzt hier Europa so harmonisch und unprätentiös wie es dem gesamten EU-Raum zu wünschen wäre. - Ein besserer Geschichtsunterricht vorausgesetzt.


Dienstag, 23. Oktober 2012

Speicher-Kapazitäten

Wenn meinem lokalen Datenspeicher "C:" die Überfüllung durch beim Surfen angesammelten Datenschrott droht, dann meldet er sich und verlangt Zuwendung; entweder in Form von Säuberung oder Aktivierung eines Komprimierungsprogrammes.

Für alternde Hirne gibt es weder Warnvorrichtungen aufgrund von Überfüllung, noch eine Möglichkeit, überflüssiges Wissen einzudampfen. Hier auf der Burg wird das Lebenstempo derart abgebremst, dass es immer wieder zu trotteligen Auffahrunfällen der kleinen grauen Zellen kommt. Während die Zweitbeste stundenlang auf dem Küchenstuhl hockt und Sudokus löst (jetzt hat ihr die allerbeste Tochter auch noch ein Jahresabo geschenkt), kämpfe ich noch um die Reste geistiger Dynamik.

Allerdings mit wenig Erfolg: Seit über einem Jahr habe ich kein Bild mehr gemalt, und die Elektronik meiner diversen Kamera-Ausrüstungen müsste komplett neu initialisiert werden. Das ehrgeizige Videoprojekt über den Borgo ist mit allen Schikanen geschnitten und mit ligurischer Volksmusik unterlegt, aber ich kann mich nicht aufraffen, das ganze aus dem Off zu kommentieren. Das letzte Foto habe ich im Sommer 2011 geschossen, bei einer Party - was ich mein Leben lang eigentlich abgelehnt habe.

Manchmal denke ich, dass es das Zuviel an Elektronik und digitalem Schnickschnack ist, das mich ermüdet. Aber bei näherer Betrachtung ist es eher die Übersättigung mit unauslöschlichen Eindrücken. Da ich das meiner Umwelt nicht so einfach vermitteln kann, versuche ich es heute mal mit diesem Post, denn ich bin nicht der Menschenfeind, als der ich manchmal rüberkomme. 

Die Zahl meiner Déjà-Vu-Erlebnisse nimmt beängstigende Züge an.

Als wir noch jung und knackig waren, und es hieß, es kämen keine Kinder, lebten wir in einem Altbau des Glockenbach-Viertels in München als Teil einer fabelhaften Eigentümer-Gemeinschaft. Bei den großen Nachbarschaftsessen fanden sich Psychologen, Architekten, Komponisten und weitgereiste Angestellte des Goethe-Institutes um die Tische zu aktuellen Diskussionen ein. Ganz besonders gerne stritt ich mich mit einem Pathologie-Professor, der sich ausschließlich  mit dem menschlichen Gehirn beschäftigte und mich damit provozierte, dass er die Absicht hegte, mit dem Großteil seines Wissens ins Grab zu gehen. Ich, als ihn vermeintlich bezahlender Steuerzahler, appellierte hingegen an seine Pflicht Forschungsergebnisse zu publizieren.

Er konterte sehr geschickt mit dem Hinweis, dass schon ein Bruchteil seiner Erkenntnisse ein allgemeines Grauen über die Manipulierbarkeit des Individuums auslösen würde. Immerhin verdanke ich ihm eine vereinfachte Erklärung über das Entstehen von Déjà-Vus, die mich bis heute beruhigt. Er beschrieb die charakteristischen Wahrnehmungsfelder des Menschen als verkleinertes Schachfeld mit sechs mal sechs Feldern, Schon eine wahllose Belegung der Hälfte mit aktuellen aber bekannten Reizen könne dafür sorgen, dass sich das Hirn den Rest als bekannt und erlebt automatisch fertig denkt. Nichts anderes sei ein Déjà-Vu.

Einen wichtigen Teil meines Lebens habe ich die Welt nach vermittelbaren Motiven durchforstet. Der Blick durch den Sucher sich ständig technisch verändernder Kameras und das fragmentarisch und abstrakte Festhalten der übrigen Sinnesreize engte nicht nur ein, sondern sorgte auch für deren Unauslöschlichkeit in meiner Erinnerung. Während sich die Welt erschreckend schnell weiterentwickelt und auch (nicht nur zu ihrem Nachteil) verändert hat, bleiben meine Erinnerungen jedoch so, wie sie im Gedächtnis abgespeichert wurden.

Ich erinnere mich noch gut, wie Imperia vor zwölf Jahren aussah, als wir uns hier auf der Burg ansiedelten. Ich bin damals Tag und Nacht durch die Gassen gezogen, um besondere Stimmungen herauszuarbeiten. Beim weihnachtlichen Pieve di Teco bin ich schier ausgeflippt. Heute ist die Veränderung vom Handels- zum Yachthafen, vom Industrie-Städtchen zum touristischen Ziel angenehme Routine.

Bei der Burgbriefe-Leserin Folletto Buono erkenne ich diese Leidenschaft des Festhaltens wieder: Sie fotografiert hier alles, was ihr vor die Linse der nun grenzenlos speichernden Digitalkameras kommt. Dabei gelingen mühelos in Vorbeigehen zum Teil beeindruckende Dokumente. Auch meine Tochter, die Grafikerin und Künstlerin, macht mit ihrem i-Pad im Handumdrehen zusätzlich per Gestaltungsprogramm aufgepeppte Foto-Sequenzen, für die es früher Tage und mehrere Individual-Könner gebraucht hätte.

Währenddessen habe ich immer noch das trügerische Gefühl, alles schon einmal fotografiert oder beschrieben zu haben. Aber gleichzeitig weiß ich, dass der Individual-Könner in einer Zeit, in der jedes Smart-Phone super Fotos macht und jeder im Web sein eigener Publizist sein kann, eben nicht mehr gebraucht wird.

Das ist vermutlich auch im Digitalen jetzt der "natürliche" Lauf der Dinge. Wenn mir beim überlagerten Wissen etwas nicht einfällt, das Gedächtnis zunehmend Aussetzer hat, gehe ich eben auch an den Computer: Google Earth vermittelt mir die Städtenamen, die mir auf den einst bereisten Routen nicht mehr einfallen. Per Streetview kann ich sogar sehen, wie ein ehemaliger Fotograf von mir heute in Utah haust, und um Details kümmert sich die Suchmaschine, in der mittlerweile auch dieser Blog regelmäßig unter seinen Schlagworten registriert wird.

Die Kapriolen der Synapsen erspart einem das allerdings nicht. Vor kurzem diskutierte ich mit einem Freund über die vermeintlich besten Literatur-Verfilmungen. Nach kurzem Überlegen entschied ich mich für "Unter dem Vulkan" mit dem fabelhaften Sir Albert Finney. Das ist doch ganz fabelhaft, wie er diese bedrohliche Atmosphäre von dem Dings, äh, na du weißt schon, der... Ja meinst du, der fällt mir jetzt ein - der Autor?

Ins Google-Fenster, in das ich zwecks Autoren-Suche den Titel des Buches eintippen wollte, schrieb ich stattdessen: Malcolm Lowry - den Namen des Autors, der mir partout nicht einfallen wollte.

Ich gehe jetzt aber doch besser auf die Terrasse und schaue mir gedankenlos die sich immer noch nur langsam verändernden Oliven-Täler an.

Samstag, 20. Oktober 2012

Wo sind die anderen?

Kaum ist der Sommer mit den Bade-Latschen vorbei, da macht sich das Phänomen wieder verstärkt bemerkbar. In meiner Jugend hielt ich es allein für ein typisch deutsches, aber seit ich in der Welt herum gekommen bin, weiß ich, dass das Mysterium der einzeln auf Wegen und Straßen herumliegenden Stiefel, Halb- aber auch Turnschuhen eines ist, dass selbst in der bei derlei Dingen unterversorgten, sogenannten "dritten Welt" vorkommt...

Neulich fuhr ich über den vereinsamten Sustenpaß. Kurz vor der Passhöhe auf gut 2000 Meter Höhe lag mitten auf der Fahrbahn ein recht gut erhaltener wenn nicht gar neuer Bergschuh: Ein rechter, denn ich habe für ihn gebremst und kurz überlegt, ob ich ihn auf eine der Markierungen für den Schneepflug stülpen sollte Er hätte mindestens noch für mehrere Dutzende Bergtouren getaugt. Aber wer würde einen verlorenen Bergschuh schon auf einer dieser gelb schwarzen Stangen suchen...Ich ließ ihn also liegen.

Natürlich gehen einem einige Gründe durch den Kopf, wieso dieser Schuh dieses Schicksal der Vereinsamung hat hinnehmen müssen: beim Abtransport eines Verletzten durch die Bergwacht könnte der Stiefel vom Fuß gerutscht sein; oder ein Bergkamerad hatte einfach keine Lust auf eine schwierige Bergtour, und weil er dem Rest der Seilschaft nicht sagen wollte, dass er zu feige ist, hat er in einem unbeobachteten Moment den Schuh einfach aus dem Fenster geworfen: "Sorry Freunde, aber ich muss unten bleiben, ich habe nur einen Bergschuh eingepackt." Oder ein Einheimischer hatte einfach die Nase voll, von den vielen Touris in seinen Bergen und einem aufgelauert, um ihm - ein Exempel statuierend -einen der neuen Stiefel zu rauben... - Ich werde es leider  nie erfahren. Genau wie den Grund für all die anderen Einzel-Schicksale verlorenen Schuhwerks, die ich im Verlauf meines Lebens registrieren musste.

Es kann ja wohl nicht alles auf meinen alten Schul- und Sport-Kameraden Toni oder ähnlich gestrickte Zeitgenossen geschoben werden. Der Toni - ein herzensguter Mensch, hochintelligent und einer der begabtesten Schwimmer, den unser Land je hervorgebracht hatte - bekam unter bevorstehendem Wettkampf-Stress mitunter einen Rappel, der sich darin äußerte, dass er einzelne Schuhe unseres Teams aus dem Mannschaftsbus schleuderte und darüber teuflisch lachte. Das Ritual war wohl leistungssteigernd, denn bei irgendwelchen Bayrischen Meisterschaften, die ich halb barfuß humpelnd erlebte, holte er den Titel über 100 Meter Kraul mit Jahrgangsrekord.

Mensch und Schuh - das scheint doch zumindest im geschnürten Zustand eine kaum lösbare Verbindung, und doch passieren da Dinge, die nicht zu erklären sind. Ein TV-Kollege vom ORF stürzte beim Ski-Weltcup  in Bad Gastein mit einem Hubschrauber aus gut dreißig Metern Höhe ab. Alle an Bord überlebten wie durch ein Wunder unverletzt, aber mussten unter Schock stehend, aus dem geborstenen Helikopter befreit werden. Mein Kollege hatte bei der Befreiung keine Schuhe an. Er konnte sich aber erinnern, dass er seine geschnürten Sorel Boots im Hotel angezogen hatte. Einer fand sich dann auch unweit der Absturzstelle im Tiefschnee. Der andere blieb auf immer verschwunden...

Wie komme ich auf dieses absolut absurde Burgbriefe-Thema?

Heute Vormittag war ich mit der Zweitbesten wieder radelnd auf unserer einzigartigen Strecke am Meer unterwegs. Um diese Zeit (Schande!) wirkt aber leider ein Entwässerungsmittel und ich musste rechts ran und in einem Palmenhain verschwinden. Wie immer in solchen Momenten waren auf der eben noch total leeren Strecke von beiden Seiten auf einmal Dutzende Radler unterwegs. Nicht die schnellen Renner, sondern die Gemütlichen, die auch noch Zeit haben, links und rechts zu gucken. Ich konnte mich aber gar nicht genieren, weil keinen Meter von mir entfernt ein einzelner, funktionstüchtiger Bike-Schuh mit integriertem Pedal-Klick-Mechanismus lag.

Hätte es sich bei dem Besitzer um einen vermeintlich einbeinigen Rennradler gehandelt, dann hätte er doch auf diese Internet-Börse für rechte und linke Einzelschuhe gehen können. War am Ende also ein Verbrechen geschehen? Man kann diese Rennpedale nicht ohne passendes Schuhwerk treten. Selbst mit nur einem dieser Schuhe zu gehen, haut nicht richtig hin.

Jedenfalls hatte ich für einige Kilometer keinen Blick für die herrliche Küstenlandschaft, sondern vermutete unter jedem Oleander oder hinter den großen Agaven das passende Pendant oder zumindest Stücke eines gemeuchelten Radlers zu finden.

Aber es ging aus wie immer. Die Frage:"Wo sind die anderen?" blieb einmal mehr unbeantwortet...

Mittwoch, 17. Oktober 2012

Fastfood-Delikatesse

Das schöne an den kürzer werdenden Tagen und den langen, kühleren Abenden: Es macht mehr Spaß, in der Küche zu stehen. 

An Wochentagen essen wir jetzt hier auf der Burg unitalienisch früh. Das hängt damit zusammen, dass die Zweitbeste einfach nicht davon lassen kann, via Satelliten-Schüssel die Sendung "Das perfekte Dinner" zu gucken. Ich für meinen Teil gucke da zwar lieber in eine Salatschüssel, aber mit gefangen ist eben mit gehangen. Ich nenne diese Sendung, die eigentlich nur noch wenig mit der Start-Staffel gemein hat, mittlerweile "Prekariatsfernsehen", denn wenn die dort auftretenden, offenbar frei gelassenen Exemplare eines TV-Menschen-Reservates tatsächlich repräsentativ für die aktuelle Durchschnittsbevölkerung Deutschlands wären, müsste ich mich sofort um die italienische Staatsbürgerschaft bemühen. Glücklicher Weise belehren mich meine Observierungen aus dem heimischen Glashaus eines Besseren.

Dabei wäre die Idee so etwas von Klasse, wenn es tatsächlich um den Genuss selbst zubereiteter Speisen und nicht um das Delektieren an selbstdarstellerischen Volltrotteln ginge. Die Regeln müssten halt gestrafft werden. Wieso brauchen die einen halben Tag zur Vorbereitung des Dinners, wenn sie dann am Abend oft die Gäste wegen ihrer Küchen-Stümpereien bis nach Mitternacht alleine lassen? Und diese ulkigen Standards, dass Brot und Pasta selbstgemacht sein müssen, damit es keine Punktabzüge gibt! Ich habe oft genug in mit Sternen dekorierten Restaurants gegessen, die ehe sie ihren Gästen zweitbestes Selbstgemachtes anboten, lieber von prämierten Lieferanten aus der Umgebung kauften. Wo soll denn da bitte die Grenze gezogen werden: Nur noch selbst gezogenes Gemüse und von eigener Hand aufgepeppeltes Schlachtvieh?

Wir haben hier in Oneglia  an der San Giovanni eine Pasticeria, die beim Zuschauen derart variantenreiche Teigwaren herstellt, wie sie in kleinen Mengen einfach zu aufwendig wäre, wollte man sie in gleicher Güte nachmachen. Aber damit nicht genug: Die Frischemärkte haben ja auch nicht geschlafen. Sie bieten heute in Reife-Varianten diverse pasta fresca an, die auch routinierte Benutzer eigener Spaghetti-Maschinen nicht erreichen. Unserem Sohn haben wir so ein Gerät geschenkt, dass anschließende stundenlang gesäubert werden muss, wenn er Ravioli für vier Personen hergestellt hat. Obwohl er - wie ich nicht ganz bescheiden feststellen darf - sowohl meine Gourmet- als leider auch meine Gourmand-Fähigkeiten geerbt hat, haben mich die Do-it-yourself-Ergebnisse auf diesem Gebiet nicht wirklich überzeugt...

Gestern habe ich hier beim Frische-Franchiser in unserem gigantischen Supermarkt  für zwei Personen eine am Morgen hergestellte Portion Eier-Tagliolini gekauft, um der Zweitbesten das Vorurteil gegen Bottarga di Muggine auszutreiben:

Tagliolini al Bottarga di Muggine

Das ist ein typischer Primo in Süditalien oder auf Sizilien und Sardinien. Ganz früher einmal war es eine Beispeise der armen Fischer, die beim Ausnehmen des Fanges die Rogen-Schläuche der Großköpfigen Meeräsche heraustrennten, trocknen ließen und zum haltbar Machen mit Bienenwachs überzogen. Seit die Bottarga zur teuren Delikatesse geworden ist und der Meeräschen-Bestand drastisch zurückgeht, gibt es auch noch Varianten von Fisch-Arten mit größeren Beständen. Zum Beispiel industriell getrockneter Rogen vom Tunfisch, der sich schon im Preis gewaltig unterscheidet. Diesen hatte die Zweitbeste einmal erwischt und sich geekelt. Gestern nun also der erneute Versuch, sie mit der einzig wahren Bottarga zu überzeugen. 

Zwei mittelgroße, eingeschweißte Stränge aus der Kühle kosten hier etwa zehn Euro (im heimischen Internet gern das Doppelte). Ein Strang reicht für zwei Personen. Der zweite hält sich gut verpackt lange Zeit, aber ich schwöre, der Genuss drängt nach ziemlich baldiger Wiederholung - weil die Zubereitung einfach so schnell geht:

Die frische Pasta hatte eine Garzeit von zweieinhalb Minuten. In dieser Zeitspanne wird mit einer gröberen Einstellung  des Gemüse-Hobels etwa die Hälfte eines Stranges auf einem geräumigen Teller schön ausgebreitet, damit die Scheibchen beim Unterheben in der heißen Pasta nicht verkleben. Die verbliebene andere Hälfte kommt mit dem nun hauchfein gestellten Hobel zum individuellen drüber Reiben auf den Tisch; - zu den unbedingt stark vorgewärmten tiefen Tellern.

Die gare Pasta im Topf lassend sorgfältig abgießen und sie mit etwa 100 Gramm oberitalienischer Sahnebutter auf der kleinen Flamme verrühren. Dann sehr sorgfältig verteilend die grob gehobelte Bottarga hinzu geben. Die Flamme löschen und die Pasta etwa noch zwei Minuten vor dem Servieren ziehen lassen. Auf dem Teller noch eine kräftige Prise aus der Pfeffermühle drüber - fertig!

In weniger als zehn Minuten (brutto!) entstand so ein Gericht, von dem die Zweitbeste noch Stunden später am Telefon der Schwester vorschwärmte: "Mindestens so gut wie Trüffel-Spaghetti!"

Buon appetito!!!

Sonntag, 14. Oktober 2012

Herbstzeitreiche (?!)

Schon als sie vor mehr als vier Jahrzehnten zunächst "die Liebe auf den ersten Blick" und noch lange nicht "die Zweitbeste" war, predigte mir die Frau, mit der ich heute immer noch meine alten Tage verbringe: 
"Lebe jetzt und hör endlich auf, dich um das Leben in der Zukunft zu sorgen. Geniess es doch  endlich mal!!!"

Ja aber geht das so leicht, wenn ein Paar schon zu Beginn der Beziehung weiß, dass es gegensätzlicher nicht sein könnte? Sie war schon eine manierlich bezahlte Angestellte in einem Erfolgsverlag als ich noch Lehrling in einem war, der mal erfolgreich dem Markt Impulse verlieh und dann von einem der mächtigsten Medien-Konzerne der Welt geschluckt wurde. Jenes Macht-Imperium, das immer wieder auch in meinem späteren Leben meine Ideen bereits beim kleinsten Anzeichen von Erfolg durchkreuzen sollte... 

Am Ende jedes Monats lebten wir jedenfalls damals von meiner mageren Ausbildungsbeihilfe. Und es reichte  doch für gegrillte Maiskolben oder eine Hühnersuppe beim Wienerwald, die wir als "Luxus pur" empfanden.

Sie dann - im frühen Twen-Alter - erfolgreiche Managerin zweier Buchhandelsfilialen mit Millionen-Umsätzen, und er - kaum trocken unter den journalistischen Flügeln - ausgestattet mit einem Autoren-Vertrag, wie es sie heute gar nicht mehr gibt: 

Es wurde geheiratet auf einem Fundament finanzieller Sorglosigkeit, wie es andere und ältere Paare gar nicht kannten: Und dennoch blieb bei ihm immer die Angst vor dem Morgen, die ja nicht kleiner wurde, als die Kinder kamen und die Managerin mehr oder weniger - ohne das heutige Lamento - die eigene Karriere aufgab...

Ach, was schreibe ich eigentlich von den längst vergangenen Tagen, wo wir doch hier im Jetzt angekommen sind? Jedenfalls hatte die Zweitbeste vor wenigen Tagen Geburtstag, und weil die Kardiologen es ihr angeraten hatten, sich ein wenig zu bewegen, habe ich ihr ein Klapp-Fahrrad neuester Bauart im Internet bestellt und nicht ohne Hintergedanken geschenkt. 

Zeit unserer Ehe hat sich die Zweitbeste meinen Versuchen geschickt entzogen, sie auf meine eher aktivistische Schiene zu ziehen. An meinem vierzigsten Geburtstag ist sie zwar  - ohne zu murren und zu stoppen, durch den Nebel vor mir herkurvend - eine schwarze Ski-Abfahrt hinunter gebraust, aber nur um mir dann anschließend zu erklären, dass dies das letzte Mal gewesen sei, dass sie auf diesen "Scheiß-Ski " gestanden hätte. 

Auf dem Tennisplatz endeten unsere Versuche der Gemeinsamkeit immer dann, wenn es mir mal nicht gelang, ihr den Ball direkt auf den Schläger zu spielen. Und zwar in einer Heftigkeit, die die wenigsten unserer Ehe-Kräche auf der nach oben offenen Richter-Skala erreichten. Tennis sei ein Laufsport, hatte ich ihr vergeblich zu vermitteln versucht.

Sie hätte auch niemals eine meiner extremen Reportagen in ferne Länder mitgemacht. Das war nicht ihre Welt, aber sie überließ mir diese - ohne jemals eifersüchtig zu murren oder mir die oft Monate lange  Abwesenheit bei der Kinder-Erziehung zum Vorwurf zu machen.

Ja, und dann waren wir gestern gemeinsam auf diesem sagenhaften Radwanderweg zwischen Imperia und Ventimiglia unterwegs, den die Provinz-Väter auf der aufgelassenen Küstenstrecke der Staatsbahn angelegte haben: Immer ganz nah am Meer und weit über ihm, den Duft der Macchia in der Nase und die jodhaltige Luft in den Lungen. Wir hatten es ganz langsam angehen lassen, und ich hielt mich auch tapfer mit Belehrungen zurück. Wir kurbelten los; langsam und bedächtig dennoch mit Helm auf dem Kopf. Wen juckte es da, dass die anderen Radler uns überholten, als führen wir in Zeitlupe? (Wir machten  tatsächlich etwas Aktives zusammen)

Noch vor ein paar Jahren wäre das permanent überholt Werden bei mir nicht ohne peinlich vom Ehrgeiz berührte Gegenwehr gegangen. Aber jetzt hatte ich ja  sogar auf meine "Rennmaschine" verzichtet und mich auf ein 30 Jahre altes Monster geschwungen (ehrlicher Weise muss ich gestehen, dass ich dabei fast mit den steifen Beinen am Sattel hängen geblieben wäre),das ein Deutscher Produzent zu Beginn der 1980er einmal als "Trekking-Bike" auf den Markt gebracht hatte.Es ging schon komisch schwer mit seinen dicken und auch nicht richtig aufgepumpten Reifen. Aber dass die Kleine da so munter loszog und ich ordentliche treten musste. war doch eine Überraschung; aber auch Belohnung durch ihre Begeisterung.

Wie ich da so mit einem leichten Tränenschleier hinterher trudelte, kam mir der Gedanke, dass es vielleicht doch noch ein Leben vor dem Tode gäbe. Man muss es nur langsamer angehen. Als wir hierher zogen, waren meine Pläne voller geplanter Aktivitäten für die Jahre im Ruhestand. Jetzt mit zwölf  Jahren mehr auf dem Buckel erkenne ich zögerlich, dass wir zwar reich an Zeit sind, aber dass der Herbst uns dazu zwingt, nicht mehr alles auf einmal tun zu können - selbst wenn wir es wollten. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass man im Raum-Zeit-Kontinuum des Alters das Gefühl hat, die Tage rasten dahin. Dabei ist es doch nur die erzwungene Entdeckung der Langsamkeit


Mittwoch, 10. Oktober 2012

Er kam nur bis Ventimiglia

Manche aus dem Kreis der Sippenleser werden sich vielleicht noch erinnern, dass der heutige Burgbriefe-Schreiber in den späten 80ern des vergangenen Jahrhunderts eine preisgekrönte Reportage auf den Spuren von Carlo Levis Roman "Christus kam nur bis Eboli" veröffentlicht hat: Eine Betrachtung der bitterarmen aber reizvollen Basilicata  südlich von Neapel - damals wie heute im Würgegriff von N'drangheta und Camorra - den heute vermutlich stärksten Mafia-Organisationen.

Die Bergkuppen, die wir hier bewohnen, erinnern mit ihren wie Diamantbroschen auf grünem Samt sitzenden, funkelnden Dörfern bisweilen an den waldreichen Teil der Basilicata, die - je weiter einer nach Süden reist - immer karstiger und staubiger wird. Auch Ligurien war einmal so bettelarm. Quasi auch das Durchgangslager der italienischen Tagelöhner auf dem Weg zu ausbeuterischen Bergarbeiter-Jobs jenseits der französischen Grenze...

Heute im bald bettelarmen Europa wiederholen sich Tendenzen von einst, auch wenn das ganze nun von einer der obersten Sprossen der Wohlstandsleiter erlebt wird. Ganz Italien, aber anscheinend besonders die ärmeren Provinzen - so scheint es beim Vorbeifahren - befindet sich im Würgegriff der Benzin-Mafia. Wer die Hoffnung hatte, nach den Ferien gäben die zum Teil abstrusen Preise, die an der 1,90-Euro-Marke kratzen, wieder nach, sah sich getäuscht. Weil die Mineralöl-Firmen anscheinend immer noch nicht genug Profit machen, haben sie dafür ihren Service an den Tankstellen nahezu gen Null reduziert. Wer halbwegs genug tanken will, muss jetzt für Abfüll-Automaten die Kreditkarten zücken oder wem das nach den ruchbar gewordenen Datenräubereien zu unsicher ist, muss  -dem verbliebenen Tankinhalt gemäß - passende Scheine in einen Automaten füttern.

Wer dann - wie ich - stets für einen 50er tankt, spürt dem alten Witz gemäß zwar die Preiserhöhungen nicht unmittelbar im Geldbeutel - dafür aber in puncto Reichweite. Wie meine mobileren Nachbarn hier  und die meisten  vom Auto Abhängigen unten im Tal, habe ich festgestellt, dass es sich mittlerweile sogar  lohnt, zum Tanken nicht ganz eigens über die französische Grenze nach Menton zu fahren. Zum Beispiel wenn man Produkte aus Frankreich möchte, die es hier anscheinend aus Chauvinismus nicht zu kaufen gibt. Francois Hollande hat ja den Spritpreis gedeckelt. 

Nicht der einzige kleine Grenzverkehr in der sogenannten EU: Die Leute aus Como fahren zum Beispiel rüber nach Chiasso, wie die grenznahen Deutschen aus diesem oktantriftigen Grund die Österreicher noch mehr in ihre Herzen geschlossen haben...

Moderne Autos haben ja einen Reichweite-Computer. Da kann man die Tankfüllung ziemlich präzise ausreizen - wenn man nicht die Anzeigen verwechselt. Ich habe auch bei der 50Euro-Füllung den Kilometerzähler stets auf Null gestellt und dann die gefahrenen Kilometer mit der an Reichweite noch zur Verfügung stehenden verwechselt. Erst als vor Ventimiglia das rote Licht für den leeren Tank aufleuchtete, wurde mit der Irrtum bewusst. Ein guter Zocker war ich nie, und deshalb suchte ich mit den letzten Tropfen die wohl teuerste Tankstelle der gesamten Autostrada dei Fiori auf.

"Sakrament" und "Kruzifix" habe ich auf gut Altbayrisch geflucht. Aber dann musste ich  bei dem Gedanken, dass ich Armer nur bis Ventimiglia kam, an den viel ärmeren Carlo Levi denken und war demütig, ja dankbar, dass wir in unserer Zeit des geeinten Europas (noch) keine größeren Sorgen haben. 

Christus - wenn er denn will - kommt überall hin. - Und auch Allah. Die, die an ihn glauben und für die Benzinpreise leichtfertig verantwortlich gemacht werden, sollen ja laut Markt-Insidern am wenigsten dafür können. Jetzt erhöht- wie heute morgen zu lesen war - der wieder erstarkte Irak seine Fördermengen. Mal sehen, was uns dann wieder für Lügengeschichten aufgetischt werden.

Samstag, 6. Oktober 2012

Rosario-Fest

Das letzte große Fest der warmen Jahreszeit stimmt mich stets auch ein wenig traurig. Wieder ist ein Sommer vorbei, und ich bin immer noch kein Nonno. Denn die Festa der Madonna von San Rosario am 7. Oktober ist gleichzeitig auch das nationale Fest, an dem alle Großeltern gefeiert werden: Nonna e Nonno.

Unten auf dem Sportplatz werden sie wieder bis in den Morgen hinein Mazurka tanzen, als gäbe es hier keine altersbedingte Hinfälligkeit. Natürlich wird im Borgo auch gestorben, aber abgesehen von der Geisel Krebs, die manche vor der Zeit abruft, leben die Leute hier im Schnitt nicht nur länger, sondern schüchtern einen fast ein mit ihrer resistenten Fitness. Ich denke, das liegt am vielen Treppensteigen und der Ernährung, die sich meist darauf beschränkt, was die Gärten und die Terrassen voller Oliven, Obst und Wein sowie letztlich auch der Wald hergeben.

Die hundertjährigen Geschwister - vier von fünf, die hier oben lebten - sind nur noch zu zweit. 94jährig ist  die eigentlich  fittere und vor allem eloquentere der Zwillinge ihrer ältesten Schwester gefolgt. Jetzt pflegt der Jüngste, der 89jährige, den ich gerne als bösen Burggeist bezeichnet habe, seine verbliebene Schwester hingebungsvoll. 

Er hat sich ein neues Auto zugelegt und kümmert sich zäh wie immer auch noch um die in Reichweite befindlichen  seiner unermesslichen Latifundien. Seit den Sommermonaten hat sich jedoch ein Wesenswandel bei ihm vollzogen. Statt mürrisch mit gesenktem Kopf diagonal über die Piazza zu stiefeln, bleibt er jetzt lächelnd schon mal zu einem längeren Plausch stehen und strahlt auf einmal eine Wärme aus, die ich all die 12 Jahre zuvor gerne bei ihm wahrgenommen hätte. Immer häufiger sehen wir seinen wie "tapezierte Knochen" wirkenden Körper statt in Arbeitskleidung in schicken Klamotten. Die "Zweitbeste", die sich in so etwas besser auskennt, schließt daraus messerscharf: Der hat 'ne Freundin...

Außer der Schwester im Tal waren die vier unverheirateten Bolterini hier oben ähnliche bevölkerungspolitische Blindgänger, wie die Nachkommen in meiner Sippe: Bei sieben - alle bereits über 30 - nicht ein Enkel! Wir Deutschen werden aussterben.

Da werden wir ganz neidisch, wenn wir von der ehemaligen Trägerin buntester Jogging-Anzüge hören, dass sie neben ihrer neu gegründeten Bar bald schon das dritte Enkelkind mit versorgen wird. Dem Gustavo, der weder Katzen noch Kinder mag, hat sie deshalb nach mehreren Anläufen nun endgültig den Laufpass gegeben und ihr mittlerweile fünftes oder sechstes "neues" Single-Leben mit einer tollen Frisur und schickem Outfit gestartet. Der reiferen, männlichen Dorfjugend, die man in Italien i Vitelloni nennt und die jetzt gerne auf eine Grappa oder einen Espresso  in ihrer Bar vorbeischaut wird das gefallen. Mal sehen, ob die Bärin  in ihrer Höhle alleine überwintern muss...

Für uns war in den letzten Jahren Rosario immer das Vorsignal für den baldigen Aufbruch, aber nach dem heißen Sommer in München bleiben wir den Rest des Jahres hier. Gestern hatten wir noch ein kleines Piazza-Fest und spätestens am nächsten Wochenende werden wir wieder bis zur Weihnachtszeit Hüter einer nahezu ausgestorbenen Burg sein. Wir hoffen auf das einzigartige ligurische Herbstlicht und werden Ausflüge machen, an denen uns die Hitze meist hindert. Ein Oma-und-Opa-Leben ohne Enkel eben!

Montag, 1. Oktober 2012

Erkenntnisse

Der philosophische Imperativ "erkenne dich selbst" endet nicht zwangsweise in Selbsterkenntnis. Bei ersterem gerät das Individuum leicht ins Hintertreffen, weil Mitmenschen sich mit dem Blick von außen längst ein ganz eigenes Bild von einem gemacht haben, während Selbsterkenntnis ja ein gerüttelt Maß an Reife und kritischer Distanz zum Ego erfordert.
Seit ich das zudem  noch gekürzte Roman-Fragment Castellinaria in diesen Blog gestellt habe, um das gesundheitlich erzwungene Sommerloch zu überbrücken, erlebe ich fast täglich, wie sich diese eingangs festgestellte Diskrepanz bei Lesern ergibt.

Auf einmal erkennen sich sogar Burggeister in meinen Beschreibungen, die bislang vorgaben, den Blog gar nicht zu lesen. Und das tun sie auch dann, wenn sie für mich als Ideen-Vorgabe  gar nicht im Manuskript vorkamen. Andere wiederum machen mir Komplimente, wie einfühlsam ich den oder jenigen von unseren Mitbewohnern (vor allem die Verstorbenen) hier beschrieben hätte...

Solche Vorkommnisse machen mich nicht nur betroffen, sondern führen auch zu der Selbsterkenntnis, was für ein lausiger Autor ich bin. Das sogenannte "Semi fiktionale" funktioniert ja kaum noch, wenn Menschen sich eben in Gruppen so exemplarisch verhalten, dass sie nur noch schwer von einander zu unterscheiden sind: Fußballfans, Theaterbesucher, Politiker - um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Aber bei Burggeistern doch nicht! Da ändert man Namen, Zusammenhänge und Geschehnisse, würfelt Individuen und ihr Umfeld wild durcheinander, erfindet sie quasi neu. Dann weist da auch noch das Vorwort zur Sicherheit darauf hin, das alles frei erfunden und Ähnlichkeiten rein zufällig sind, doch niemand möchte es einem glauben. 

Gerade in jüngster Zeit ist das in der deutschen Literaturszene einem sattsam bekannten Zeitungsherausgeber und einem Kritiker so ergangen, während die Autoren solches Unterfangen rigoros abstreiten. Nun sind Intellektuelle natürlich über derlei  selbst erkenntliche Signalements erhaben und würden sich nie betroffen zeigen.. Die Leser-Gemeinde aber nicht: "Hast du schon gelesen, was der über den geschrieben hat? Er nennt zwar keine Namen, aber das ist doch eindeutig der X!" 
So etwas hat da zumindest den Effekt, dass die Auflage steigt. In so einem geschlossenen Nutzer-Kreis wie dem der Burg-Briefe aber sind das allenfalls ein paar Zugriffe mehr.

Also liebe Leser nehmt mein Geschreibsel einfach als das hin, was es ist: eine Beschreibung von Alltäglichkeiten, die mir hier unterkommen oder Menscheleien, die erheitern aber nicht der Belustigung dienen sollen.

Wahrscheinlich ist das, was mir zum Literaten fehlt, einfach nur die Phantasie Stories zu erfinden. Mein journalistischer Übervater hat mir einst als jungem Reporter mit auf den Weg gegeben, dass ich beschreiben soll, was ich sehe. Und deshalb erlaubte er mir, das - damals noch verpönt - in der ersten Person Singular zu tun. Das habe ich in meinen stets semi fiktionalen Erzählungen auch so gehalten: Nämlich tatsächliche Erlebnisse zusätzlich mit erfundenen Personen und Handlungen auszustatten...