Dienstag, 23. Oktober 2012

Speicher-Kapazitäten

Wenn meinem lokalen Datenspeicher "C:" die Überfüllung durch beim Surfen angesammelten Datenschrott droht, dann meldet er sich und verlangt Zuwendung; entweder in Form von Säuberung oder Aktivierung eines Komprimierungsprogrammes.

Für alternde Hirne gibt es weder Warnvorrichtungen aufgrund von Überfüllung, noch eine Möglichkeit, überflüssiges Wissen einzudampfen. Hier auf der Burg wird das Lebenstempo derart abgebremst, dass es immer wieder zu trotteligen Auffahrunfällen der kleinen grauen Zellen kommt. Während die Zweitbeste stundenlang auf dem Küchenstuhl hockt und Sudokus löst (jetzt hat ihr die allerbeste Tochter auch noch ein Jahresabo geschenkt), kämpfe ich noch um die Reste geistiger Dynamik.

Allerdings mit wenig Erfolg: Seit über einem Jahr habe ich kein Bild mehr gemalt, und die Elektronik meiner diversen Kamera-Ausrüstungen müsste komplett neu initialisiert werden. Das ehrgeizige Videoprojekt über den Borgo ist mit allen Schikanen geschnitten und mit ligurischer Volksmusik unterlegt, aber ich kann mich nicht aufraffen, das ganze aus dem Off zu kommentieren. Das letzte Foto habe ich im Sommer 2011 geschossen, bei einer Party - was ich mein Leben lang eigentlich abgelehnt habe.

Manchmal denke ich, dass es das Zuviel an Elektronik und digitalem Schnickschnack ist, das mich ermüdet. Aber bei näherer Betrachtung ist es eher die Übersättigung mit unauslöschlichen Eindrücken. Da ich das meiner Umwelt nicht so einfach vermitteln kann, versuche ich es heute mal mit diesem Post, denn ich bin nicht der Menschenfeind, als der ich manchmal rüberkomme. 

Die Zahl meiner Déjà-Vu-Erlebnisse nimmt beängstigende Züge an.

Als wir noch jung und knackig waren, und es hieß, es kämen keine Kinder, lebten wir in einem Altbau des Glockenbach-Viertels in München als Teil einer fabelhaften Eigentümer-Gemeinschaft. Bei den großen Nachbarschaftsessen fanden sich Psychologen, Architekten, Komponisten und weitgereiste Angestellte des Goethe-Institutes um die Tische zu aktuellen Diskussionen ein. Ganz besonders gerne stritt ich mich mit einem Pathologie-Professor, der sich ausschließlich  mit dem menschlichen Gehirn beschäftigte und mich damit provozierte, dass er die Absicht hegte, mit dem Großteil seines Wissens ins Grab zu gehen. Ich, als ihn vermeintlich bezahlender Steuerzahler, appellierte hingegen an seine Pflicht Forschungsergebnisse zu publizieren.

Er konterte sehr geschickt mit dem Hinweis, dass schon ein Bruchteil seiner Erkenntnisse ein allgemeines Grauen über die Manipulierbarkeit des Individuums auslösen würde. Immerhin verdanke ich ihm eine vereinfachte Erklärung über das Entstehen von Déjà-Vus, die mich bis heute beruhigt. Er beschrieb die charakteristischen Wahrnehmungsfelder des Menschen als verkleinertes Schachfeld mit sechs mal sechs Feldern, Schon eine wahllose Belegung der Hälfte mit aktuellen aber bekannten Reizen könne dafür sorgen, dass sich das Hirn den Rest als bekannt und erlebt automatisch fertig denkt. Nichts anderes sei ein Déjà-Vu.

Einen wichtigen Teil meines Lebens habe ich die Welt nach vermittelbaren Motiven durchforstet. Der Blick durch den Sucher sich ständig technisch verändernder Kameras und das fragmentarisch und abstrakte Festhalten der übrigen Sinnesreize engte nicht nur ein, sondern sorgte auch für deren Unauslöschlichkeit in meiner Erinnerung. Während sich die Welt erschreckend schnell weiterentwickelt und auch (nicht nur zu ihrem Nachteil) verändert hat, bleiben meine Erinnerungen jedoch so, wie sie im Gedächtnis abgespeichert wurden.

Ich erinnere mich noch gut, wie Imperia vor zwölf Jahren aussah, als wir uns hier auf der Burg ansiedelten. Ich bin damals Tag und Nacht durch die Gassen gezogen, um besondere Stimmungen herauszuarbeiten. Beim weihnachtlichen Pieve di Teco bin ich schier ausgeflippt. Heute ist die Veränderung vom Handels- zum Yachthafen, vom Industrie-Städtchen zum touristischen Ziel angenehme Routine.

Bei der Burgbriefe-Leserin Folletto Buono erkenne ich diese Leidenschaft des Festhaltens wieder: Sie fotografiert hier alles, was ihr vor die Linse der nun grenzenlos speichernden Digitalkameras kommt. Dabei gelingen mühelos in Vorbeigehen zum Teil beeindruckende Dokumente. Auch meine Tochter, die Grafikerin und Künstlerin, macht mit ihrem i-Pad im Handumdrehen zusätzlich per Gestaltungsprogramm aufgepeppte Foto-Sequenzen, für die es früher Tage und mehrere Individual-Könner gebraucht hätte.

Währenddessen habe ich immer noch das trügerische Gefühl, alles schon einmal fotografiert oder beschrieben zu haben. Aber gleichzeitig weiß ich, dass der Individual-Könner in einer Zeit, in der jedes Smart-Phone super Fotos macht und jeder im Web sein eigener Publizist sein kann, eben nicht mehr gebraucht wird.

Das ist vermutlich auch im Digitalen jetzt der "natürliche" Lauf der Dinge. Wenn mir beim überlagerten Wissen etwas nicht einfällt, das Gedächtnis zunehmend Aussetzer hat, gehe ich eben auch an den Computer: Google Earth vermittelt mir die Städtenamen, die mir auf den einst bereisten Routen nicht mehr einfallen. Per Streetview kann ich sogar sehen, wie ein ehemaliger Fotograf von mir heute in Utah haust, und um Details kümmert sich die Suchmaschine, in der mittlerweile auch dieser Blog regelmäßig unter seinen Schlagworten registriert wird.

Die Kapriolen der Synapsen erspart einem das allerdings nicht. Vor kurzem diskutierte ich mit einem Freund über die vermeintlich besten Literatur-Verfilmungen. Nach kurzem Überlegen entschied ich mich für "Unter dem Vulkan" mit dem fabelhaften Sir Albert Finney. Das ist doch ganz fabelhaft, wie er diese bedrohliche Atmosphäre von dem Dings, äh, na du weißt schon, der... Ja meinst du, der fällt mir jetzt ein - der Autor?

Ins Google-Fenster, in das ich zwecks Autoren-Suche den Titel des Buches eintippen wollte, schrieb ich stattdessen: Malcolm Lowry - den Namen des Autors, der mir partout nicht einfallen wollte.

Ich gehe jetzt aber doch besser auf die Terrasse und schaue mir gedankenlos die sich immer noch nur langsam verändernden Oliven-Täler an.

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