Samstag, 27. Oktober 2012

Die Geschichte argumentiert für Europa

Wenn der Blick in die Historie eines verdeutlicht, dann ist es die Tatsache, dass der Mensch sie zwar studiert, aber bislang nicht in der Lage war, aus ihr zu lernen. Deshalb sollten wir alle genauer auf die hören, die das derzeitige Europa um jeden Preis erhalten wollen. Und zwar vor allem auf jene, die dafür weniger die wirtschaftlichen Argumente anführen, sondern vorrangig geschichtliche.

Keine Bange: Ich zähle jetzt nicht all die demokratischen Errungenschaften auf, die immer wieder durch ihre gewaltsame Bekämpfung konterkariert wurden. Ich verweise da lieber auf die aktuellen Bedrohungen durch rückläufige Tendenzen in der russischen Oligarchie, im weißrussischen Despotismus, in der ungarischen Entdemokratisierung und nicht zuletzt auch auf den möglichen Rücksturz der Griechen, Spanier und Portugiesen in gehabte Junta-Zustände, wenn wir ihnen nicht als europäische Gemeinschaft helfen...

Mir ist das durch den Kopf geschossen, als ich dieser Tage in Menton an der Place du Cap Menschen-Zoo gucken war. Dieser Platz ist quasi das alte Ende des Quai, der nach einem der größten europäischen Kriegsverbrecher der Neuzeit benannt ist: Napoleon Bonaparte: Ein weiterer Beleg dafür, wie schlimme Zeiten historische Blickwinkel verändern können, sonst würde die Grande Nation ihre diesbezügliche Heldenverehrung des im Dôme des Invalides zu Paris sarkophagierten kleinen Kaisers vielleicht unter dem europäischen Aspekt überdenken.Es gibt keinerlei humanistische oder politische Rechtfertigung für das, was er Europa angetan hat. Der Himmel bewahre auch uns Deutsche davor, dass Menschen bei uns an die Macht kommen, die dereinst mit dem Schicklgruber dergleichen vorhaben. Aber ich verirre mich wiedermal im Wirrwarr meiner Gedanken. Wer ohne Beckmesserei zusammengetragene, historische Fakten zum generellen Verständnis Europas einsehen möchte, dem empfehle ich Heinrich-August Winklers zweibändige "Geschichte des Westens".

Ich selbst bin eher jemand, der selbst  Erlebtes verwebt. Und unter diesem Aspekt komme ich langsam zur Erkenntnis welches Privileg ich allein durch die Tatsache genieße, dass ich bald 64 Jahre auf der Welt bin, ohne im unmittelbaren europäischen Umfeld einen Krieg erleben zu müssen. Mein Vater hatte in diesem Alter schon zwei Weltkriege hinter sich. Beide Großväter, die sie auch überlebten,  glaubten gar - trotz traumatischer  Erlebnisse in den Schützengräben - noch an das Ehrenhafte des Heldentodes und hielten die Erbfeindschaft gegenüber den Franzosen als gottgegeben.

Vielleicht hat unser stets frankophiler Vater deshalb unsere Kindheit so pan-europäisch und mit anderen Wertbegriffen gestaltet. Er ist mit uns auch  in Länder mit schwierigen politischen Verhältnissen gereist: Spanien unter Franco, die Tschechoslowakei vor dem Prager Frühling und die abgeschotteten Balkanstaaten bevor sie den Tourismus als Einnahme-Quelle entdeckten. Durch Bulgarien mussten wir sogar einmal im Konvoi mit schwer bewaffneter Begleitung... Irgendwie hatte er es aber bei der Routenplanung immer wieder mal hinbekommen, dass wir noch eine Woche mindestens avec les tantes entweder in Paris oder an der Côte d'Azur als Kontrastprogramm geboten bekamen. Die Tanten waren Nenn-Tanten. Es handelte sich dabei um seinen Studenten-Harem aus alten Sorbonne-Tagen. Sie verstanden sich übrigens auch mit unserer Mutter bestens . Aber davon vielleicht später einmal.

Heute geht es also um den Umstand, dass ich diesen Küstenstrich zwischen Nizza und Imperia, in dem ich heute wohne, seit Kindertagen meist einmal im Jahr bereist habe, und das bis in die Tage beibehalten habe, da ich schon eigene Kinder hatte oder beruflich in der Nähe zu tun hatte. Teile der Tantchen hatten nämlich Menton als ihren Alterssitz auserkoren  Aber da sah Menton noch nicht so aus dem Ei gepellt aus und die Altstadt war nicht dieses touristische Schmuckstück wie heute. An der italienischen Grenze unten kam es immer zu nervenden Warteschlangen, die auch nicht kürzer wurden, als man oben auf der Autobahn bleiben konnte. Da kamen nämlich noch die Maut-Stationen hinzu...

Wenn also ein ganz billiges, kleinbürgerliches Argument für Schengen zählt, dann ist es die Tatsache, dass wir heute über die Grenze zum Einkaufen fahren, als hätte es nie ein anderes Europa gegeben. Aber wir übersehen dennoch nicht die Veränderungen: 

Trotz Herbst-Ferienzeit war Menton noch nie so ruhig, und noch nie wurde soviel italienisch gesprochen wie seit der Zeit als dieser Küstenstrich von den Machthabern des 18. und 19. Jahrhunderts quasi im Dekaden-Rhythmus als Beute oder Pfand hin und her geschachert wurde. Nicht, dass Frankreich nun viel billiger wäre als Italien, aber das Angebot ist vielleicht breiter und die Restaurants bieten pauschale Menüs für unter 20 Euro an.

Der Ober im Le Balico an der Place Herbes, das vor drei Jahren den Besitzer gewechselt hat, kennt mich.
Nicht etwa weil wir so häufig dort waren, sondern weil er früher im Da Beppa am Hafen von Oneglia serviert hat, als wir uns jenes noch häufiger leisten konnten. Davor war er jahrelang in München tätig. Er schwadroniert dreisprachig - wie viele seiner Kollegen hier und fährt an freien Tagen zu seiner Familie nach Imperia.

Früher hatte Menton in etwa den Ruf, das "Freiburg Frankreichs" zu sein. Das milde Klima lockt aber mittlerweile Alte und Junge gleichermaßen an: Wenn mich mein Gefühl nicht trügt, verschmilzt hier Europa so harmonisch und unprätentiös wie es dem gesamten EU-Raum zu wünschen wäre. - Ein besserer Geschichtsunterricht vorausgesetzt.


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