Mittwoch, 9. September 2020

Wie und wie viel kann ein Auge trinken...

CD-paint-collage

... , und was haben die Wimpern mit dessen Fassungsvermögen zu tun?

Mein Vater war ein absolut universal gebildeter Mensch, und für einen Volljuristen schrieb er auch ganz passable Texte, die nicht gleich an Schriftsätze erinnerten. Leider hatte er sein Abi im zweiten Anlauf in einer Zeit gemacht, in der man Zitate noch frei aus dem humanistisch eingepaukten Kopf hervor holen konnte. - Nicht so wie ich, der für die meisten heeren Floskeln Wikipedia bemühen muss.

Auf unseren Reisen durch Gegenden, durch die in unserer Kindheit  - vor allem im Osten - sonst noch niemand kam oder in historischen Landschaften ging einem das ziemlich auf die Nerven. Es gab zudem immer Streit, wie viel von den Ferien am Meer oder im Hochgebirge verbracht werden sollten. Als militanter Nichtschwimmer waren ihm die Berge natürlich immer lieber. Vielleicht hat er deshalb - wann immer ein Blick auf ein Meer zu erhaschen war, um uns Kinder zu ärgern, laut "Thalatta, Thalatta" gerufen. Erstmals tatsächlich als wir bei einer Türkei-Reise aus Zentral-Anatolien kommend oberhalb von Trapezunt - wie in Anabasis beschrieben - endlich aufs Schwarze Meer blickten...

Dem ganzen folgte aufgrund seiner altgriechischen Bildung sogleich ein ellenlanger Exkurs über Xenophons "Reisebericht" vom "Heer der 10 000" im Jahre 401 v. Chr. Nach dem Sermon hätten wir Geschwister uns am liebsten in den damals vom Tourismus  noch völlig verschonten Fluten ersäuft. Anabasis wurde - wieder daheim - als Taschenbuch angeschafft - und wurde Pflicht-Lektüre. Da ich mit Abstand jünger war als meine beiden Schwestern traf es mich erst auf dem Gymnasium - und brachte mir gleich eine mündliche Eins in Griechischer Geschichte ein. Ich hatte Anabasis da noch gar nicht gelesen, mir aber die Schilderungen meines Vaters gut gemerkt, weil er ja gerne mal alles abfragte.

Thalatta, thalatta!
Das Meer, das Meer!

Den wahren Gehirn-Klops in meinen Synapsen verursachte er aber durch seine immer wieder laut ausbrechende Begeisterung im Anblick spektakulärer Hochgebirgs-Panoramen. Als Fünfjähriger musste ich schon auf den Piz Cerva und über Morteratsch- und Diavolezza-Gletscher Stiefeln. Da war er gnadenlos. Ein Wunder, dass ich da für meinen späteren Werdegang nicht traumatisiert war, als ich die dann auf Ski befuhr.

Aber sein Zitat hallt auch heute noch angesichts unseres hiesigen Rundum-Blicks von der Terrasse vor allem im Herbstlicht innerlich nach:

Trink o Auge, was die Wimper hält...

Wer hat's erfunden, beziehungsweise gedichtet? Natürlich ein Schweizer! Nämlich Gottfried Keller. Lange Jahre bis zu meiner Ausbildung als Buchhändler dachte ich, mein Vater hätte aus Gregor von Rezzoris einzigartigem Persiflagen-Band "Mit fremden Federn" zitiert. Aber dann stieß ich neugierig geworden doch noch auf die Fortsetzung diese Spruches am Ende von Kellers "Abendlied":

... von dem goldnen Überfluss der Welt! 

Gottfried Keller
1819 - 1890
Bilder: Wikipedia
War das wirklich denkbar, dass der von mir so geschätzte, Freiheits-Schriftsteller. Politker und Maler, der die Schule genauso verkackt hatte wie ich, einen derartigen Schwulst gedichtet hat?

Immerhin Theodor Storm, der auch nicht ganz gefeit davor war, seine Dichtung über die Deiche treten zu lassen, schrieb 1879 einen begeisterten Kommentar an seinen Schweizer Kollegen. Vielleicht entsprang zuviel dramatisches Gefühl ja damals dem Zeitgeist? Aber war es nicht auch damals in natura schon so, dass das Auge eher vor Ergriffenheit weinte, und die Wimpern die Tränen nicht aufhalten konnten?

Da gäbe ich doch letztlich lieber den präzisen, heute noch erstaunlich gültigen Landschaftsbeschreibungen des Xenophon den Vorzug. Natürlich in Übersetzung.

Der Autor vor 67 Jahren
beim Abstieg von der Diavolezza
im Oberengadin


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen