Montag, 16. Juli 2018

Klein Adlerauge

Die "Fürsorglichste von allen" ist ein paar Monate älter als ich. Das bedeutet, dass ihr bereits Dinge widerfahren, die bei mir noch nicht auf der Schadensliste stehen. So hat sie sich auch längst neue Linsen in ihre immer noch himmelblauen Augen operieren lassen, was ich Jahr für Jahr auf die lange Bank schiebe.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten hat sie im Nahbereich ein Sehvermögen, dass mir zeimlich auf die Nerven geht. Vor allem beim Essen. Da sitzt sie mir gegenüber und lässt urplötzlich den Faden der Unterhaltung schießen, um mit starrem Blick auf den Punkt zu sagen:
"Du hast das was!"

Manchmal handelt es sich um ein winziges Krümelchen, aber leider sehr oft auch um einen akuten Fall meiner wachsenden Kleckeritis, die mir meine Mutter vererbt hat. Meine Mutter schneiderte sich viel selbst. Dazu gehörten viele Blusen mit Schal-Kragen quasi in Lätzchen-Form. Wenn sie mal kleckerte, dann band sie einfach den Kragen andersherum.

So etwas Schickes habe ich leider nicht. Ich mag aber auch nicht wie ein Pate mit in den Kragen gesteckter Ganzkörper-Serviette in den hiesigen Restaurants herum sitzen. Die Leute könnten ja auf gänzlich falsche Gedanken kommen...

So ertrage ich "Klein Adlerauge" grimmig, auch wenn sie Korrekturen an meinem bekleckerten Erscheinungsbild auch vor Gästen und Freunden verlangt.

Gelegentlich wünsche ich mir egoistisch, sie hätte auf die Linsen verzichtet. Denn ich sehe sie immer noch faltenlos und rosig in ewiger Jugend.

Schlecht Sehen ist manchmal eventuell besser als schlecht Hören. Unser Freund von gegenüber hatte  wohl gestern dem Gespräch beim alljährlichen Essen in Cosio di Arroscia nicht konzentriert gefolgt.
Die Festa delle Erbe ist ja berühmt dafür, das man allerlei botanische Raritäten kaufen kann.

"Linsen? Wo habt ihr die gesehen? Linsen sind ja mein Leibgericht!"

Schon war mein verkleckertes Hemd aus dem Fokus.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen