Montag, 15. August 2022

Mythos Ferragosto

Quelle: de.dreamstime.com


Weil so gut wie alle Läden am 15. August das Schild "chiuso per ferie" hinter ihre Schutzgitter geklebt hatten, dachte ich als kleiner Junge immer, dass von da an alle Italiener in General-Ferien waren. Die getüftelt ausgearbeiteten Reisepläne meines Vaters, die in den Ferien ja meist irgendwie nach Frankreich führten, mussten da noch keinen Bogen machen, weil die Ferienordnung allein schon dafür sorgte, dass wir nicht in diesen italienischen Ausnahmezustand gerieten.
Dann aber nach Bayern versetzt, fand mein Vater auf seiner mit blauen Strichen, die rote Ziel-Punkte der Route entsprechend verband, für den 15. August einmal einen besonderen, der bis heute alle meine Erinnerungen überlagert:

Das kleine Örtchen hieß Domaso und lag am Westufer des Comer Sees. Gleich gegenüber machte einst Konrad Adenauer immer in Cadenabbia beim Boccia-Spielen Urlaub von der Weltpolitik. Mein Vater, der Liebhaber der Berge, hielt das für einen guten Kompromiss mit seiner badeverrückten Familie. Ferragosto am Meer hielt er für unzumutbar. Was für ein Glück! Meine beiden älteren Schwestern verschwanden Tage- und Nächte weise mit zwei bildhübschen holländischen Studenten, die eher wie Italiener aussahen, aber eben gut Deutsch sprachen. Die Gardinen-Predigt meines Vaters für die Galane, die die Mädels einmal erst weit nach Mitternacht von einer Party heimbrachten, fiel entsprechend harsch aus, verfehlte aber ihre Wirkung, weil er sie ihnen im Schlafanzug hielt. Im Windschatten ihrer "Verfehlungen" hatte ich freie Bahn. Der See war zwar kalt und hatte in Ufernähe durch den Kies gerne etwas Milchiges, aber meine italienischen  Spielkameraden liebten es, von einem grob gezimmerten. schrägen Steg in immer wieder neuen Figuren ins Wasser zu springen. Abends tobten wir durch das Dorf und guckten seitenverkehrt die italienische Schwarzweiß-Schnulzen des Open-air-Kinos von einem Balkon hinter der Anlage. Einmalig, wenn dann rund um den See die Feuerwerke gezündet wurden.

Bruder und Schwester auf Ischia- selten
Hand in Handaber damals gemeinsam
auf Freiers Füßen.
 Später allerdings  mit
unterschiedlicher Bestimmung
Quelle: Archiv Deutelmoser
Übertroffen wurde jener 15. August nur von einem, den ich mit flammendem Herzen in Sant'Angelo auf Ischia erleben durfte. Da hatte Amor gleich mit zwei Pfeilen getroffen: Meine Schwester lernte da ihren späteren Ehemann kennen, und ich verliebte mich in ein gleichaltriges Klavier-Wunderkind aus Paris, das heute ein Weltstar ist. Das Teenager-Alter ist für große Lieben in Fernbeziehungen leider gnadenlos. Eine Erkenntnis, vor der ich auch meinen Sohn nicht bewahren konnte. Meine Schwester hatte es da besser. Ihr Mann fürs Leben studierte in Verona und stammte aus einer Dynastie von Konstrukteuren schneller Autos. Da war die Entfernung nach München eben nicht so groß und kompliziert wie die Reise nach Paris, die mir zeitnah nur einmal gelang...
Quelle:ischiatipps.com

Heute, hier in Ligurien, hat der "Festtag des Augustus", der länger gefeiert wird als die am selben Tag begangene "Mariä Himmelfahrt", für mich an Mythos verloren. Ich gehe ihm lieber aus dem Weg, wenn ich an die Menschenketten unten im Wasser denke. Die großen Supermärkte haben ja immer offen, und an diesem Festtage zum Essen ins Restaurant zu gehen, ist meist eine Tortur. Dennoch folgen die Italiener*innen - so sie können - unbeirrt diesem Kulminationspunkt des Familien-Sommers bewusst. Wer es sich einrichten kann, nimmt schon aus Tradition ein paar Tage frei. Das Dorf ist deshalb voll, und die Piazza bleibt die schattige Spielhölle, auf der jetzt auch manche Kinder und Enkel herumtollen. Das ist italienisches Ferragosto-Leben im Kleinen, und es reicht durchaus zur Wiederbelebung alter Träume.

Wo geht's denn da zum Wasser?
Quelle: taz,de



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