Mittwoch, 21. August 2019

Zeit-Geist

Der Zeit-Geist ist ein Geist im permanenten Wandel, ohne dabei immer geistvoll zu bleiben. Zudem reicht er nicht für lange Strecken, weil er auf denen gern seinen Geist aufgibt - und schal verpufft.

Niemand dürfte im Moment mehr vor seinem Wandel angst haben als Donald Trump. Die Angst vor der Übermacht der Suchmaschine Google und deren zusätzlicher Produktpalette lässt ihn gerade die US-Kartell-Wächter aktivieren. Und nachdem der Apple-Chef Tim Cook auf einem Podium mit dem POTUS ihm gerade vor der Weltöffentlichkeit eine schallende Ohrfeige für seine Strafzölle verpasst hat, erbat er sich via Twitter Bedenkzeit. Vielleicht merkt er bald, dass er die sozialen Medien aktuell zwar noch irrsinnig fleißig nutzen kann, aber auf längere Sicht wohl eher von ihnen beherrscht wird.

Aber das ist ja das Dilemma von uns allen, die guten Willens sind. Das Netz ist eine alles verschlingende Hydra. Wer dort einen Kopf abschlägt, sieht an anderer Stelle gleich Dutzende nachwachsen, die im Umgehen von Auflagen noch gewiefter sind.

Noch sind es die Mainstream-Medien, die am härtesten von dem schnelleren, unabhängig von der jeweiligen Zeit und kürzer erfassbar Geposteten betroffen sind. Der populistischen Hauruck-Politik oder gar dem schleichenden Gift des Rechtsextremismus kommt das im Moment am ehesten zugute, weil deren User-Potenzial weder viel lesen, noch lange denken will.

Die Flaggschiffe des seriösen Journalismus - ob nun gedruckt oder gesendet - haben deshalb noch nicht einmal mittelfristig eine Chance dagegen zu halten. Da helfen auch die hochklassig zusammen gestellten "Recherche-Verbunde" nicht. So lange  Influencer innerhalb weniger Minuten mit ihren Zugriffszahlen das Vielfache selbst einer Zeitung mit noch hoher verkaufter Auflage erreichen, treibt uns der von Daten beflügelte Zeit-Geist immer weiter in den Abgrund.

Ich wage mal einen kurzen Rückblick in meine Vergangenheit als Zeitungsleser beziehungsweise Print-Nutzer bis hin zum Blattmacher. Schließlich gehörte dieser spezifische Konsum ja nicht nur zum gelernten Verlagsbuchhändler, sondern besonders auch zum Journalisten und späteren Berater für öffentliche Auftritte.

In meiner Familie wurde Süddeutsche und DER SPIEGEL gelesen, von dem meine Mutter bis zu ihrem Tod ab der Nummer 1 jedes Exemplar im Keller archivierte. Als ich ganz am Anfang für viele verschiedene Titel und auch den Rundfunk schrieb, stapelte sich bereits der Lesestoff auf meinem kleinen Schreibtisch. Wenn ich als Reporter unterwegs war, versuchte ich auch im fernsten Ausland stets halbwegs aktuelle Ausgaben zu ergattern. Ich fühlte mich sofort unwohl, wenn ich mal mehrere Tage absolut von gedruckten heimischen Nachrichten abgeschnitten war. Eine Bekannte von mir fuhr im Urlaub täglich lange Strecken, um sogar lediglich ein Exemplar ihres heiß geliebten Boulevardblattes zu ergattern.

Hier auf der Burg, die uns den ersten schnellen Internet-Anschluss verdankt, fingen wir noch mit einem Abo der SZ an. Aber das war so lange unterwegs, dass die Versorgung mit "aktuellen Münchner Nachrichten" unverhältnismäßig teuer wurde. So einigten wird uns mit unserem Kiosk an der Piazza Dante, die Fernausgaben jeweils vom Freitag und Samstag zu reservieren. Dann fuhren wir bald nur noch am Samstag runter. Denn aktuell stand da nichts mehr drin, was ich nicht schon zuvor auf den gespeicherten Homepages gelesen hätte.

Der inhaltliche Rest der von der Papier-Qualität immer "flatterhafter" werdenden Print-Ikone hat sich im Laufe der Jahre dermaßen intellektuell und feuilletonistisch dem Zeit-Geist angepasst, dass ich mittlerweile nur noch diagonal lesend drüber fliege, während meine Frau allerdings den kompletten Inhalt noch bis zur nächsten Ausgabe portionsweise konsumiert.

Das inhaltliche und konzeptionelle Herumgeeiere, das ich auch bei den einst anspruchsvolleren Illustrierten beobachte, scheint demnach nicht nur der verkauften Auflage, sondern mehr noch dem fürs Überleben wichtigen Anzeigengeschäft  immer mehr zu schaden. Aber was tun?

Wir bräuchten im Netz einfach mehr Influencer gegen den Zeit-Geist, aber das - siehe oben - zahlt sich nur auf längeren Strecken aus

In der letzten Wochenend-Ausgabe der SZ wurde eine ganze Seite einem Interview mit einem Narzissmus-Experten geopfert. Die Lektüre hätte ich mir  sparen können, weil der Mann übervorsichtig um des Pudels Kern kreiste und vermied bei all den aktuell die Welt regierenden Narzissten Ross und Reiter zu definieren.
Schneller, böser, besser: süddeutsche.de, die diese
Darstellung gepostet hat, macht
der gedruckten Ausgabe zunehmend und zusätzlich Konkurrenz

Beim Eingeben des Suchbegriffs "Narzissmus" hatte ich bei Google auf den ersten zehn Seiten eben eine Fülle unterschiedlichster Beiträge mit absolut treffenden "Kern"-Aussagen. Anschließend fühlte ich mich rundum "bedient".

Aber immerhin: Unter anderem scheint Narzissmus therapier- und heilbar zu sein - auch bei Präsidenten? Oder muss ein "Führer" tatsächlich zwangsweise ein Narzisst sein?

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