Donnerstag, 11. Juli 2019

Im Geviert

Zur Zeit bin ich nicht gut zu Fuß. Kein Wort über die Ursachen der Schmerzen, wenn andere viel mehr leiden müssen. Wenn die Pein nachlässt, werden auch hoffentlich meine Radien wieder weiter. Meine Schweizer Freundin hat mir einen alten Deck-Chair samt Auflage geschenkt. Den rücke ich mir im tiefen Schatten der nachmittäglichen Piazza zurecht. Das wäre eine ideale Gelegenheit zu lesen. Aber ich lese nicht mehr.
Denke im Geviert: nach oben offen und noch nicht eingeengt
Was ist aus dem Kerl geworden, der trotz erheblicher beruflicher Belastung ein bis zwei Bücher pro Woche gelesen hat, und mehr als tausend verschenken oder entsorgen musste, als er hierher zog?

 Noch bevor er sein vielversprechendes Linguistik-Studium im Examens-Semester abgebrochen hatte, lud mir mein Sohn über das "Gutenberg Projekt" die Säulen der Amerikanischen und Englischen Literatur im Original auf meinen Reader. Ich habe auf ihm dann vieles noch einmal, manches erstmals gelesen. Am Ende war ich entsetzt, wie manipulativ das "Creative Writing" im Vergleich zur Classic doch ist, und was dann noch obendrein ehrgeizige Übersetzer daraus gemacht haben... Der Reader ist längst aus der Mode und verstaubt irgendwo. Elektronischer Schrott mit Weltliteratur-Daten!

Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich keine Neuerscheinungen mehr lese, und sich mittlerweile hier auf der Burg und in München über 30 geschenkt bekommen habende und von mir nicht gelesene Bücher stapeln. Klar, das "Binge Watching" in den Streaming-Diensten trägt schon auch zur Lese-Unlust bei. Aber in erster Linie ist es mein Analysieren, das mich von den ersten Zeilen an nervt. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren und mich auch nicht allein auf die Schönheit der Sprache einlassen, wie noch vor ein paar Jahren.
Bin ich engstirnig geworden? Ich glaube nicht.

Wie ein Berserker habe ich "Die Geschichte des Westens" von Heinrich August Winkler - meinen letzten Groß-Lesesturm  - durchgeackert. Bis zum letzten Drittel von  Band 3 im vergangenen Jahr. In dessen Sequenz finde ich ja auch mich "augenblicklich" in eigener, sich im Heranwachsenden veränderter Perspektive auf die zeitgenössische Geschichte wieder...
Plötzlich tauchten wie Wochenschau-Filme die Vorkommnisse wieder vor meinen inneren Augen auf. Ich war wohl sehr früh an der immer bedrohlicher werdenden Weltlage interessiert: Suez-Krise, Ungarn-Aufstand, die Kuba-Krise, die Ermordung Kennedys. -  In der Nacht vom Einmarsch der Russen in Prag hatte ich zum ersten Mal Sex. Nun liegt der vierte und letzte Band von HAWs einzigartiger Fakten-Sammlung immer noch verschweißt hier auf meinem Schreibtisch. Soll ich mir das tatsächlich noch antun? Die Gegenwart aus der Sicht des Forschers? Was wenn der Frieden vor unserer Haustür im Sinne Homers eine Chimäre ist, die darauf wartet, uns zu verzehren...

Die schiere Erkenntnis, dass nichts Geschriebenes, Erforschtes und auch nichts Faktisches den Lauf der Geschichte jemals dauerhaft zum Besseren gelenkt hätte, lähmt mich. Vor allem wenn sie sich dann auch noch ohne Zwang im Bösen wiederholt

Da liege Ich nun im Geviert unserer Piazza und starre in das unendliche Blau. Ich erfreue mich an den letzten wirbelnden Mauerseglern (die Weibchen brechen immer erst so zehn Tage später als die Männchen nach Südafrika auf), an dem  Raufuß-Bussard mit seinen mächtigen Schwingen, der hoch oben fliegend, gleitend erst zum Stillstand kommt, dann rüttelt und beim Erspähen eines Beutetiers als schmaler, gefiederter Pfeil der Erde entgegen jagt. Ich sehe als silberne  Splitter all die Ferienflieger scheinbar langsam ihre Bahnen ziehen. So überschaubar ist hier  noch immer die Welt über uns.

Und dann schweifen meine Gedanken schon wieder ab in die Zukunft: Wird es in ein- zweihundert Jahren - wenn es die Erde dann noch gibt - einen Geschichtsforscher geben der diesen"Wundersamen 70jährigen Frieden in der westlichen Welt" ähnlich mirakulös analysiert, wie seine Vorgänger einst den 30jährigen Krieg?

Fragen über Fragen, die dann vermutlich durch Science Reality längst gelöst sind, und die Kinder dieser Zeit staunen ungläubig über die Naivität von Jules Vernes "Die Reise zum Mond".
Aus dem ersten persiflierenden Film
"Die Reise zum Mond" von 1902.:
Star Film von  Geo Méliès
Doch Literatur - sie fliegt ja bereits im unendlichen Weltraum in Kapseln herum -
wird es in jedweder Form ewig geben. Selbst wenn ich, sie zur Zeit links liegen lasse...

Da trifft - was ich von mir niemals gedacht hätte - zur Zeit leider der altbayrische Journalisten-Spruch zu:



Dös bisserl was i lies, schreib i ma selm.

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