Donnerstag, 25. Mai 2017

Tückische Nostalgie

Bekannte von mir verbringen die meiste Zeit ihres Urlaubs damit zu irgendwelchen historischen Plätzen zu reisen, um dort organisiert an Rollen-Spielen teilzunehmen. Sie sind nicht mehr ganz jung, aber sehr geschätzt, weil die Initiatoren dieser Art Tourismus meist noch zwischen dreißig und vierzig sind und ja glaubhafte, ältere Darsteller benötigen...

Befeuert wir diese Sehnsucht nach mittelalterlicher Stimmung weltweit auch von zahlreichen Musik-Gruppen, die Altsprachliches mit aufgepoppten Rhythmen und Melodien,  Zimbeln, Schalmeien, Maultrommeln sowie Tamburinen zum besten geben.

Faun
Schandmaul
Ich denke mir oft, dass unser Burgdorf hier ein idealer Platz wäre, um in Rollen zu schlüpfen, mit denen der Realität zu entkommen ist. Dank meines Sohnes habe ich in meiner Music-Cloud Kompositionen von Faun, Schandmaul sowie verschiedenen skandinavischen Gruppen, die sogar eine Art "Wikinger"-Musik erzeugen.


Villon
Wolfram
Wenn ich sie zu lange höre, nervt sie mich wegen ihrer "Gleichtönigkeit". Aber gerade an den stillen Abenden lasse ich beim Gang durch die Gassen hier, die Zeiten von Francois Villon, Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach auferstehen. Doch wer bei den alten Texten genau hinhört, der kann sich der Tatsache nicht verschließen, dass all das Verherrlichen von Minne, Heldenmut und schönen Maiden sowie Schlössern am Meer ja nur einer bestimmte Gruppe von Menschen vorbehalten war. Allenfalls bei Villon ahnt man etwas von dem revolutionären Geist, der drei Jahrhunderte später die Welt verändern würde.
Walther
Ich bin Franzose, was mich bitter kränkt,
geboren in Paris, das bei Pontoise liegt,
an einen klafterlangen Strick gehenkt,
und spür am Hals, wie schwer mein Hintern wiegt.
(verfasst zu seinem Todes-Urteil)

Ich habe leider das Untalent mir schöne Gefühle selbst zu zerstören. Wenn ich gerade mit Gänsehaut in die Zeit verschwinden möchte, in der die Fundamente unseres Hauses gelegt wurden, erinnere ich mich an eine ganz andere Gänsehaut.

Bei Heidelberg-Recherchen geriet ich abends auf der sogenannten Thingstätte in eine improvisierte Feier von Kahlgeschorenen in Bomberjacken mit vorgerecktem Kinn und Fackeln in der Hand. Sie standen nur lautlos da - ohne einen Laut oder gar Parolen von sich zu geben. Das war Mitte der 1980er. Die Jung-Nazis von damals sind heute mit aller Wahrscheinlichkeit Alt-Nazis, die ihre politischen Absurditäten hinter heroischen, volkserhaltenden "Taten" verstecken.

Romantische Darstellungen regen seit jeher unseren genetisch bedingten Hang zur Nostalgie an. Das ist gut so, solange unsere Phantasien nicht manipuliert werden...

Sieht alt und heroisch aus,
wurde aber von den Nazis erbaut:
Die Thingstätte zu Heidelbert

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