Samstag, 4. Juni 2011

Phänomen Piazza


Soll man jetzt traurig sein, dass es in unserem Borgo kein Restaurant mehr gibt? Seit irgendein Reiseschriftsteller offenbar mit seiner Begeisterung nicht an sich halten konnte, mehren sich Tagesbesucher, die enttäuscht an unsere Tür kommen und fragen, wieso es denn hier in diesem zauberhaften Ort nichts zu Essen gäbe. Mitunter kommt in der Frau an meiner Seite, die mit ihrer Herzensgüte ganz sicher in der weltweiten Hitparade der Samariter ganz weit oben plaziert ist, der Wunsch auf, den armen vom Aufstieg und Sightseeing dürstenden und hungrigen Menschen Labsal zu reichen. Noch kann ich sie mit der Perspektive, wo das dann enden könne, noch einigermaßen bremsen. Aber ich fürchte, nicht mehr lang.

Die besorgte Großfamilie meiner besseren Hälfte - ein unerschöpflicher Hort kollektiver Betroffenheit - sorgt sich jedesmal, wenn wir München verlassen, ob der Mangel an sozialen Kontakten ihrer Schwester/Tante/Schwägerin nicht auf Dauer zusetzen würde... Boshaft wie ich bin, vermute ich natürlich, dass die liebe Verwandtschaft damit eher den Mangel an Kontakt zu ihr selbst meint. - Ich kann Euch beruhigen: wir haben hier nicht die geringste Chance, depressiven Anfällen  von Alterseinsamkeit zu erliegen, denn davor bewahrt uns das Phänomen Piazza.

Wir stellen - wenn sich die Sonne senkt, die Schatten in der Burg länger werden  und uns danach ist - unser Tischlein-deck-dich vor unsere Steinbank, machen ein Fläschchen Wein auf und säbeln mit dem Breitschwert Scheiben von Salami, Speck und Fontal-Käse herunter, und schon kommen die sozialen Kontakte von allein. Ist es das Ploppen vom Korken, das durch die stillen Gassen schallt oder der kräftige Duft des Bergkäses, der in die Nasen der anderen wabert?

Zuerst finden sich die adoptiosbereiten Katzen ein und sorgen mit ihren diversen Posituren für die Lebendekoration zwischen all den Blumen. Und dann sind es die Feinhörigen: "Wollte nur mal kurz nachsehen, wie es Euch geht?" Meist wird diese Frage mit einer Flasche in der Hand oder einem Tablett Leckereien gestellt, was den Rückschluss zulässt, dass die Nachbarschaft von Haus aus davon ausgeht, dass es uns natürlich grundsätzlich gut geht. Klar gibt es welche, die auf diese Weise ihre alten Grissini loswerden wollen oder danach trachten, vergessene Flaschen mit längst ölig gewordenen Kreszenzen gegen unseren frischen Frizzantino einzutauschen. Aber wir sind da nicht nachtragend, weil uns ja auch diese Freunde vor der Einsamkeit bewahren. Oft geht es dann in wechselnden Besetzungen bis weit hinein in die Nacht, und die Piazza ist dann malerisch erleuchtet und hallt wider von einem babylonischen Sprachgemisch.

Denn nach anfänglicher Skepsis kommen auch immer mehr Alteingesesse - sogar Signora Electra - mal auf ein Gläschen und bringen je nach Saison frisches Obst (Kirschen, Erdbeeren, Aprikosen, Pfirsiche und Feigen) oder Rohkost (Fave, Selleriestangen etc.) mit. Die soziale Wiederbelebung der Piazza hat sich bis hinunter in den Hauptort herumgesprochen, und so hat die Kulturbeauftragte der Gemeinde die Piazza in den Sommermonaten auch schon nachhaltig zum Ort von Veranstaltungen erkoren. 

Jetzt beginnt sie bald wieder - die Saison, in der die Piazza zum Event-Center wird: dann gibt es Jazz-Abende, openair Cinema in Piazza und köstliches politisches Theater, bei dem die Darsteller die drei Ausgangstore als Bühneneingänge für ihre oft pantomimisch verstärkten und dadurch für alle verständlichen Auftritte mitten unter den Leuten nutzen. Zur serata magica mit italienischen Disco-Schnulzen aus allen Jahrzehnten des Sanremo-Schlagerfestivals kommt sogar unsere pensionierte Gymnasial-Lehrerin in Hotpants aus ihren Ländereien hier hoch geklettert und rockt dann länger ab als die jüngeren Dorfschönheiten. Natürlich tischen bei solchen Anlässen die Nachbarinnen Berge ihrer besten Rezepte auf, und die chronisch finanzklamme Gemeinde spendiert sogar die Getränke...

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