Dienstag, 14. Juni 2011

Plötzlich Leben

Anita, das humorige und trinkfeste Kompakt-Urweib aus der Nachbarschaft, will ihn um halbvier in der Früh gesehen haben, wie er durch die Gasse abwärts in Richtung Campagna abgedachst ist. Und Anita hat ihre Sinne immer beisammen. Ich habe im Morgengrauen die Krallengeräusche auf dem Pflaster unserer anhänglichen Wander-Hündin aus dem Capo Luogo zugeschrieben. Die läuft mit jedem mit und will sich überall einnisten. Deshalb bin ich auch liegen geblieben.
Schade, denn ich hätte zu gerne geschaut, ob unser Dorfdachs mit gepacktem Koffer das Weite gesucht hat. Den einzigen Dachs, den ich live auf Talgang gesehen habe, ist leider der mit X am Ende. Und der schlägt diese Richtung offenbar immer dann ein, wenn ich gerade mal wieder glaube, Geld anlegen zu müssen. Das Raubtier habe ich in natura leider bislang nur totgefahren auf Landstraßen gesehen. Dennoch sind mir die schwarzweiß gestreiften Spitzschnauzer sehr ans Herz gewachsen, seit ich als Kind Hans Falladas "Fridolin, der freche Dachs" gelesen habe...

Noch immer nehmen diese listigen Röhrenwesen in meiner Phantasie die ihnen angedichteten, menschlichen Eigenschaften an. So weiß ich zum Beispiel, dass Dachse trotz ihrer Schläue nicht bis drei zählen können. Nach Fallada zählen sie: eins, zwei, viele. Was den Verdacht nahe legt, dass sie mehr als zwei schon nervig finden.Also stelle ich mir folgendes vor:
Unser Dorfdachs hat in seinem Bau auf den Abreißkalender geschaut, den die Gemeinde jedes Jahr gratis ausgibt, und festgestellt, dass die Pfingstferien in Nordeuropa in diesem Jahr mit dem Beginn der Schulferien in Italien zusammenfallen, und das Weite gesucht, weil er sonst rein zähltechnisch an seine Grenzen stieße.

Mit der Stammbesatzung auf der Burg kommt er klar: Es sind neben den hundertjährigen Geschwistern, die ja einzeln auftreten, acht Paare, acht Single-Frauen und drei Single-Männer. Doch das ändert sich nach Pfingsten immer schlagartig. Nicht nur wegen der vielen Ferienwohnungen, sondern auch wegen der Kinder und Enkel schwillt die Einwohnerzahl hier oben dann auf ein Vielfaches an. Plötzlich herrscht hier ein Leben, das einem einen Eindruck verschafft, wie es vor Jahrhunderten gewesen sein könnte. Kinder toben über die Piazza, die Rollkoffer schebbern anstelle der Ochsenkarren durch die engen Gassen, und Leute, die sich ein halbes Jahr nicht gesehen haben, tauschen über die Dächer zurückliegende Ereignisse und anliegende Vorhaben aus.
Die Stammbesetzung kann bei zwei Metern Abstand zum Gegenüber in der Gasse, nicht mehr einfach durchs Haus brüllen, wenn was ist, und nächtliche Dauerschnarcher schließen die Fenster so lange es die Temperaturen noch zulassen...

Wir finden es klasse nach der mitunter geisterhaften Stille der vergangenen Monate, aber Fridolins italienischem Verwandten wäre das wohl viel zu viel unzählbarer Trubel.

- Sehen wir uns halt im Herbst wieder, du alte Streifennase!

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