Freitag, 21. August 2020

Kontemplation statt Zeitreisen

Was hat sich da H.G. Wells nur ausgedacht, dass seine Idee von einer Mechanik für Zeitreisen 1895 so ein literarischer Erfolg wurde. Ein Bestseller, der sogar die Titel vom Zeitgenossen Jules Verne übertrumpfte. Dass der umgebaute DeLorean DMC-12- Sportwagen in der "Zurück in die Zukunft"-Film-Reihe noch erfolgreicher aus dem Raum-Zeit-Kontinuum düste, ist allerdings auf die geradezu explodierten cinematographischen Möglichkeiten zurück zu führen. Letztlich  löste das "Warpen" der StarTreker beim Jonglieren mit der unmöglich zu überbietenden Lichtgeschwindigkeit die Tickets für grenzenlose Science-Fiction-Zeitreisen. Mein Stream-Anbieter Netflix liegt da in der Produktion von Scifi-Serien bei bald 50 Prozent. Was mich irgendwie kalt lässt, weil ich schon bei normalen Spielfilmen um die Jahrtausendwende schallend lachen muss, weil sich technologisch in der Realität seither so viel verändert hat. Die Zukunft ist einfach nicht zu berechnen. Erst  recht nicht in diesen Corona-Tagen!

Ich sehe vielmehr mit Sorge, was die Welt mittlerweile so alles im Drang nach Fortschritt verliert... Auch im Privaten lassen ja die unverbesserlichen "Welten-Reisenden" trotz der akuten Bedrohung für Gesundheit und Leben nicht von ihrer neugierigen, fast süchtigen Rastlosigkeit ab.

Freunde, die mich noch so als Traveler aus meiner aktiven Zeit kennen, stellen bei Besuchen außerhalb der Saison hier oben immer die gleiche Frage: "Wie hältst du diese Langeweile aus, und wieso verlässt du diese Einsamkeit nicht öfter?"

Die Frage beruht gleich auf mehreren Missverständnissen. Ich war früher nicht agil, sondern ein schlimmer, ungeduldiger Hektiker. Vieles hätte ich sinnvoller und besser machen können, wenn mich nicht die Ungeduld derart getrieben hätte. Die Verschwendung von Kraft kam mir deshalb nicht in den Sinn, weil ich wohl viel zu viel davon hatte, um sie vernünftig einzuteilen. Damit muss jetzt im Alter natürlich Schluss sein! Ich akzeptieren das.

Vielleicht helfen meine heutigen Gedanken ja ähnlich Getriebenen:
Obwohl einem mit den Jahren auch Defizite im Lebenslauf bewusster werden, muss man nicht versuchen, alles Verpasste auf der Ziel-Geraden noch aufzuholen. Das verkürzt nur den Atem.
Vor einer Weile schrieb ich hier, dass Glück immer nur eine Momentaufnahme ist, die sich nur schwer verlängern und schon gar nicht unter Druck wiederholen lässt. Aber erfahrungsgemäß ist die gesunde Psyche ohnehin darauf angelegt, die schönsten Momente des Lebens intensiver zu speichern als die weniger schönen oder gar die tragischen. Darauf sollte man bauen können, wenn einen die Sinnfrage unvermittelt anspringt und schlimmsten Falles in eine Depression treibt.

Anlass für meine Betrachtung ist, dass kürzlich eine Nachbarin und Freundin auf meiner Bank vor dem Haus saß, die immer eine unverwüstliche Heiterkeit ausstrahlt. Ich war ganz überrascht , als sie mir von in letzter Zeit häufiger auftretenden Seelen-Tiefs berichtete. Sie ist  eine von diesen Alters-Rastlosen, die möglichst viel in ihre Tage hier hineinpackt. Sie hat sicher von Ligurien in all ihren Jahren auf der Burg viel mehr gesehen als wir "Burgsassen" - meine Frau und ich.

Was viele nicht verstehen können: Wir sitzen an unserer Piazza auch in einer Art Zeitmaschine. Obwohl unsere vom absoluten Nichtstun strukturierten Tagesabläufe höchstens mal durch das hinunter Fahren zum Einkaufen unterbrochen werden, verfliegt sie Zeit doch auf merkwürdig zügige Art. Wir sind wegen Corona in diesem Jahr ja zwei Monate später "angekommen", aber waren in stiller Übereinkunft wohl darauf programmiert, so viel wie möglich von dieser einzigartigen Situation in uns aufzunehmen, damit wir die zwei Monate sinnlichen Verlustes wieder aufholen.

Jetzt sind die Mauer-Segler schon einige Tage fort, und es ist nur noch die Schwalbe in ihrem alljährlich bezogenen Nest bei Signora Adas Gassen-Überbauung da. Ein paar Tage lang beobachtet sie vielleicht noch die Flugmanöver ihrer letzten Brut. Dann zieht sie wie der Großteil der Urlauber und Teilzeit-Residenten weiter in heimische Gefilde. Der Herbst streckt seine längeren Schatten bereits aus, und bei uns festigt sich - wie all die Jahre zuvor - das Gefühl schon so länger als gefühlt hier zu sein. Dabei können wir die zurückliegenden Halbjahre,  kaum noch von diesem Aufenthalt unterscheiden. Doch dieser wird uns nicht nur wegen der Pandemie in besonderer Erinnerung bleiben...

Viel intensiver erinnern wir uns aber beim Tisch-Gespräch oder einem Gläschen Wein auf der Piazza an Geschehnisse aus der Zeit als wir das Haus hier noch nicht hatten. Die Erinnerungen fliegen uns gewissermaßen in einer Art geistiger Zeitreise an.

Bei kontemplativen Nachtsitzungen allein auf  der Piazza bin ich mir gewiss, dass ich hier und jetzt erst im Leben angekommen bin. Dass dieser der beste Ort von allen ist, die ich zur Verinnerlichung abspeichern durfte, obwohl ich auch immer noch unmittelbar jeden anderen "hochladen" kann. Denn die hektischsten Reporter-Tage hätte ich nie und nimmer überlebt, wäre es nicht mein Privileg gewesen, in den verflossenen Szenen, meinen Moment der Ruhe zu finden. Was interessiert mich da eine Zukunft, die ich bald nicht mehr erlebe? Was Einstein und Hawking eventuell zu meinem Desinteresse an einer fiktiven Zukunft und meinen Zeitreisen gesagt hätten, ist mir schnuppe. Die Frage ist: Konnten die überhaupt außerhalb ihrer wissenschaftlichen Arbeit kontemplieren?

Unabhängig vom Hinduismus, dem Buddhismus, dem Christentum,
dem Islam oder anderen Weltreligionen ist Kontemplation frei von Zeit und Raum.
Auch ohne festen Glauben ist allein schon in der Natur
die Verinnerlichung des Seins und die Besinnung auf sich  möglich...
Alle Fotos: Claus Deutelmoser

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