Dienstag, 28. Juli 2015

Don Marinos Augen

In einem extrem überalterten Dorf wie dem unseren, sind die Totenglocken natürlich öfter zu hören als andernorts. Im Moment will das langsame Schlagen nicht zu dem pulsierenden Leben mit spielenden Kindern und heiterem Lachen der Urlaubsgäste passen. Aber mir jagt der langsame
Rhythmus trotz der Hitze immer einen kalten Schauer über den Rücken. Deshalb zähle ich auch nicht mit.

Die "Zweitbeste" hat irgenwie heraus gefunden, dass die Campanologie auch hierbei nach Regeln erfolgt. Wer mitzählt, kann herausfinden, ob eine Frau oder ein Mann gestorben und wir alt sie geworden sind. Am Ende jedenfalls stirbt der Klang der große Glocke und wird nach ein paar Sekunden durch das heftige Gebimmel kleinerer Glocken abgelöst.

Zuhause gehe ich schon nicht auf Beerdigungen, denn mich schmerzt der sogenannte "letzte Gang" ganz sicher mehr, als den oder die im Sarg. Dabei geht das hier recht lässig ab. Bei der Beerdigung unseres direkten Nachbarn, dem früheren Bürgermeister, war ich der einzige schwarz Gekleidete mit Kragen und Krawatte. Ansonsten erschien mir die "große Leiche" eher wie eine "Komm-wie-du- bist"-Party.

Die Trauer erscheint mir hier entspannter und natürlicher. Das liegt wohl daran, dass die meisten im Borgo durch ihr langes Leben und ihren unverrückbaren Glauben genug Zeit haben, um sich auf die Ewigkeit vorzubereiten.

Wie komme ich drauf? Der von mir früher gerne als der "böse Dorfgeist" zitierte Don Marino scheint im neunten Jahrzehnt seines Lebens noch einen seelischen Wandel durch zu machen. Ich war ja Ziel manchen bösartigen Schabernacks.  Seit er alle seine Geschwister überlebt hat, beginnt er mit mir zu reden. Jedesmal ein wenig länger.

Früher hat sein hohe Krächzstimme nur ligurischen Dialekt ausgespuckt, wenn ich ihn nach seinem Befinden gefragt habe. Jetzt kommt zwar noch sein kurzes Hexer-Lachen, aber dann redet er auf Italienisch mit mir. Ein Anflug von Altersmilde?

Kein Zweifel, er wird von Tag zu Tag dünner. Mein Freund Paul nennt das "tapezierte Knochen".
Aber Don Marino ist zäh, selbst bei dieser Mörder-Hitze geht er zu dem verwaisten Haus seiner verstorbenen Schwestern hinunter und schaut nach dem Rechten. Aus alter Gewohnheit hat er einen großen Beutel mit Tomaten dabei. Er sitzt da im Schatten der Treppenbögen zur Piazza.

"Sono un po pazzo a desso."

Bin jetzt ein wenig verrückt. Die sind ja gar nicht mehr da, um daraus Tomaten-Sauce zu machen.
Willst du ein paar von denen?

Hallo? Habe ich mich verhört? In all den 15 Jahren hat er uns noch nie etwas angeboten, und nun muss ich ablehnen, weil wir uns am Tag zuvor reichlich eingedeckt haben.

Ich erkläre es ihm und bedanke mich artig. Er schiebt seine unvermeidliche Base-Cap aus der Stirn und lächelt so, dass es auch in seinen Augen ankommt. So tief wie sie liegen, so tief lassen sie mich einen Blick in die Ewigkeit gewähren.

Wenn ich ihn überlebe, und ich gerade im Borgo bin, werde ich zu seiner Beerdigung gehen. Allein für das Hoffen, dass es im Alter doch noch einen seelischen Wandel gäbe...

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