Sonntag, 28. Juni 2015

Trinkgeld

Als kleiner Junge habe ich schon von meinem Großvater gelernt, wie wichtig es ist, Trinkgeld zu geben. Er war - was es heute kaum noch gibt - ein Grand Seigneur. Mit ihm in ein Restaurant zu gehen, ließ mich nicht nur gutes Essen verstehen, sondern auch, was es heißt, als Gast respektiert zu werden. Es käme nicht darauf an, wie hoch das Trinkgeld sei, sondern wie es dargereicht werde. Er gab gutes Trinkgeld nie herablassend oder gönnerhaft, sondern mit der Geste besonderer Zufriedenheit. War er einmal unzufrieden, was wegen seiner Aura selten genug vorkam,  dann war eine Minute später der Chef bei ihm und fragte, was denn gewesen sei.

Mein Vater war genau das Gegenteil. Da ihm Geld nicht allzu viel bedeutete, bekam der Mann, der beruflich mit gewaltigen Vermögenswerten umzugehen hatte, von meiner Mutter, die eine wahrhafte Geldjongleurin war, quasi ein winziges Taschengeld zugeteilt, dass er meist unachtsam als Knitterknäuel mit Knöpfen und Gummibändern aus der Tasche zog. Einmal sind nur wir zwei zusammen verreist. Am dritten Tag übernahm ich die Reisekasse, weil er wohl mit seiner nicht nachgeprüften "Stimmt-so-Aufrundung" schon an die hundert Mark Trinkgeld verabreicht hatte...

Ob Tip, Mancia, Point oder Bakschisch, sobald ich mir Dienstleistungen leisten konnte, bekamen Dienstleister von mir ein angemessenes Trinkgeld. Egal in welchem Land ich unterwegs war, machte ich mich vorher mit den dortigen Sitten vertraut und erfuhr dabei einiges über den jeweiligen Volkscharakter.

Was ich bis heute nicht ausstehen kann, ist, wenn mir das Trinkgeld quasi durch Gesten abverlangt oder gar fast schon erpresserisch von Staatsdienern eingefordert wurde. In Ostasien kam man damals kaum durch Passkontrollen, wenn zwischen den Seiten beim Visum nicht ein kleiner Schein lag. In den USA - besonders an der Ostküste - schrien einem die Bedienungen nach, wenn ihnen das Trinkgeld nicht hoch genug war. Meistens verweigerte ich denen die üblichen zehn Prozent, die mich zuvor unverschämt oder respektlos behandelt hatten.

Dann wiederum gab es Situationen, in denen ich regelrecht beschämt wurde, weil ich aus Anerkennung für tagelange aufopfernde Dienste ein Extra geben wollte, das quasi empört abgelehnt wurde.

Als wir nach Ligurien zogen, nahm ich an, Trinkgeld sei hier genau so üblich wie nördlich des Appenins. Da bekam ich von meiner Freundin und Nachbarin Petronella, die ich nach komplizierten Behördengängen gerne zum Essen einlud, aber gehörig den Kopf gewaschen. Denn bis vor kurzer Zeit war hier das Trinkgeld noch völlig unüblich. Die Einheimischen ärgerten sich sehr über Touristen und Ausländer, die diese Sitte verdarben. Ich gehörte immer zu denen. Vor allem als ich erfuhr, mit welchen lausigen Löhnen hier im Gastgewerbe operiert wird.

Die Zweitbeste und ich haben etwa ein Dutzend Stamm-Restaurants, die wir regelmäßig besuchen. Um denen, die keinen Gesichtsverlust erleiden wollen, die Dankbarkeit für guten Service zu erleichtern, steht heute in ihnen meist in der Nähe der Kasse eine Sparbüchse. Wenn beispielsweise bei  Carlotta am Hafen jemand etwas in diese Büchse per il personale wirft, sagt sie nur kurz "Ragazzi!" und es ertönt von denen, die vom Service in der Nähe sind, ein vielstimmiges "Grazie Mile".

Gestern nun erlebten wir etwas besonderes, das diesen Post erst animierte. Beim "Pizza-Weltmeister" in Santo Stefano (über dessen gutes und vielseitiges Angebot wurde hier schon berichtet) wurden wir Ohrenzeuge einer besonders raffinierten Einrichtung. Kaum hatte die Zweitbeste einen Schein in der Büchse versenkt, drückte der Patrone einen Knopf an der Kasse, und aus allen Lautsprechern der Stereo-Anlage ertönte bis nach draußen auf den Badestrand: "Mile, mile grazie e buona giornata!"

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