Samstag, 13. Juni 2015

Lernen mit Geschichten

Das Schöne am Wohnen in historischen Gemäuern ist, dass der Phantasie freien Lauf gelassen werden kann. Wie ein Kind auf Suche nach Abenteuern streife ich nachts, wenn alles ruhig und nur spärlich beleuchtet ist, durch die Gassen und stelle mir vor, wie das Leben hier einst gewesen sein mag.

Mir ist es egal, ob Christoph Columbus in der Nachbar-Gasse tatsächlich geboren wurde, wie es das braune, offizielle Schild am Eingang des Dorfes verkündet. Bei mir ist das Fakt, dass Cousin und Cousine den künftigen Entdecker damals verbotener Weise gezeugt haben, und dass der Pfarrer hierzu seine kryptischen Eintragungen ins Geburten-Register vorgenommen hat. Dass ist Stoff, den ich weiterspinnen kann. Genauso wie die Geschichte des hier in  Familien-Fehde unter diversen Besitzern agierenden Grafen-Geschlechts.

Hat der Bergfried schon immer so ausgesehen?
Und haben hinter der kleinen Tür damals
tatsächlich Gefangene geschmachtet? 
Meine Krimis liebende "Zweitbeste" besteht immer darauf, die Wahrheit wissen zu wollen - auch wenn sie die Fakten bald schon wieder vergessen hat. Sie kennt auch die Verwandtschaftsverhältnisse unserer Nachbarn viel besser. Jedenfalls hat sie bei unserer Lebensmittelhändlerin ein Büchlein gekauft, dass die Gemeinschaft "a Lecca" über unsere Talschaft veröffentlicht hat. In diesem reich mit historischen Darstellungen und Fotografien bebilderten Bändchen finden sich in der Autorenschaft all die Namen wieder, die auch die Geschichte der Gemeinden seit dem Mittelalter geprägt haben.


Da unser Italienisch nach all den Jahren immer noch nah an lausig ist, haben wir jetzt vereinbart, gemeinsam in dem Büchlein zu lesen und die Fakten redlich zu übersetzen. Schon beim ersten Durchblättern alleine, musste ich jedoch feststellen, dass viele meiner Phantasien wohl an Dramatik verlieren werden. Denn obwohl die heutige Gemeinde fast wie die gesamte Provinz ständig hin und her geschachert wurde - mal den Genuesern, mal den Savoyern und sogar den Grimaldis "gehört" hat, scheint es nicht, als hätten sich die Einwohner hier jemals in ihrem ruhigen Alltag stören lassen.
So wurden die Erdbeben-Anker an unserem Haus offenbar nur wegen der verheerenden seismischen Aktivitäten in den Nachbartälern prophylaktisch angebracht. Denn obwohl die Erdplatten der Alpen und des Appenin kaum zehn Kilometer nördlich von uns aneinander stoßen, liegt die Burg in der heutigen Gefahren-Zone 3, was eher als ungefährlich gilt.

Die sonderbare Erhöhung des Burgplatzes, unter den ein Gewölbe unserer Cantina mindestens zwei Meter reicht, muss also gestalterische Gründe gehabt haben. Auch dass die Burg ihre Struktur mit dem Bergfried und dem dekorativenen Wehrgang behalten hat, ist eher den ausländischen Käufern zu verdanken, die den Ferienwohnungen einen romantischen Touch verpassen wollten.

Immerhin können die schroffen Felsen nicht lügen, auf denen unser Haus einst errichtet wurde, und die wir beim Ausbau der Cantina naturbelassen  und nicht verputzt haben.

Ach, man muss nicht alles wissen, wenn man weiter träumen will. Und vielleicht lernen wir ja aus den kleinen Geschichten; zumindest Italienisch...

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