Samstag, 17. Mai 2014

"Armeleute-Küche"

Als wir vor anderthalb Jahrzehnten unseren  Freunden im Norden Italiens voller Stolz erzählten, dass wir in Ligurien ein Haus gekauft hätten, zogen die meisten von ihnen lange Gesichter. Wenige von ihnen rümpften sogar die Nase. Bis heute habe ich diese Reaktion nicht begriffen, muss aber gestehen, dass wir dadurch, dass wir sie nicht mehr besuchen kamen (wir fahren ja nicht mehr über den Brenner, sondern über den San Bernardino) und sie ja auch nicht bei uns vorbei schauen, fast komplett den Kontakt verloren haben.

Carmelita, eine Gutsherrin im Valpolicella, die schon Agriturismo im großen Stil veranstaltete, als es den eigentlich noch nicht gab, sagte nur trocken:"Die können ja dort nicht einmal kochen!"

Diese Nordsüd-Betrachtungsweise kenne ich auch aus Deutschland, und vermutlich liegen die Geschmacksstreitigkeiten zwischen den Regionen in der Natur des Menschen begründet. Als mein Vater von Hamburg nach München versetzt wurde, ließ sich meine Mutter noch Jahre lang Wurstwaren von einem Metzger aus der Lüneburger Heide schicken, weil sie behauptete, die Bayern könnten keine Wurst machen. Das färbte auf uns Kinder ab, aber wir lernten, dass die Zeit auch beim Geschmack hilft,  Vorurteile abzubauen und durch Umgewöhnung sogar neue Vorlieben zu entwickeln. So lange ich beispielsweise nach meiner Rückkehr nicht mein Weißwurst-Frühstück auf dem Elisabeth-Markt hatte, war ich in München noch nicht angekommen, und obwohl ich beide eigentlich nicht  mehr darf, riskiere ich dann obendrein mein Leben für Leberkas und Schweinshax'n.

Auch in Ligurien, muss ich gleich solche Geschmackserlebnisse haben, um angekommen zu sein:

Obwohl ich durch die mittlerweile globale Versorgung mit Original-Produkten ganz gut im Nachkochen bin, schaffe ich es  beispielsweise nicht Polpo e Patate sowie Stoccafisso beziehungsweise Baccalà so hin zu bekommen, dass er schmeckt wie in den einschlägigen Restaurants hier. Beim Polpo mag es ja an der Frische liegen, aber der Stockfisch kommt ja immer noch als getrockneter Dorsch oder Kabeljau aus Norwegen und deckte durch Trocknung haltbar gemacht einst als Armeleute-Essen deren Eiweißbedarf in stürmischen Wintertagen, Dass in Italien Venetien, Latium und Sizilien als Hochburgen der Stockfisch-Zubereitung gelten, könnte wieder mit den oben erwähnten Vorurteilen zusammenhängen.

Die Burgbriefe-Leser, die bislang meinen Rezepten vertraut haben, dürfen mir, der ich ihn überall in Italien probiert habe, auch glauben, dass Stockfisch nirgendwo so delikat zubereitet wird wie an der Costa dei Fiori. Und soll doch keiner behaupten, die von einstiger Armut geprägte Küche Liguriens könne selbst durch Verfeinerung keinen Gourmet-Status erreichen.

Im ersten Winter hier kochte bei den Brüdern, die das Bagni Oneglia betrieben noch deren Oma Troffie al Pesto: Das Gericht kam vorgekocht in einer Eisenpfanne angeröstet auf den Tisch. Wie es die Tradition verlangte, waren die spiraligen Teigwaren mit grünen Bohnen und Kartoffel-Würfeln unter den einfachen Pesto Genovese gemischt. Was gruselig aussah, aber hervorragend schmeckte und irgenwie zu den grauen Riesenwellen passte, die fast bis an die Fenster klatschten.

Vorgestern haben die Zweitbeste und ich im Piazetta von Riva Ligure gegessen. Dort verändert ein junger, sehr engagierter Koch gerne mal das Erscheinungsbild der traditionellen Speisen. Wir bestellten Polpo e Patate als Vorspeise, und staunten nicht schlecht, als alle gehörigen Zutaten tiepido, aber separat angerichtet auf dem Teller arrangiert waren: Ein schaumiges Kartoffel-Mousse, knackige, frische grüne Bohnen und erlesen zart marinierte Scheibchen vom Polpo. Die Zusammenführung des Geschmacks erfolgte je nach Gusto (!?) - im Mund.

Aber eine Zutat machte das Gaumen-Erlebnis eben so
unvergleichlich perfekt, und das kann man eben nicht nachkochen: das Ambiente.

Nach Westen das azurne Meer mit Schaumkronen, nach Osten die herrliche Fassade der Kirche gegen einen mit weißen Wolken betupften Himmel. In der Sonne sitzend, sich den Wind um die Nase wehen lassend - mitten auf einem malerischen Plätzchen...

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