Montag, 31. Dezember 2012

2012 ist durchgefallen

Die Qualität eines Jahres im Rückblick zu bestimmen, ist in erster Linie eine Frage des Charakters. Etwa so wie bei der Einschätzung, ob ein Glas nun halb voll oder halb leer sei.
Am 31.12. geraten wir immer in ein Abwägen, das ich schon in der Schule gehasst habe: Die Erörterung. 

Dass sie später zu einem wesentlichen Bestandteil meines Berufes wurde, ließ sie mich nicht lieben lernen. Wenn der Journalismus heute zum Teil so ein erbärmliches Bild abgibt, dann hängt das nicht damit zusammen, dass die Männer und Frauen, die diesen Beruf gewählt haben, nicht mehr bereit gewesen wären, zu erörtern. Sie werden vom ersten Berufsjahr an der Illusion beraubt, dass Ausgewogenheit gefragt ist. Standpunkte werden von "höheren Mächten" bestimmt, Ausrecherchieren könnte ja die Story und damit bei Häufung den Job kosten...

"Quietsch machte die Geschichte und ward zu Tode recherchiert", sagte einmal ein Textchef zu mir - seinem Vertragsautoren - weil das Ergebnis der Recherche zu einer Serie nicht zur politischen Position der Zeitschrift gepasst hatte. Habe ich mich gewehrt, gekämpft oder Konsequenzen gezogen? Noch nicht einmal richtig aufgeregt habe ich mich, als meine Arbeit in der Schublade verschwand und kurz darauf ausgerechnet der SPIEGEL mit dem gleichen Thema im gleichem Konsens erschien. Ich wurde ja mit großzügigen Honoraren sediert. Heute gibt es noch nicht einmal mehr die. Nur noch die blanke Angst um den Job.

Ab dem dritten Jahres-Rückblick - ob geschrieben oder gesendet - habe ich deshalb auf Durchzug geschaltet. Kann es wirklich sein, dass ich hier auf der Burg die Perspektive verloren habe?

Ich habe mich dann in die Bewohner dieses Borgos vor 500 Jahren zurück versetzt. Deren flaches Weltbild war gerade durch einen hier gebürtigen Nachbarn rund gemacht worden. Dass die Geschichte ihn als Genueser bezeichnet, liegt darin begründet, dass die Leutchen hier ständig von den Mächtigen im Klerus und von Königen hin und her geschachert wurden. Bei der Geburt von Kolumbus gehörten sie gerade mal wieder zu Genua. 

Später auch zu Savoyen oder Frankreich: An ihrem Leben in Fron von Gutsherren oder als Kleinbauern änderte das nicht viel, weil es ihnen im Prinzip wurscht sein konnte.Die Welt da draußen interessierte sie nur insofern, als sie Ausschau nach Piraten oder anderen bewaffneten Seefahrern hielten, die die Früchte ihrer Arbeit stehlen oder enteignen wollten. Coloro che vengono dal mare vuole derubarci! 

Dann packten die Guerrini, die Grandiolios oder die Torrianis in ihren Bauernhäusern die Sachen zusammen und übersiedelten in ihre am höchsten gelegenen Wehrdörfer bis der Spuk halbwegs vorbei war. Da gab es allenfalls die Folgen des Ernte-Ausfalls zu erörtern. Weshalb es außerhalb ihrer Täler in der Welt so zuging, war von nachgeordnetem Interesse. Das änderte erst das Novecento.

Wenn meine Frau und ich jetzt auf die zurück liegenden vier Monate hier oben blicken, kommen wir unabhängig voneinander zu dem gleichen Ergebnis, dass dies eine der glücklichsten Zeiten unseres Lebens gewesen war. Aber angesichts der Tatsache, dass wir im Januar wieder zurück nach München müssen, meldet sich auch der Gewissenswurm. Dürfen wir eine Zeit so toll gefunden haben, in der es anderen auf der ganzen Welt in diesem Jahr so schlecht erging?

Würden Politiker ihr Tun so offen erörtern, könnten sie vermutlich keine Nacht mehr schlafen. Weil sie das nicht tun, sind sie wohl Politiker geworden. Das sollte Journalisten jedoch von ihnen unterscheiden. Nicht, dass von beiden Berufsgruppen gelogen würde, dass sich die Balken biegen. Es ist die Systematik des Weglassens, die beunruhigt. Es sind Isolierte Blickwinkel, die in einer schiefen Perspektive Versagen als Erfolge erscheinen lassen.

Aus meiner privilegierten Burg-Perspektive kommt meine Erörterung des Jahres 2012 dennoch zu dem Ergebnis:
Durchgefallen!

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