Sonntag, 1. Juli 2012

Das Deutsche Wesen

Castellinaria Kapitel 10





Mit la nostalgia, dieser Sehnsucht nach nicht zu konkretisierenden Wunschzuständen des Lebens, ist das so eine Sache: Der Nostalgiker muss schon etwas erlebt haben, um dieses Sehnen und Wähnen wenigstens halbwegs ausrichten zu können. Immer jedoch bleibt das am Ende ganz individuell. So hatten vermutlich, die die sich in den 1970ern und in den folgenden Jahrzehnten aus dem Norden Europas in Castellinaria ansiedelten, anfänglich vorrangig durchaus die „italienischen Momente“ im Sinn; die Sonne, das Meer, den Duft von Orangen und Zitronen, die einzigartige Landschaft und die urwüchsige Küche. Aber im detaillierten Spektrum der erlebten Realität traten dann schon die Eigenheiten hervor.
  Bernhard wollte bloß der Scholle nahe sein auf seinen Wanderungen am Meer und in den Bergen, sowie möglichst nie wieder frieren müssen. Der Lenz wollte – nachdem er alle wirtschaftlichen Ziele an der ligurischen Küste fristgerecht erreicht hatte – mit einem Minimum an Aufwand das Maximum an Macht auf seinen neuen Lebensraum ausüben. Traute lebte nur noch für ihren Sohn und den einzigartigen Terrassengarten mit Klarblick auf  Korsika. Frau Doktor (la dottoressa) Dröse, Bernhards Nachbarin, wollte mit Lucca ewigen Sexurlaub von ihrem Mann. Aber selbst der Frömmste kann nicht in Frieden leben, wenn es dem Nachbarn nicht gefällt.
  Wenn das persönliche Etappenziel der Sehnsucht dort am Rande des Himmels erreicht war, stellte sich bei den Pilgern und Emigranten nicht etwa ein grenzenloses Gefühl der Zufriedenheit und des Wohlbefindens ein, sondern es trat alsbald ein Mangelgefühl auf. Es fehlte ihnen derart zunehmend am „Deutschen Wesen“– dass auch die wenigen Skandinavier und Holländer kurioser Weise  von diesem Vakuum teutonischer Lebensart profitierten. In dem Maße, in dem die Deutschen im mittelalterlichen Ligurien heimisch wurden, wollten sie natürlich auch, dass der Sindaco und die Comune nach dem deutschen Reinheitsgebot funktionierten, wenn es um Übertretungen von Bauvorschriften, vernachlässigter Wasserversorgung, Müllabfuhr und elektrotechnische Nachrüstungen ging. Die armen Bürgermeister und ihre an Gemächlichkeit gewöhnten Administratoren, begannen das „Deutsche Wesen“ und seine Beharrlichkeit zu fürchten. Ganz besonders dann, wenn seine Protagonisten wegen mangelnder Beschäftigung und Langeweile den Faktor Zeit unbegrenzt ausspielten…
  Da war - als ein typischer Vorreiter –  der Polier Peter Häubel, dem Bernhard Kleiner im Büro auf einer Baustelle in Portugal gegenüber gesessen hatte. Der Kahlkopf mit rutschigem Gebiss und kurzen Beinen stammte aus einer sauerländischen Bauernfamilie. Sein gedrungener Körper war zum Ausgleich mit endlos langen Armen ausgestattet, die tüchtig zupacken konnten,
  Als Bernhard ihm – dem bei der Hof-Erbfolge daheim zu kurz Gekommenen - erzählte, dass in den Valle d’Olio für wenig Geld viele landwirtschaftliche Nutzflächen (Fasce) zu erwerben seien, konzentrierte sich die Sehnsucht des Schrats fortan darauf: Nämlich mit Leib und Seele das zu werden, was ein Einheimischer dort seit dem Krieg partout nicht mehr gerne sein wollte; - ein in der Hitze schuftender, vom Ertrag seiner Scholle kaum leben könnender, ligurischer Bergbauer. Zu ersten Oliventerrassen gesellten sich im Schweiße von Häubels Angesicht nach und nach ein Weinberg, Zitronen- und Orangen-Haine sowie Gemüsegärten – alle natürlich mit bis dahin noch nie erreichten Muster-Erträgen.
   Häubel schien im Erfolgsrausch seiner agricoltura die ganze Kommune auf einmal umarmen zu wollen. Er war auch der erste, der die residenza und einen Ausländerpass beantragte. Er trat als neuer „Ölbaron“ jedem Konsortium bei, das ihn aufnahm, aber er war auch bei den legendären sagre, den ausgelassenen Dorffesten mit Tanz und Völlerei, ein emsiger Mitorganisator. Kurz, er bemühte sich – selbst in der Sprache - einheimischer zu sein als die Einheimischen und merkte dabei nicht, wie jene ihn zwar gerne ausnützten, aber keinesfalls in ihre Herzen ließen.
  Unerwiderte Liebe geht gerne verschlungene Wege, und so ließ Häubel seine Fürsorge verstärkt dem Zauberberg angedeihen, an dessen Aufgang er in strategisch einflussreicher Position als selbsternannter Concierge vom Lenz ein großes Haus mit Garten erworben hatte. Nur Eingeweihte entgingen seiner Wachsamkeit, indem sie lieber die schwierige Straße zum oberen Ortsrand in Kauf nahmen.
  Kaum ein Neuansiedler oder Kaufinteressent, der seinen aufdringlichen Belehrungen, Warnungen oder Ermahnungen entgehen konnte. Ja selbst völlig arglose Touristen und Bergwanderer wurden oft ungefragt Opfer seiner detaillierten Vorträge oder gar erzwungener Führungen. Sie kamen immer häufiger, weil sie von Castellinaria (da ein Autor vom anderen abschrieb) in vielen Reiseführern gelesen hatten und sich das malerisch auferstandene Dörfchen nur ansehen wollten,
  Da er zudem ein gläubiger und praktizierender Katholik war, schritt Häubel auch gerne gut sichtbar in vorderster Reihe bei den mannigfaltigen Bergprozessionen mit.  Alsbald rief sich der umtriebige Umgetriebene gewissermaßen selbst zum Erfinder und Fremden-Bürgermeister von Castellinaria aus. Da dauerte es natürlich nicht lange, bis der, der sich ebenfalls – bislang unangetastet - in dieser Position sah, zu einem seiner leidenschaftlichsten und hinterhältigsten Feinde wurde: Der Leibhaftige selbst, der listige Lenz.


  Aber das  transferierte Deutsche Wesen gedieh auch noch auf dem Humus anderer, sich stetig anreichernder Erkenntnisse. Eine davon: Luftschlösser taugen nicht zum Schaffen von Dynastien, weil es Kronprinzen und-Prinzessinnen an vergleichbarer Nostalgie und Wahrnehmungsfähigkeit fehlt. In Castellinaria selbst wurden ja keine Kinder mehr geboren. Die verbliebene einheimische Bevölkerung hatte ihren abgewanderten, bevölkerungspolitischen Beitrag  längst geleistet oder war schlichtweg zu alt, um sich zeugend noch einmal ans Werk zu machen. Die nordeuropäischen Damen im gebärfähigen Alter hingegen ließen ihre teutonischgermanischen Eizellen vielleicht dort oben vom Ambiente stimuliert befruchten. Doch zur Niederkunft suchten sie die Kreissäle daheim auf.
  Sebastian Kleiner – wohl die unbestrittene Nummer Eins auf dieser besonderen Zeugungsliste – kann als exemplarisch für diesen eigenartigen Generationen-Konflikt dienen: Traute nutzte das Vorschulalter ihres Sohnes und die langen Aufenthalte Bernhards bei Bauvorhaben auf der Iberischen Halbinsel, um Sebastian so viele italienische Momente fürs Leben mitzugeben wie nur irgend möglich. Der Knabe wuchs in diesem herrlich abenteuerlichen und autofreien Ambiente mit dem Maximum an Sonne, Wärme und Sinnlichkeit auf, aber er hatte – außer wenn Sie mit dem Bus ans Meer hinunter fuhren – keine gleichaltrigen und wenn dann nur sporadische Spielgefährten. Der Vater fehlte ihm dabei gar nicht mal so sehr. Denn sobald des Autofahrens mächtig, fuhr Bernhard in Barcelona auf die Fähre nach Genua und war so vermutlich mehr verlängerte Wochenenden (durch den langen Schlaf an Bord auch völlig entspannt) präsent, als ihm dies in Deutschland möglich gewesen wäre.
  Kaum waren die Kleiners zwecks Einschulung von Sebastian in eine Wohnung bei Düren gezogen, passierte aber etwas Unerwartetes. Sebastian, braugebrannt und randvoll mit italienischen Impulsen fuhr auf seine neues Umfeld total ab. Durch sein annähernd perfektes Italienisch wuchs ihm eine besondere Rolle bei der Integration der Gastarbeiter-Kinder in seiner Klasse zu, und er erfuhr, dass es wichtiger als alles andere war, eine Horde gleichaltrigrer Freunde zu haben, mit denen er selbst bei schlechtestem Wetter spielen konnte. Das war es! Sehnsüchte, da gesättigt, mussten nicht länger befriedigt  werden. Für Sebastian überwog – den Eltern fast unverständlich – das Deutsche Wesen. Je älter er wurde, desto schwerer wurde es für Traute und Bernhard, den Knaben dazu zu bewegen, sich mit ihnen in den Schulferien immer wieder auf die lange Reise in den Süden zu begeben. Nach der Pubertät kam es deswegen sogar einmal zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung, aber das Verhärtete die Fronten diesbezüglich nur.
  In solchen Momenten fand er tröstenden Unterschlupf bei Mutter Körber, die genau das richtige Rezept für derlei Missstimmungen hatte: Fernsehen bis zum Einschlafen und Fastfood bis zum Abwinken. Traute und Bernhard, selbst immer noch Aufsehen erregende statuarische Erscheinungen, übernahmen ihren Hoffnungsträger nach jedem Aufenthalt bei seiner Oma einige Kilo schwerer. Als er 1987 ein 1,0 Abitur hinlegte, war Sebastian bereits ein wachsbleicher  120Kilo-Schwabbel, dessen Leben sich – als sei die Reife-Note Vorgabe – fortan nur noch um Einsen und Nullen drehte.  Das Programmieren und Entwickeln von Computern war dem Junior derart zum Lebensinhalt geworden, dass seine gramgebeugten Erzeuger befürchteten, die grüne Schrift jener Screens hätte für immer seine Haut verfärbt.
  Sebastian war das, was die Szene bald einen „Nerd“ nennen sollte. Er schaffte es aber dennoch, seine Eltern irgendwie stolz zu machen. Nicht nur, dass er sein Studium autark, selbst finanziert und ohne Umweg über die Bundeswehr in Rekordzeit durchzog. Er war, als er seinen Doktor magna cum laude machte, auch sonst schon ein gemachter Mann. Anhand eines deutsch-italienischen Übersetzungsprogramms, das er als Semester-Arbeit eingereicht hatte, war ihm die Idee zu grundsätzlicher Software auf dem Gebiet der Spracherkennung gekommen. Sein Vater indes sprach – nach bald dreißig Jahren „residenza“  immer noch kaum mehr als sein Baustellen- und Menükarten-Italienisch
  Sebastians äußere Langsamkeit stand im krassen Gegensatz zu der rasenden Geschwindigkeit seiner Gedanken und Ideen im Cyberspace. Wer so wollte, konnte das Wesen Castellinarias und damit seine Abneigung als das genaue Paradoxon zu dieser Konstellation sehen.
  Bernhard hingegen, der den Zauberberg immer noch zwecks Broterwerb verlassen musste, hatte gerade deshalb die notwendige Perspektive, genau in diesem Wandel mit Weile die Magie Castellinarias zu erkennen: Er sah, wie sich zwar das Umfeld rapide nach jeder Abwesenheit verändert hatte. Er erkannte aber auch, dass hier das Wahre immer noch das Virtuelle ausstechen konnte.
  Der Blick vom Tal hinauf mochte im Vergleich zu seiner allerersten Momentaufnahme noch unverändert geblieben sein, wie die unmittelbare Atmosphäre in den engen Gassen.  Doch Castellinaria war auf wundersame Weise errettet worden. Einmal abgesehen davon, dass alles neu gepflastert worden war und das Ambiente sich harmonisiert hatte. Die prägenden Häuserzeilen waren nun alle saniert und zum teil recht niedlich hergerichtet worden. Aber dadurch, dass die Autos fehlten und die Logistik noch nach Körperkraft verlangte, schien die Zeit immer noch langsamer zu vergehen als unten am Meer.
  - Der Zauberberg trog, wie Zauberberge dies nun einmal zu tun pflegen.
  Die fiktiven „mannschen Protagonisten“ konnten noch isoliert mit intellektueller Egozentrik in Parabeln dräuende „Zeitläufte“ reflektieren. Die realen „Luftschlosser“ von Castellinaria erlebten hingegen die Serpentinen vom und ins Tal tatsächlich wie das Zeittor bei „Stargate“. Und wenn sie von ihren Terrassen den Blick nicht nur auf das Meer schweifen ließen, sondern senkrecht hinunter richteten, konnten sie ihn auch nicht mehr vor den Veränderungen verschließen.
  In dem Maße wie das „grüne Gold“, das unverschnittene Olio extra vergine aus den  Valle d’Olio,  quasi ohne EU-Subventionen unbezahlbar wurde, krochen die Industriezonen Werksgelände um Werksgelände flankiert von gigantischen Einkaufszentren das Impero-Tal hinauf. Namhafte Olivenöl-Weltmarken, die am alten Hafen von Oneglia Jahrhunderte produziert hatten, verschwanden oder beugten sich nach und nach den billigen Verschnitt-Diktaten durch Granulat-Importe aus Nordafrika. Neue EU-Richtlinien machten das möglich. Die Ernte-Handarbeit auf den historischen Terrassen mit unter den Bäumen ausgelegten Netzen und den Klöppelstangen, sowie der mühevollen und auch gefährlichen Schlepperei von vollen Körben über steile Terrassen-Trittsteine blieb die alte. An bezahlte Erntehelfer war längst nicht mehr zu denken, und Ende des Jahrtausends konnte dieses Weltkulturerbe der UNESCO auch nur noch vor dem Überwuchern bewahrt werden, weil die Europäische Gemeinschaft Beschnitt-Prämien auslobte.
  Aber damit noch nicht genug der kuriosen Paradoxen: Je mehr die Bergbauern oben wirtschaftlich am Stock gingen, suggerierten unten im Tal clevere Geschäftsleute ursprünglichen Gaumengenuss auf Konserve, indem sie die vermeintliche Romantik eben jenes Berufsstandes auf Flaschen und Gläser zogen. Aziende Agricole schossen wie die berühmten ligurischen Steinpilze, die nun immer häufiger aus Rumänien importiert werden mussten, aus den aufgelassenen zu Bauland mutierten Ölterrassen. Für den Export ins sehnsüchtige Nordeuropa gab es Pesto im Minigläschen, Peperoncini mit Ricotta gefüllt und marinierte Funghi Porcini zu Preisen pro Einheit, mit denen eine ligurische Bauersfrau ihre ganze Riesensippe auf gleiche aber besser und frisch zubereitete Weise ein ganzes Jahr versorgt hätte. Schlaumeier zogen von einem dörflichen Ölmüller (frantoio) zum anderen, kauften den Mosto billig auf und füllten ihn im Rahmen der Richtlinien gestreckt in mit Goldfolien kaschierte  und fantasievoll etikettierte homöopathische Fläschchen. Natürlich zu entsprechenden Preisen, die bis zu  500 Prozent Gewinn ermöglichten.
  Wo so eine Gewinnspanne lockte, durfte natürlich einer beim Mitmischen nicht fehlen: Lorenz Meester war einer der Ersten, der die Nordlichter mit selbst erfundenen „original  altligurischen“ Fantasieprodukten küchennostalgisch versorgte. Wobei die Marke, die er schuf, von seinem bösartigen Humor zeugte. Die hieß angelehnt an das Lateinische - die Metapher doppeldeutig abwandelnd - „tavola rasa“, was natürlich im Italienischen nicht wirklich Sinn machte. Ihm jedoch gefiel seine Assoziation:
   Denn wenn die Leute zwischen Garmisch und Großenbrode nach telefonischer Akquise und Postversand seine Genussmittel auf ihren Tisch stellten, hatte der Lenz sie wirklich im übertragenen Sinn ordentlich rasiert: Normal eingelegte Zwiebeln, Pilze, Schoten, Wildschweinstücke und dergleichen – noch nicht einmal von besonderem Geschmack – unterschieden sich von den gängigen Industrie-Produkten in den Regalen der großen Supermärkte nur durch ein Stück nostalgisch bedrucktes Kunstleinen, das von einem grünweißroten Band auf den Deckeln festgezurrt war; – und natürlich einem Preis der um die Hälfte höher war…
  Ganz seinem Stil treu bleibend, rührte der Lenz jedoch weder Koch- oder Öltöpfe noch den kleinsten Finger. Er stellte eine seiner fasce für die Ansiedlung des Betriebes zur Verfügung. Der eilfertige Bürgermeister einer Gemeinde im benachbarten Tal hatte sie in freudiger Erwartung neuer Arbeitsplätze zur Bebauung frei gegeben. Die übernahm gegen Beteiligung ein kleiner ortsansässiger Bauunternehmer (Impresario), der endlich einmal etwas Großes bauen wollte. Die Herstellung und Logistik für Marke und Produkte gingen gegen Tantieme zu Gunsten Meesters an eine Agrar-Genossenschaft. Die Perspektiven entwickelten sich prächtig und der Lenz hatte wieder einmal ohne großen Kraftaufwand eine Geldquelle, die ordentlich sprudelte. Zumindest so lange bis die erste rege Nachfrage die dem Lenz sattsam bekannte Gier beflügelte.
  Seit einigen Jahren kann man diesen makellosen Musterbetrieb nun auf einer Serpentine mit prachtvoller Aussicht bei gleichzeitiger Einsicht umfahren. Drinnen sieht alles aus wie bei Dornröschen: Allerdings ohne Personal im Tiefschlaf. Ansonsten scheint alles mitten im Produktionsprozess zum Stillstand gekommen zu sein. In Momentaufnahme erstarrt steht ein einst ultra moderner Betrieb seit bald einem Jahrzehnt unter Konkurs-Kartell und Gläubiger-Schutz.
  Seine früheren Partner glaubten immer noch an eine altersbedingte Hinfälligkeit, wenn der Lenz angesichts dieses Themas einen unbändigen Hustenanfall bekommt. Sie ahnten nicht, dass er sich tatsächlich ins Fäustchen lachte. Der Hauptgläubiger war natürlich er – ohne jemals jedoch selbst eine Lira oder einen Euro riskiert zu haben. Der bald Hundertjährige wähnte da immer noch den Faktor Zeit auf seiner Seite…
  In dem Maße, in dem beim Lenz die sexuelle Gier als Triebfeder seines Schaffens nachließ – was sowieso unverschämt spät der Fall war – gewann der pure Spaß an der Macht-Ausübung die Oberhand. Die Puppen an ihren Fäden nach seiner Facon zappelnd agieren zu lassen, war ihm als Genuss auf seine alten Tage bald wichtiger als das Studium seiner Konto-Auszüge.
Man könnte rückblickend meinen, gerade das fortschreitende Alter hätte ihn gegen diverse Ängste zusätzlich resistent gemacht, aber so war das nicht.

  Bernhard hatte aus anerkennendem Respekt und Toleranz eine Allianz mit Häubel geschlossen, ohne ihm allerdings jemals freundschaftlich verbunden zu sein. Aber allein dieser Umstand offenbarte ihm, dass der Lenz trotz ihres gestörten Verhältnisses so etwas wie Eifersucht auf ihn, den eigentlich ungeliebten Schwager, projizierte. Das ging so weit, dass Meester, um auch ein wenig schön Wetter bei Traute zu machen, Bernhard zunehmend um großzügig belohnte Hilfestellung bei bautechnischen Aufgaben oder der Verwaltung seiner Liegenschaften bat.
  Bernhard Kleiner war ein großer Charakter. Er konnte Mitleid mit dem Alten empfinden, ohne die in seinem Hinterkopf gespeicherte Wut der Vergangenheit ad acta zu legen. Rachegefühle hegte er keine, aber er hatte sich vorgenommen, seinen Schwager irgendwann auf elegante Weise in die gleiche hilflose Ohnmacht zu versetzen, wie er sie hatte erleiden müssen. Er konnte nicht ahnen, dass ihm dies auf recht heftige Weise abgenommen werden würde.
  Er war zwar im Rang als Bauleiter die Treppe weit hinauf geklettert, aber das hatte ihn nicht unabhängiger gemacht. Seit Sebastian in Aachen studierte, waren seine Auslandseinsätze weniger, aber die Verantwortung auf den Großbaustellen im Rheinland belastender geworden. Er schaffte die zusätzliche Schufterei beim Urlaub in Castellinaria einfach nicht mehr.
Auch der gleichaltrige Häubel  hatte noch genug neben seiner Landwirtschaft zu tun.
   Aber beide wollten die Eisen auch schmieden, so lange die noch heiß waren. Sollte heißen, die letzten aussichtsreichen Ruinen noch zu sanieren, um daraus Ferien-Appartements zwecks späterer Rentenaufbesserung zu gestalten.
  Häubel und er hatten sehr gute Erfahrungen mit zwei albanischen Brüdern gemacht, die nach ihrer Flucht ein kleines Bau-Unternehmen bei Garlenda gegründet hatten. Sie waren ehrlich, fleißig, in einem gewissen Maß zuverlässiger als ihre ligurische Konkurrenz und vor allem nannten sie einen Preis, und dabei blieb es dann. Selbst Bernhards Freund Lucca hatte sich im Laufe der Jahre dieses nervende, scheibchenweise Nachfordern bei Baufortschritt angewöhnt.
  Die beiden deutschen Poliere bündelten also ihre Vorhaben mit den restlichen vom Lenz zu einem guten halben Jahr Vollbeschäftigung für die „albanesi“. Bernhard unterrichtete seinen Schwager der Fairness halber.
Lorenz Meester residierte ja  bekanntlich zu diesem Zeitpunkt schon in seiner Villa auf dem Capo Berta, wie man sie nur aus Hochglanz-Magazinen kennt. Zwei Hektar mediterraner Botanik in Hanglage über dem Meer, mit einem großen Pförtnerhaus oben und einem Renaissancebauten-Ensemble mit Pool-Terrasse über der steilen Klippe unten.
  Das vordere Haus war lukrativ vermietet, Autos verschwanden in einer in den Fels gesprengten Tiefgarage, und die mit einem Golfcart befahrbaren Parkwege waren elektronisch gesichert und wurden von Videokameras überwacht.
  Bernhard hatte schnell aufgehört, sich von diesem Ambiente einschüchtern zu lassen. Er genoss vielmehr die angenehmen Seiten seiner „Altenpflege“, die ihm zunehmend Freiräume im Anwesen seines Schwagers einräumte, ohne sich für die gewaltigen Unterhaltskosten interessieren zu müssen.
  Meester war überraschend schnell einverstanden gewesen mit der Beauftragung der Albaner, so dass sich Bernhard anschließend in dem Riesenpool einem ausgiebigen Schwimmtraining hingeben konnte. Der Pool war auf einer Ebene  mit Überläufen angelegt. Seine bis zum Rand reichende Wasserfläche spiegelte vor, man schwämme im Süßwasser aufs offene Meer hinaus. Noch einmal ordentlich Frieden und Ambiente tanken, dachte Bernhard, bevor es am nächsten Tag mit dem Flieger wieder von Nizza nach Köln/Bonn ginge…


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen