Montag, 9. Juli 2012

Die Rückkehr der Enkel

Castellinaria Kapitel 15



  „Ich komme einfach nicht an!“, sagte Johannes Goerz und schaute über den erleuchteten Kirchturm der Nachbargemeinde auf das vom Mond beschienene Meer hinunter. Offenbar recht große Wellen, die der Scirocco vor sich her schob, ließen es mit ihren streifigen Schatten von dort oben, wo sie saßen, wie ein Teller aus gehämmertem Silber erscheinen.
  „Ich komme einfach nicht an - in diesem so genannten Dritten Leben. Ich erkenne, das Privileg hier sein zu dürfen. Ich sauge diese einzigartige Schönheit in mir auf, aber anstatt es zu genießen, lasse ich zu, dass gerade in solchen Momenten ein aberwitzig schlechtes Gewissen von mir Besitz ergreift.“
  Bernhard Kleiners lange Beine baumelten wie die von Goerz in lässiger Fahrlässigkeit außen von der Zinne des Kastells über dem schwarzen Abgrund, der sich an der Südostfront der Burgmauer erstreckte. Glühwürmchen tanzten in der Tiefe. Er schmauchte seine Pfeife mit zerkautem Mundstück und sagte gar nichts. Längst wusste er, dass sein neuer Bekannter ein komplizierter und zerrissener Charakter war, dem mit seinem gesunden Menschenverstand kaum beizukommen war. Indem er ihn aber schweigend und fest anschaute, wenn der eine Pause machen wollte, ermutigte er den Jüngeren stets mit seinen Monologen fortzufahren. Das klappte und war besser, als sich mit Traute via Satellit deutsche Fernseh-Soaps anzusehen. Diese fortwährende Selbstzerfleischung war eine Reality-Show – exklusiv und wegen beiläufig gewonnener Erkenntnisse unbezahlbar.  Er selbst war ja auch auf Wichtigkeitsentzug gewesen, nachdem er die Großbaustellen seines Lebens auf immer verlassen hatte. Er wusste, dass Verluste von Macht, Kraft, Sex und anderer Antriebskräfte auch bei dem Journalisten seine Zeit brauchen würde, aber er war sich nicht ganz sicher, ob Goerz - so wie er - den Stand der Weisheit durch homöopathischen Genuss des noch Gewährten erreichen würde.
  „Der Gogel hat mir außer der Bruchbude noch einen Spruch da gelassen. Quasi ein Leitsatz aus seinen Management-Seminaren: Man merke sich: Die beiden größten Arschlöcher in meiner Karriere sind mein Vorgänger und mein Nachfolger…“
  „Ich habe übrigens meine Wohnung an den Enkel von Franco verkauft“, warf Kleiner mitten in den unvollendeten Satz.
  „Was hat das jetzt mit dem Spruch vom Gogel zu tun?“ hakte Goerz in einer Mischung aus Erstaunen und Ungehaltenheit nach. Kleiner hatte ihn noch nie unterbrochen, und schon gar nicht, indem er ein völlig anderes Thema anschnitt.
  „Nehmen Sie doch Castellinaria! Das ist eine über Jahrhunderte andauernde Abfolge von Vorgängern und Nachfolgern. Aber die gegenwärtigen Arschlöcher sind wir, die wir gedacht haben, wir könnten einfach ein fremdes Stück Paradies kaufen und nach unseren Vorstellungen formen und verändern. Wie sehr wir in die historische Nachfolge eingegriffen haben, ist mir gerade erst durch diesen Spruch und das, was ich mit Francos Enkel erlebt habe, bewusst geworden.“
  „Sie sprechen in Rätseln. Don Bernardo!“
  „Nun, die Wohnung, die ich seinem Enkel verkauft habe, hat einmal Franco gehört. Er hat mir und Häubel das Haus zu Beginn der Achtziger verkauft, weil seine Kinder nach Turin und Genua gegangen waren und von Castellinaria nichts mehr wissen wollten. Unser Geld hat er – genügsam wie er immer war – für seine ungeborenen Enkel bei der Ambrosiana angelegt. Stellen Sie sich das mal vor. Damals haben sie die Italiener auf den Baustellen bei uns wegen ihres ungebremsten Kinderzeugens noch ‚Katzelmacher’ genannt…“
  „Ja, so hieß doch auch ein Film von Rainer Werner Fassbinder…“
  „…Und jetzt sind die bei den Geburtenraten in Europa das Schlusslicht.
Francos Töchter sind geschieden und haben gar keine Kinder. Einer der beiden Söhne seines Sohnes ist jetzt bei Imperia Mare für die künftige Hafen-Entwicklung zuständig. In den 26 Jahren seines Lebens war er vielleicht dreimal hier oben, ansonsten durfte Franco, um seine Enkel zu sehen, nach Genua reisen. Marco, der ältere der beiden Enkel, erinnerte sich also, dass sein Vater häufig von einem zweiten Häuschen seines Großvaters gesprochen hatte und fragte nach Jahrzehnten des Desinteresses Opa Franco, ob er dieses Häuschen als Wohnung haben könnte, weil die Mieten am Hafen so absurd teuer seien. Franco erzählte ihm, dass das Haus schon vor seiner Geburt verkauft worden sei. Dass er ihm aber die Hälfte des damals angelegten Erlöses zugedacht habe.“
  „Und da hat der sich riesig gefreut und Ihnen davon gleich die Wohnung abgekauft?“
  „Nein! Ganz im Gegenteil! Der hat seinen Opa wüst beschimpft. Er habe ein Fundament der italienischen Kultur für centesimi an Ausländer verhökert. Und seine Wut wurde fast zu einem Tobsuchtsanfall, als er feststellte, dass das Geld vom Opa mit Zins und Zinseszins gerade dazu ausreichen sollte, davon die Hälfte von der Hälfte des früheren Hauses zu bezahlen. Er nannte mich einen Spekulanten, obwohl ich ihm sogar  die Wohnung aufgrund meiner Freundschaft zu seinem Großvater noch um 25 Prozent günstiger angeboten habe.  Häubel und ich hatten ja in die Renovierung neben dem Material und der Ausstattung einen Haufen eigene aber auch viele Arbeitstunden der Albanesi gesteckt. Jeder von uns hatte Franco damals 15 000 Mark bezahlt und etwa die gleiche Summe in die durch die Teilung entstandenen Wohnungen investiert. Lustiger Weise hatten auch wir beide die Idee, diese dereinst mal unseren Enkeln zu überlassen…“

  „Und?“
 „Häubel hat ja welche. Unser Sebastian hat das Thema Kinder längst abgehakt. Und was Sie erzählt haben, wird es doch auch bei Ihnen keine geben. Die wenigsten der Deutschen hier oben – so sie überhaupt Kinder hatten – haben Enkel, und da sich deren Eltern schon kaum mehr interessierten, wird es von denen hier keine wirkliche Nachfolge-Generation geben.“
  „Luftschlösser taugen offensichtlich nicht für Dynastien“, Goerz schüttelte in jäher Erkenntnis und ein wenig resigniert seinen Kopf und fuhr dann fort: „aber waren wir denn blind in unserer Sehnsucht nach so einem Ort? Wenn es so sein wird, dass unsere Kinder und Enkel im Globalismus nicht mehr sesshaft werden können, weil sie für den Job vielleicht alle fünf Jahre wieder an einen anderen Ort müssen, dann wäre doch so eine Zufluchstätte eine tolle Alternative.“
  „Ja, schon. Aber sie wäre eben keine Heimat oder nur ein Ersatz für sie. So etwas wie ein Elternhaus hat keine Bedeutung mehr, so bald es in dessen Umfeld nicht mehr genügend Jobs gibt. Im Prinzip ist das so, wie es hier oben war. Francos Generation hatte schon keine Perspektive mehr als Bergbauern. Also haben die meisten damals Castellinaria verlassen, um ihr Glück anderswo zu suchen. Wenn meine Generation Deutscher nicht die Sehnsucht nach den italienischen Momenten gehabt hätte, wäre das hier oben alles verfallen. Klar haben wir die alten Gemäuer für vergleichsweise lächerliche Summen gekauft. Aber niemand zählt ja die Arbeitsstunden und die Kosten für das Material zusammen, die wir all die Jahre in die Restaurierung gesteckt haben, ohne dafür Subventionen für den Denkmalschutz einzustreichen…“
  „Nein, die Enkel sehen natürlich nur die Preise, die sie sich meist mit normalen Jobs nicht leisten können – selbst wenn sie Opas wie Franco haben.“
  „Fünf der Häuser, die verkauft wurden, seit Sie das Haus der Francesa übernommen haben, sind nicht mehr an Nordeuropäer gegangen, sondern als Investments für Ferienwohnungen an Immobilien-Firmen aus Turin und Mailand.“
  „Februar und März war der Ort tatsächlich so ausgestorben, dass ich mir hier wie in einer Geisterkulisse vorgekommen bin, aber das war auch irgendwie mystisch und schön.“
  „Es werden also andere Nachfolger kommen, aber bis dahin sind wir die Arschlöcher. Ich sage es ungern – obwohl wir ja auch zum Wohlstand der Gemeinde beitragen – baut sich hier erstmals in all den Jahren eine unterschwellige Feindseligkeit auf. Die Enkel-Generation weint einem verlorenen Paradies nach, dass ihre Eltern verlassen haben und in dem ihre Großeltern erst einen verbesserten Status erfuhren, als wir dessen Verfall gestoppt haben.“
  „Dürfen wir ihnen das denn verübeln?“
  „Nein, natürlich nicht! Man muss sich ja nur vorstellen, das wäre mit einem unserer historischen Dörfer daheim passiert – beispielsweise durch Japaner. Oder einfacher: Wir erinnern uns daran, was die vermögenden Wessies nach der Wiedervereinigung an Luxussanierungen und Spekulationen allein in Dresden, Leipzig und Weimar mit Unterstützung der Treuhand durchgezogen haben.“
  Goerz bewegte eine Weile schweigend seinen mächtigen Schädel mit der Einsteinmähne hin und her. Dann grinste er schüchtern wie ein Schuljunge, der seinen Lehrer in einer Mischung aus Respekt und Erkenntnis um einen Gefallen bitten will:
  „Ich weiß, wir haben in Deutschland die Sitte, dass die Aufforderung zum vertraulicheren Du vom Älteren auszugehen hat. Wir beide - glaube ich - lassen uns mit dem Duzen wohl auch aus einem gewissen Misstrauen heraus immer noch mehr Zeit als andere. Aber ich möchte hier und jetzt etwas zum Ausdruck bringen, was mir schon seit einiger Zeit klar ist. -  Bernhard Kleiner, Sie haben einen außergewöhnlichen Charakter und Sie sind ein inspirierender Quell der Weisheit. Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mir das Du anböten.“

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen