Freitag, 6. Juli 2012

Das Spiel der Spekulanten

Castellinaria Kapitel 12



  War der Lenz durch sein Unwesen doch so etwas wie ein Katalysator für Castellinaria gewesen – oder eher eine Art Reaktionsbeschleuniger?
Indem er sich nicht ganz freiwillig von dem Burgberg zurückzog, öffnete er den Wegelagerern, die an den Geldflüssen des neuen Europas lauerten, jedenfalls ein weiteres Feld. Eine zweite, diesmal viel breitere Invasionswelle von Spekulanten rollte nun auf die höher gelegenen Bergdörfer Liguriens zu. Sie erfasste vor allen auch das durch die neue Schnellstraße im Tal dem Meer näher gerückte Castellinaria
  Das Jahrzehnt der Habgier hatte zur Jahrtausendwende und bis zum Anschlag auf die Twintowers des World Trade Centers einen sich selbst erhöhenden Menschenschlag von Gewinnlern, Spekulanten und Raffern in die schönsten Regionen des alten Europas geschwemmt. Sie nutzten vor allem die Gier der Neureichen, die ihr langes kommunistisches Darben hinter dem Eisernen Vorhang mit einer Art Hochgeschwindigkeitskapitalismus wett zu machen hofften. Über Nacht waren die in der Lage, jeden Preis für aufgestaute mediterrane Träume zu bezahlen.
  Das westliche Ligurien, das nach den beiden Weltkriegen irgendwie im Windschatten diverser Wirtschaftswunder weitgehend unbeschadet ausgeharrt hatte, geriet nun auf einmal auf die Landkarte spekulativer Begehrlichkeiten. Die Toskana war zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend abgegrast. Die Cote D’Azur -  vor allem zwischen Nizza und Menton – durchbrach bereits die ökologisch vertretbare Bebauungsdichte, also schwappte das Geld nun ins Hinterland von Bordighera und Sanremo und begann den küstennahen Blumen- und Gemüsegürtel in Richtung Imperia zu verdrängen.
  Der große Rahmen der Veränderung war beispielhaft am alten Hafen  von Imperias Ortsteil Oneglia fest zu machen:
  Im Jahr 2000 vermittelte er noch den morbiden Charme des Industrie-Zeitalters. Wie Urzeittiere standen die auf Schienen beweglichen Riesenkräne an den Kais und die Gleise des Güterverkehrs führten noch direkt zu ihnen hin. Gebraucht aber wurden beide kaum noch. Große Frachter legten schon längst nicht mehr an. Den kleinen Kümos, die Oliven-Schrot zum Verschneiden des ligurischen Öls aus  Nordafrika herüber brachten, reichten die zwei restlichen Kräne…
  2007 lagen bereits die ersten Millionen-Jachten Bug voraus am Pier. Angedockt  an ultra modernen Versorgungseinheiten und mit unmittelbarem Blick auf die renovierte und in vielen neuen Farben erstrahlende historische Häuserfront, in der die einfacheren Appartements nun ab 300 000 Euro aufwärts kosteten. Eine wunderschöne „zona  divertimento“ war aus dem alten Hafen geworden und veränderte das vergnügliche Leben in dieser Stadt, die bis dahin eher das hässliche Entlein im Reigen der ligurischen Küstenorte war.
  Der kleinere Rahmen der Veränderung wurde 600 Meter höher rund ums Kastell von Castellinaria gezogen: Allerdings vollzog sich der Wandel der Zeit dort mit mehr Zeit beim Wandeln. Denn je länger es dauerte, desto mehr Gewinn versprach bei den rasant steigenden Preisen unten das umsichtige  Engagement oben. Auch die restlich verbliebenen Ruinen des Ortes erfuhren daher nun nach und nach ihre Wiederauferstehung als kapriziöse Wohnobjekte. Wobei gar nicht mehr zählte, ob die Gemäuer einst jemals als Wohnraum für Menschen gedacht gewesen waren. Ehemalige Tierställe, Speicherräume für die Olivennetze und die leeren Glasflakons avancierten über Nacht zu romantisch rustikalen Ferienwohnungen. Ja sogar der örtliche Ölmüller, der Frantoio, gab sein verwinkeltes, mittelalterliches Bogengewölbe auf, um einem aufstrebenden Künstler stilvoll und preislich absolut überzogen Wohnung und Atelier zu bieten.
  Gegen die neuen Bauherren hatte vergleichsweise sogar der Lenz noch einen gewissen Ethos bei der Renovierung gehabt. Die Devise der neuen Spekulaten war es, schnell zahlungsbereiten Sonnen-Sehnsüchtigen eine Art potemkinsches Dorf vorzugaukeln. Wie sehr sich die Geschichte im zaristisch russischen Sinne wiederholte, sollte das vorläufige Ende dieser Geschichte noch zeigen.
  Eines Tages war nach Jahren der Abwesenheit „la Dottoressa“, die Dröse also, wieder mit einem schicken Mann an der Hand zur Piazza hinauf gestöckelt. Sie hieß  jetzt allerdings nicht mehr Dröse, sondern Gogel. Aber der Spitzname „la dottoressa“ blieb ihr noch eine Zeit lang, obwohl sie nie eine Uni von innen und „akademische Grade“ allenfalls auf diversen Liebeslagern beim Ausüben seltener Körperstellungen erworben hatte. Das alte Prinzip „was du dir erheiratest, musst du dir nicht erarbeiten“ hatte sie jedenfalls erneut mit zusätzlichem, krisenfestem Wohlstand versorgt. Zu dem trug nämlich ihr neuer, fast ein Jahrzehnt jüngerer Prinzgemahl mit der Kaltschnäuzigkeit einer just beendeten internationalen Banker-Karriere bei.
  Patrik Gogel sah die Piazza und das hufeisenförmige Ensemble rund um die Fontana, und sein Midas-Blick verwandelte es vor seinem geistigen Auge in pures Gold: die Rudimente vom Castell mit dem gegenüber liegenden Haus der „Francesa“, die Metzgerei aus dem vorvorigen Jahrhundert samt Zerwirkgewölbe und die dazwischen gequetschte Kapelle. Innerhalb von Sekunden hatte er die Summe im Kopf, die er noch herausschlagen würde, selbst wenn er seiner Königin quasi als Abfallprodukt auch wieder eine neue, hochherrschaftliche Residenz – diesmal aber am Meer - kaufen würde.
 
  Die ehemalige „dottoressa sesso“ jedenfalls war nun voller Inbrunst und Leidenschaft Bankiersgattin Gogel. In Erkenntnis eigener fortschreitender Reife hatte sie sich, um den Altersunterschied auszugleichen, in diesen Jahren einen gewagten Farb-Code verschrieben. Eine Vorliebe für den Farbton Purple sollte visuell das anregen oder erregen, was die unsichtbaren und immer noch reichlich verschütteten Botenstoffe nun nicht mehr so hergaben. Obwohl sie dazu auch noch signalisierte, vollen Körper-Einsatz leisten zu wollen, blieb allen außer Patrik Gogel nicht verborgen, dass das ganze immer mehr zu einer Parodie auf Laszivität geriet.
  Halt, das stimmt nicht ganz. Johannes Goerz, der sie ja nicht von früher kannte und - gleich alt – die Tragik nachlassender sexueller Attraktivität am eigenen Leib nachvollziehen konnte, fuhr vom ersten Blick voll auf sie ab. Er nannte sie unpassend  My Purple Heart, schenkte ihr CDs von Deep Purple und ein Video von „Jimmy plays Monterey“ auf dem Hendrix die lange Version von Purple Haze zum Besten gab. Die purplefarbene Gel-Frisur, die langen, künstlichen Finger- und Fußkrallen sowie dazu passend Lippenstift und hauchzarte Jeans aus Satin oder Saffian im gleichen Farbton lösten bei dem Schreiberling auch noch ganz andere vorpubertäre Reaktionen aus.
  Gogel, der Goerz aus gemeinsamer beruflicher Vergangenheit kannte, boten diese jedenfalls die Initialzündung  für ein Bomben-Geschäft. Er nutzte das Überreizen seiner welkenden Venusfalle, indem er sie noch einmal zu voller Blüte anstachelte. Obendrein hatte Frau Gogel aber nicht nur ein Händchen, oberflächliche Verschönerungen an der eigenen Person vor zu nehmen. Was sie mit wenigen Tricks aus dem Haus der „Francesa“ bis zum Ablauf der Spekulationsfrist gemacht hatte, war innenarchitektonische Bauernfängerei vom feinsten. Goerz, der die Trennung von seiner Familie gerade hinter sich hatte und dessen offene Wunden eines über Nacht von Geschäfts- und Vertragspartnern brutal herbei geführten Buyouts nicht verheilen wollten, war zudem ein willfähriges Opfer.
  Er war einen Sommer lang von Port Bou an der spanisch-französischen Grenze nach Porto Venere am Ende der Cinque Terre entlang  des Mittelmeers gereist, um sich in selbstmitleidiger Larmoyanz einen Platz zu suchen, an dem er sterben wollte. Als ihn Gogel am Handy erreichte, war er schon dabei, unverrichteter Dinge in eine Heimat ohne Heim zurückkehren:
  „Suchen Sie immer noch ein Haus im Süden?“
  „Ja. Allerdings wollte ich gerade aufgeben.“
  „Wo sind Sie denn im Moment?“
  „In Porto Venere am Hafen. Preise haben die hier!“
  „Was wollten Sie denn anlegen?“
  „Na ja, maximal 300 000 Mark. -  Renovierung und Umbauten inklusive!“
  „Bei unserem Haus könnten Sie ohne weiteres sofort einziehen.“
  „Wieso wollen Sie denn verkaufen?“
  „Meine Frau will unbedingt einen Garten. Ein älterer Herr verkauft sein Haus hier am Ortsrand - eine Gasse weiter. Wir wären Nachbarn. Schauen Sie sich’s an! In weniger als drei Stunden könnten wir hier auf unserer Terrasse bei einem eiskalten Vermentino den Sonnenuntergang genießen. Mit dem Preis werden wir uns dabei sicher einig.“
  „Wo sind Sie denn?“
  „In Castellinaria oberhalb von Imperia. Mitten in einem Kastell umgeben von endlosen Olivenhainen. Es wird Ihnen die Sprache verschlagen.“
  „Castellinaria? Heißt das nicht sinngemäß Luftschloss? – Wenn das mal kein böses Omen ist…“, lachte Goerz  mit überzogener Heiterkeit.
 
  Gogels Kalkül ging auf. Die spektakuläre Aussicht von seiner Terrasse über vier Täler und ein Dutzend noch  tiefer gelegene Bergnester knockte Johannes Goerz an. Der Anblick von Frau Gogel jedoch schickte ihn  sinnbildlich auf die Bretter. Diese kaschierende Verplankung der Terrasse hatte die Purple Lady eigenhändig frisch schwarzbraun lackiert, um davon abzulenken, wie marode der Freisitz in Wirklichkeit war. Das Schwarzbraun kontrastierte obendrein genial ihre Purple-Aura.
 
  Anfang September saßen sie schon zu Dritt beim Notar, wo 150 000 Mark – der verbriefte und später ermittelte,  tatsächliche Wert – in Form von registrierten Bankschecks über den Schreibtisch gingen. Als der Notar kurz mal auf Toilette ging, ließ Gogel weitere 140 Tausender in seinem Aktenkoffer  verschwinden. Goerz  hatte sie ihm, in der Auffassung ein gutes Geschäft gemacht zu haben, nach tolerierter, alter italienischer Steuer-Sitte  bar - und für  Gogel natürlich schwarz - mitgebracht.
  Am  11. September flogen die Flugzeuge ins World Trade Center. Am 12. November kam ein Kälte-Einbruch und es begann zu regnen; vier Tage wie aus Eimern. Die angeblich neue Gasheizung gab ihren Geist auf. Wasser brach über die Terrasse und das Treppenhaus ins Esszimmer und riss die halbe Decke samt der Verschleierung aus billigem Samt mit sich. Ein Wasservolumen von einem Dutzend randvoller Badewannen musste aus dem Stockwerk geschöpft werden. Von den ungezählten Litern, die in die neunzig Zentimeter dicken Trockenmauern eingedrungen waren ganz zu schweigen. Aber dabei konnte Johannes Goerz auch entdecken, dass die dekorativ gebogenen und ziselierten, schmiedeisernen Vorhangstangen unter den Saal hohen Decken in Wirklichkeit an den Enden gold lackierte, schwarz angemalte Armiereisen waren.
  Zu Weihnachten gab es passend auch noch ein sakrales Erlebnis. Als der Autor im Rundgewölbe seines Arbeitszimmers ein Regal aufhängen wollte, brach eine Teller große, vielschichtige Scholle Putz aus der Wand. Dahinter trat deutlich ein altes Fresko mit christlichen Motiven ans Tageslicht. Goerz war kein Experte, wie alt und wichtig es sein mochte. Aber italienische Denkmalschützer, die seine mittelalterliche Bruchbude nach geltendem Recht auf seine Kosten okkupieren konnten, bis die Provenienz gesichert war, wollte er sicher nicht konsultieren. Der Hand eines heiligen Mannes folgten unter seinen wütenden Hammerschlägen ein Stück Heiligenschein, der Turm einer brennenden Kirche, sowie ein Fluss mit Kähnen drauf. Und von  der Gewölbedecke fielen einige Engel aus einem überputzten, blauen Himmel oder ließen brüchig Federn. War das in den Anfangsjahren des Gemäuers vielleicht die Hauskapelle gewesen? Ein vermutlich unwiederbringlicher Schatz ging da Schlag auf Schlag verloren. Selbst den erklärten Agnostiker  Johannes Goerz überkam bei seinem Tun und aller Wut auf die Gogels massiv das schlechte Gewissen.
  Und dann galt ab 1. Januar 2002 der Euro…


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