Dienstag, 10. Juli 2012

Abbiamo una crisi

Castellinaria Kapitel 16


  Im Frühjahr 2009 saß Bernhard Kleiner auf seinem Lieblingsplatz, der Zitronenlaube auf der Zinne im Garten, und wartete zum zweiten Mal in seinem Leben auf die Russen. Diesmal aber wohl doch vergeblich. Und das war gut so! 
  So viel war seit jenem denkwürdigen Abend passiert, an dem er Goerz das Du angeboten hatte. Sie waren wirklich noch bessere Freunde geworden. Einem geheimen, unausgesprochenen Regelwerk folgend, rückten sie sich nie zu nah auf die Pelle. Aber beide sprangen ohne zu Zögern auf und ließen alles stehen und liegen, wenn es galt, Hilfe zu leisten oder für ein ernstes Gespräch bereit zu stehen.
  Sie waren zum Fischen aufs Meer hinaus gefahren, hatten am Haus herum gebastelt und herrliche Abende beim Kochen und Weinverkosten verbracht.
   Goerz hatte Kleiner endlich die Geschichte von Sali Besnik erzählt, und Kleiner die das Bild ergänzenden Dramen mit seinem kürzlich verstorbenen Schwager Lenz geschildert. Sie hatten gemeinsam diverse Kämpfe mit der regionalen Kataster-Bürokratie ausgefochten, weil seit deren Umstellung auf Computer kaum einer noch auf Anhieb sagen konnte, wofür und wie viel Steuern zu zahlen waren.
  Für zwei milde Winter und angenehm temperierte Frühlings- und Sommerperioden führten Sie das einst erträumte Leben von Edelrentnern. Aber dann war Bernhard von einem medizinischen Routine-Check in der Heimat nicht gleich zurückgekommen.
  Krebszellen in seiner Prostata hatten vollkommen unbemerkt bereits derart metastiert, dass er direkt aus der Praxis auf den Operationstisch  geschickt worden war. Der Totaloperation folgte eine langwierige Chemo, die nur ein Mann von seiner Willenskraft und Athletik derart stoisch  und äußerlich unversehrt wegstecken konnte.
 Goerz hatte sich – als ob der Sensenmann synchron arbeiten wollte – bei seinen Recherchen ungeahnt ebenfalls in Lebensgefahr sowie aus dem seelischen Gleichgewicht bringen lassen. In der Folge musste er sich der schwersten Depression seines Lebens erwehren. Ein im Nachhinein lächerlich dramatisiert erscheinender Selbstmordversuch mit seinem Boot schlug fehl. Und so schämte er sich unendlich, als er seinen tapfer kämpfenden Freund in wirklich  tragischer Lebenssituation unverzagt wieder traf.
  Innerliche Verletzlichkeit nach außen nicht zulassend, gingen die beiden fortan in einer rüden Knarzigkeit und einem überzogenen Galgenhumor miteinander um. Goerz, der Literaturbeflissene, hätte  das als „hemmingwaysche Macho-Scheiße“ eigentlich verachten sollen. Aber es half ihnen über die Anflüge von Hilflosigkeit hinweg

  Dass er sich unten herum neu orientieren musste, und dass der Harnblasen- und Schließmuskelbereich bei diesem Treppauf Treppab in Castellinaria erniedrigend zum Versagen gezwungen wurde, muss für Kleiner in den Monaten der Rekonvaleszenz  die Hölle gewesen sein. Goerz, jeglicher Behinderung anderer gegenüber verkrampft, überwand sich erstaunlicher Weise. Er überspielte zunehmend die eigene Unsicherheit im Umgang mit dem Freund, indem er ihn vielleicht mehr antrieb, als gut war. Das zwang ihn dann, Kleiner immer  wieder einzubremsen. Weil der kaum, dass es ihm besser ging, wie früher gewohnt, zupacken wollte. Wenn  er Bernhard gar nicht mehr Herr wurde, petzte er das unverfroren Traute, die mittlerweile wie eine Schwester für ihn war. Ja ihm Gelang es sogar, dass Don Bernardo nach geduldigem Zureden einen knorrigen Spazierstock aus poliertem Olivenholz als Absicherung gegen Fehltritte akzeptierte.
 
  Eigentlich machte dieser Stock erst den wahren Don aus Kleiner. Denn fortan erteilte und verteilte er Belehrungen und Hinweise bautechnischer Art, indem er mit diesem auf Schwachstellen, Pfusch oder versteckte Mängel deutete. Das gab ihm irgendwie eine Respekt einflößende Distanz.
  Indem er niemanden mehr zur Seite schob, um immer gleich selbst Hand anzulegen, wuchs ihm sogar  noch mehr Kompetenz und Souveränität zu.
  Der knotige Stock wäre aber beinahe  auch noch zur Schlagwaffe geworden, als dieser junge Mann im schwarzen Designeranzug begann, mit seinem Klemmbrett durch die Gassen zu spazieren.
  Der Schweizer Jungmann in Diensten einer diffusen Touristik- und Immobilien-Holding schwadronierte mühelos vielsprachig durch die historischen Gemäuer und machte Angebote, die eigentlich niemand ablehnen konnte. Er war bestens orientiert über Besitzverhältnisse, Nutzungszeiträume und die Standards bei der Ausstattung diverser Häuser. Er wirkte wie der Frontsänger einer Boygroup mit seiner Gelfrisur und den blondierten Haarspitzen, und gerade die etwas älteren Nordeuropäerinnen verspürten bei seinem Scharwenzeln ein Prickeln in tot geglaubten Körperregionen. Neben den unausgesprochenen, von Testosteronfülle begleiteten Versprechungen war aber auch das rein geschäftliche Angebot verlockend:
  Verkauf des Anwesens zu einem Preis erheblich über aktuellem Marktwert und geknüpft an ein noch fünf Jahre geltendes Gratis-Wohnrecht für insgesamt jeweils acht Wochen pro Jahr; allerdings außerhalb der Hauptsaison-Monate.
  Als Traute dem smarten Jüngling erstmals die Tür aufmachte, war sie zuerst äußerst abweisend und misstrauisch, aber angesichts der jüngsten Ängste, die sie um ihren Bernhard ausgestanden hatte, war ihr das Ganze doch des Überlegens wert. Zumal Traute – was sie Bernhard bislang verschwiegen hatte – auch einen Grund hatte, die ihnen noch verbleibenden gemeinsamen Tage in Castellinaria als gezählt zu betrachten:
  Weil sie sich so gefreut hatte über die quasi normalen Werte ihres Mannes hatte sie auf der Sagra zu Ehren der Santa Madalena auf dem Dorfplatz des Capoluogo hemmungslos Masurka getanzt. Franco hatte sie mit seinem großen Professorenkopf den Takt vornickend, herumgewirbelt, was seine Schweißdrüsen hergaben, - sein Deo allerdings nicht hielt. Aber wer wird schon die Nase rümpfen, wenn die Live-Band unermüdlich schmalzt und die Juniluft selbst um Mitternacht noch dreißig Grad hatte? Zudem entspannte der eiskalte Vermentino Trautes immer noch außerirdische Schönheit. Die fortgeschrittene Osteoporose der Garbogöttlichen allerdings ließ sich nur bis zur ersten längeren Pause betäuben. Den Wallfahrerweg hinauf nach Castellinaria schaffte sie im Morgengrauen nur, weil sie zu beschickert war, um die Schmerzen zu spüren. Den restlichen Sommer jedenfalls konnte sie ihre liebgewordene Gartenarbeit nur noch unter unmenschlichen, heldinnenhaft  unterdrückten Schmerzen verrichten. Was letztlich auch dazu führte, dass sie immer häufiger das verlockende Angebot des Schweizer Akquisiteurs zur Sprache brachte.
  Don Bernardo von neuer Lebenskraft beseelt, wollte von alldem nichts wissen und geriet in der Folge derart in Wut, dass er dem jungen Mann eines Tages auflauerte und ihn wild seinen Olivenholzstock schwingend über die Piazza trieb. Der Charmebolzen, derlei rüde Reaktionen bislang bei seiner erfolgreichen Akquise nicht gewohnt, ließ vor Schreck Klemmbrett und Präsentationsmappen fallen. Goerz sammelte alles ein, ging aber weder dazwischen, noch ergriff er Partei, denn schon auf den ersten Blick erkannte er, dass hier etwas ganz Großes im Werden war.
  Goerz nötigte die beiden Streithähne auf die Steinbank an der Fontana. Gab das persönlich vertraulich wirkende Klemmbrett als erstes zurück. Allerdings nachdem er schon registriert hatte, dass einer der Ersten auf der Liste der Verkäufer Francos Enkel Marco war. Eine der Mappen hatte er für sich behalten und begann sie zu studieren. Nicht ohne vorher mit einer herrischen Geste jedweder weiteren Gemütsäußerung der Kampfhähne  Einhalt zu gebieten.
  Der Profi erkannte nicht nur die perfekte Präsentation, sondern auch den genialen Ansatz hinter der Idee:
  Auf dem Deckblatt war ein Screenshot von Google Earth zu sehen. Er war mit einem Graphikprogramm derart brillant nachbearbeitet, dass Goerz in der Draufsicht von Castellinaria deutlich auch seine Dachterrasse samt Schirm und Markise erkennen konnte. Don Bernardos hängender Garten wirkte aus der Satelliten-Perspektive so spektakulär wie in natura. Als Goerz ihm das zeigte, schien sich die wütende Spannung für einen Moment zu lösen.
  Auf den folgenden Seiten wich die Google-Darstellung immer mehr einem architektonischen Relief-Plan vom zukünftigen „Castello in Aria“. Die großen Häuser des Ortes wurden außenarchitektonisch vereinheitlicht als Residenzen hervorgehoben, die kleineren als Ferien-Appartements. Die im Privatbesitz verbleibenden Häuschen der Einheimischen, die nicht verkaufen wollten, waren mit Personaggio betitelt, Personal!
  – Es würde also auch um neue Arbeitsplätze gehen, und wohl deshalb hatte auch die Gemeinde ohne Widerstand ihr Legat am Anwesen der ehemaligen Klosterschule abgetreten. Die hatte ja mangels Kindern  seit den 1970ern immer nur leer gestanden. Das Atrium mit  Kreuzgang und den hohen Schlafsälen sowie den beiden Spielplätzen an der Burgmauer firmierte auf den Prospektseiten bereits als künftiges Kulturzentrum mit Galerien und Bühnen für Musik- und Theater-Darbietungen. In Standaufnahmen von Computer-Animationen wurden die Gassen mit  elektrischen Golf-Carts befahren. Sämtliche Unstimmigkeiten an den Fassaden waren virtuell bereits angeglichen. Das galt vor allem für die frischen Farben aller Häuser, die im Plan einzigartig harmonierten und ganz besonders für das Castello.
  Goerz sah den Hinweis auf eine interaktive Website und bat die beiden Männer über die Piazza spontan in sein Arbeitszimmer, wo er seine Computer online hatte:
  Die virtuelle Fahrt durchs Dorf samt Anreise – oder sollte man besser sagen Anflug – war noch spektakulärer. Der Cyber-Hubschrauber hob am neuen – hier digital schon fertig gestellten - Jachthafen zwischen Oneglia und Porto Maurizio ab, umrundete den mittelalterlichen Kirchberg und kletterte hoch über den Monte Aquarone und das Imperotal, um die Totale über die Valle d’Olio zu öffnen. Im Landeanflug auf  den Heliport des zukünftigen „Castello in Aria“ nahmen die Cyberspace-Reisenden zur Kenntnis, dass der Ort hier schon von einem Par-3-Neunloch-Golfplatz umgeben war. In der Realität würde der wohl nur von einem fanatischen Freak  mit grenzenlosen Finanzen aus den Fasce und Oliven-Terrassen heraus gegraben werden können. Aus den beiden Spielplätzen der Klosterschule war eine römisch anmutende Pool- und Spa-Landschaft geworden…
  Am Hubschrauber-Landeplatz oberhalb und ein wenig abseits des Ortes in einer rundum geschützten Bodensenke (sie wurde Lardo - also Speck - genannt, weil  dort vor Zeiten ausgewilderte Hausschweine lebten) wurden die Gäste der Website mit einem Golf-Cart zum Einchecken ins Schloss gebracht. Es diente hier als stilvolles Verwaltungszentrum vor dem das animierte Daten-Ebenbild des jungen Schweizers, auf Mausklick  einen kleinen Einführungsvortrag in verschiedenen Sprachen hielt. Als die Fahrt dann weitergehen sollte, stoppte Goerz sie per Mausklick. Sein Blick verharrte auf dem Haus der Francesa – also seinem.
Dort hatte die Text-Einblendung das „Zentrum für Werbung und Kommunikation“ angesiedelt.
  „Das ist mein Haus“, bellte er empört in Richtung des Schweizer Smartys.
  „Das wissen wir. Wir wissen auch, dass es Ihnen wirtschaftlich nicht so gut geht, und der Job wäre ideal für Sie bis ins hohe Alter. Sie bräuchten nicht zu verkaufen und wir zahlten Ihnen noch dazu Büro-Miete…“
  „Also mir reicht es jetzt“, knurrte Kleiner und verließ wechselweise wachsbleich und wutrot werdend das Haus seines Freundes. In der stets zur Piazza hin offenen Tür drehte er sich noch einmal um und sagte ganz leise und eisig:
  „Ihr könnt kaufen, wen und was ihr wollt. So lange ich hier lebe, bekommt ihr mein Haus nicht!“
  Goerz indessen war bestürzt, dass er zu so einer drastischen Aussage spontan nicht fähig gewesen wäre. Die Verlockung, doch noch einmal im Leben wichtig zu sein und für den Austrag hier oben auch noch bezahlt zu werden, drang in seine Nervenbahnen wie ein schleichendes Gift. War nicht „in den Stiefeln zu sterben“ immer eine seiner Visionen gewesen?
 
  Offenbar weil er sich nicht sofort auf dessen Seite geschlagen hatte, war das Verhältnis zwischen Johannes und Bernhard - unausgesprochen zwar – in den restlichen Sommer- und Herbstwochen belastet. Kleiners Stimmung wurde natürlich nicht besser, als er erfuhr, dass auch Häubel sein Anwesen am unteren Ortseingang verkaufen wollte. Der Sindaco hatte ihm das Baurecht auf einer seine Fasce eingeräumt, und die Holding würde ihm zum Selbstkostenpreis dort eine Villa hinbauen, so dass noch ein ordentlicher Teil des Verkaufserlöses für die Enkel übrig bliebe. Außerdem war ihm das exklusive Recht angeboten worden, mit seinen und den Produkten anderer, einheimischer Bauern einen gesponserten  Bioladen an der Piazza zu betreiben.
  Die größtmögliche Wut und das absolute Stimmungstief lösten jedoch bei Bernhard Kleiner die weiteren Recherche-Ergebnisse seines dann wieder Freundes aus.

  Der touristische Multi  - so  hatte Goerz herausgefunden - wurde von einem Konsortium namhafter Schweizer Banken getragen, die aber offenbar wiederum nur die Geldmacht eines in London ansässigen russischen Oligarchen (dessen Riesen-Jacht samt Helikopter bereits im Hafen lag) kaschieren durften. Der trat natürlich zunächst nicht einmal annähernd selbst in Erscheinung. Goerz kam nur drauf, weil er im Laufe früherer,  letztendlich lebensbedrohender Recherchen schon einmal auf die Namen zweier auch in diesem Umfeld wieder beteiligter Institute gestoßen war. Das eine war eine Art Islamische Bank für Wiederaufbau mit Firmensitz in Dschidda und das andere ein Private Equityfund, der auf Grand Cayman in der Karibik ansässig war. Trotz oder gerade wegen der internationalen Immobilien-Krise und der Liquiditätsengpässe selbst größerer Banken wurden in diesem Dreieck während der folgenden Monate Liegenschaften mit massiven Geldmitteln aus sehr diffusen Quellen aufgekauft und  bisweilen zu Spottpreisen übernommen. Wen wunderte es da doch, dass man auch in Castellinaria so großzügige Angebote machte. Vergleichsweise "Peanuts"...

   Aber dann waren die Billionen von im Nebel der Immobilien-Spekulation in den Sand gesetzten Dollar der weltweiten Finazkrisen doch zu etwas gut: Sie entzogen den neuen, luftschlössrigen Plänen der Spekulanten in Castellinaria jegliches Fundament und waren über Nacht nur noch Wolkenschiebereien.  Andere großmannssüchtige Vorhaben in den Emiraten waren ja schon im Bau und verlangten vorrangig nach Schadensbegrenzung. Der Smarty aus der Schweiz verschwand heimlich mit eingezogenem Schwanz und letztlich leerem Klemmbrett. Wer wann wie viel Geld verloren hatte, wurde peinlich berührt verschwiegen.

   Fünf Jahre sind inzwischen vergangen, und Castellinaria hat wieder seinen alten gegenläufigen Rhythmus aufgenommen. Die Ruinen-Baumeister hat das Zeitliche gesegnet. Im wahrsten Sinne! Denn unterm Strich konnten sich deren Lebensbilanzen - auf welchen Zickzack-Wegen auch immer erreicht - durchaus sehen lassen. Selbst wenn jenen der Ruhm im größeren Rahmen versagt blieb, so hatten sie etwas geschaffen, was den wenigsten beschieden war: Sie hatten ein historisches Ensemble für weitere Generationen fit gemacht. Ja, man war fast geneigt zu sagen "so wie die Natur das Menschlein überlebt, so wird Castellinaria gegen die Veränderungen unten am Meer weiter bestehen.  Auch wenn sich die Dinge - wie stets im Laufe der Geschichte  -vermutlich wiederholen werden... 
  Die dauerhafte in ihren Folgen nicht absehbare Euro-Krise förderte aktuell die Flucht der Italiener ins Beton-Geld. Sie holten sich Castellinaria Haus um Haus von den "Parttime-Lovers" jenseits der Alpen  zurück, um in unsicheren Zeiten ihren Ruhestand hier zu leben. Innen- und außenarchitektonische Schmuckstücke gingen - wie einst weit unter Wert  - an neue Eigentümer. Und das ist keine zynische Gerechtigkeit, sondern einfach wieder einmal der Lauf der Zeit.
   Das Bewahren von Einzigartigkeit ist hoffentlich nun auch bei jenen angekommen, die la nostalgia bisher kaum in ihre Seelen lassen wolltenCastellinaria wird auch in Zukunft weiter so leben – wie es sich seine Bewohner  individuell erträumen. Und wer weiß? In ein paar hundert Jahren ist dieser Zauberberg vielleicht das einzige, was vom großen paneuropäischen Traum übrig geblieben ist.
    

                                                  E N D E

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