Donnerstag, 12. Juli 2012

Sperrmüll

Fortsetzung der regulären Burgbriefe


In der scharfen Kurve auf der Straße hinauf zu unserer Nachbar-Gemeinde lauert im Verborgenen ein kleines Naturspektakel. In Jahrtausenden hat dort der Bach der vom Ginster-Pass kommt, eine kleine Kette von Gumpen gebildet, die je nach Laune Gombi oder Laghetti genannt werden. Die Autofahrer konzentrieren sich natürlich auf die Passage und möglichen Gegenverkehr - genau wie die Radler, die den letzten Kilometer dieser lohnenden  Bergstrecke vor sich haben, oder  umgekehrt sich mit mehr als achtzig Sachen  auf der Talfahrt in den Grenzbereich ihrer dünnen Felgen begeben. Zudem wuchert eine Art dichter Dschungel, der die Sicht verdeckt, bis über den Straßenrand. Kurz, nur Eingeweihte kennen diesen Ort und wollen ihn auch nicht gerne teilen. Deshalb verbreiten sie bei Leuten, die auf der Suche nach einem besonderen Badespaß sind, gerne auch Horrorgeschichten von sich sonnenden Vipern und saufenden Wildschweinen.

Ich selbst habe besondere Erinnerungen an diese Naturschönheit, weil sie mich - ganz im Gegenteil - bei einer Berg-Erkundung in den ersten Jahren meines Hierseins vor schlimmeren Folgen bewahrt hatte. Damals konnte ich noch richtig trainieren und war an einem Herbst-Nachmittag mit Langlauf-Stöcken zu einem Geländelauf auf dem Bergrücken aufgebrochen. Weit oberhalb vom Scheitelpunkt der Straße war ich in das Kreuzfeuer einer Jagdgesellschaft geraten. Da ich dummerweise erdfarbene Trainingskleidung trug, befürchtete ich, mit einer Wildsau verwechselt zu werden. Ich fragte also einen der Treiber, welcher Weg für mich wohl am sichersten sei. Er wies auf einen breit ausgetretenen Trampelpfad, der nahezu senkrecht ins Tal hinunter führte und äußerst rutschig war.

Ich verstehe wenig von Jagd und Wildtieren, aber mit dem Spitznamen Obelix sollte man zumindest eine Wildschwein-Suhle erkennen, wenn man denn in einer landet... Die Suhle war mitten im Bach auf einer Art Plattform, von der das Wasser in undurchdringliches Grün hinunter rauschte. Aber auf der anderen Seite begannen ja schon die historischen und aufgelassenen Oliven-Terrassen. Seit vielen Jahrzehnten werden sie nicht mehr bewirtschaftet. Manche Trockenmauern ragen mehr als 15 Meter hoch und sind teilweise auch schon eingestürzt. Dann bilden sie bis zum oberen Rand der Nächsten Terrasse einen kaum auszurechnenden, überwucherten Rutschkeil, der die Passage eventuell sogar unmöglich macht.

Auf so einem passierte mir dann das Missgeschick: Weil ich glaubte die grüne Umkränzung sei stabil genug, trat ich drauf und verlor sofort den Halt, denn es handelte sich tatsächlich um von Parasiten durchgrüntes Dornengestrüpp. Glück im Unglück: Es fing mich auf und umklammerte mich an den Beinen. Anderenfalls wäre ich sofort tot gewesen. So hing ich mit dem Kopf nach unten etwa acht Meter über dem ausgewaschenen Sandsteinrand einer der oberen Gumpen.

Wie ich es geschafft habe, mich in eine Position mit den Füßen nach unten zu manövrieren ohne abzustürzen, kann ich nicht mehr in Erinnerung rufen. Wie ich auch nicht weiß, wann ich meine Pulsuhr samt dem dazu gehörigen Brustgeschirr gesprengt habe; das alles aber mit fest an die Handgelenke gezurrten Langlauf-Stöcken!

Ich wusste, dass ich in die schiefe Ebene springen musste, wenn ich überhaupt eine Überlebenschance haben wollte. Ich riss an den Ranken, die Zentimeter um Zentimeter nachgaben, ehe sie dann doch plötzlich rissen. Urinstinkte, die mich ein Leben lang vor schweren Ski-Verletzungen bei Abfahrtsstürzen bewahrt hatten, schienen sich  zu automatisieren. Ich kam kurz auf die Füße und stieß mich mit einem Hecht ab, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie tief die Gumpe sein würde. Aber das Wasser schlug über mir zusammen, und der Kälteschock brachte mein Adrenalin wieder auf Normalpegel.

Aus Hunderten von kleinen Wunden blutend, stellte ich fest, dass ich von einer Falle in die nächste geraten war. Das Wasser aus der Gumpe verschwand im nächsten Abgrund und rund herum war wieder Dornengestrüpp. Als ich es irgendwie durch das Gewucher zur nächsten freien Stelle geschafft hatte, raschelte es heftig neben mir.

Ein mächtiger Schweißhund, der der Jagdgesellschaft wohl ausgebüchst war, versperrte mir diesen Ausweg. Er musste das Blut gerochen haben. Was man so von Mastinos hört, standen meine Chancen nicht gerade günstig. Also setzte ich mich erst einmal hin und erprobte mein maues Italienisch an dem Ungetüm. Aus dem heiligen, aus allen Wunden blutenden Sebastiano wurde also ein Tiersprache seufzender San Francesco. Aber das funktionierte. Denn anstatt mich zu zerfleischen, fing das Muskelpaket an, mich zärtlich mit seiner ellenlangen Zunge abzuschlabbern.

Eine gut anderthalb stündige Schicksalsgemeinschaft war so entstanden. Auch wenn ich nicht jedem Durchschlupf meines vierbeinigen Wegweisers folgen konnte, kam er doch auf Umwegen immer wieder zu mir, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Zwei, drei Gumpen suchte ich noch auf, um im kalten Wasser meine Blutungen zu stillen. Als ich die Straße schon sehen konnte, bellte der Jagdhund zweimal und verschwand genauso geisterhaft, wie er aufgetaucht war. Ich hätte vielleicht an eine phantastische Sinnestäuschung aufgrund der Stress-Belastung geglaubt, wurde aber dann von der rauen Realität belehrt: In der Kurve stand ein aufgelöster Hundehalter mit einem Sprechfunkgerät. Als er mich in meiner Eigenschaft als blutender und halbtoter Waldgeist auf sich zu straucheln sah, fragte er nicht etwa, ob er mir helfen könne, sondern herrschte mich an: "Dov'è mio cane?"

Angesichts der Lupara in seiner Armbeuge zog ich ein gezischtes "Arschloch!!!" dem ihm  verständlicheren "culo!!!" vor und erbrach mich über das jenseitige Brückengeländer. Dabei erlebte ich das eigentliche Drama dieses Tages: In Reichweite der Straße war der herrliche Torrente zugeblockt mit Dutzenden ausrangierter Waschmaschinen, Kühlschränke, halber Autos und sonstigem Wohlstandsmüll...

Das Erlebte liegt jetzt mehr als ein Jahrzehnt zurück. Mittlerweile gibt es Gemeinde-Verordnungen mit drastischen Konsequenzen für Sünder. Rifiuti ingombranti - wie Sperrmüll auf Italienisch heißt - muss jetzt in dem nagelneuen Wertstoffhof, den die Gemeinde für viel Geld gut zugänglich im Tal an der Schnellstraße samt riesen Büro eingerichtet hat. Wer den mittlerweile gesäuberten Torrente noch wie ich in Erinnerung hat, geht gerne zur Gemeinde und holt sich bei Teodora die notwendigen Papiere für das legale und kostenfreie Entsorgen. (Was an heißen Tagen gerne mal mit der Darbietung ihres prachtvollen Dekolletés belohnt wird - als Argument für Machos, das Richtige zu tun...)


Aber den Burggeistern hier oben haftet da diesbezüglich wohl immer noch etwas ewig Gestriges an. Als ich neulich auf dem Weg zum Auto mit einer Schubkarre voller kaputter Elektrogeräte beim alten Franco vorbei jongliere, hält der mich doch für komplett durchgeknallt, weil ich zum Wertstoffhof will: "Stell's doch an die Mülltonnen!"
Tatsächlich standen da schon ein alter Fernseher, ein mannshoher Kühlschrank und zwei Auto-Batterien. Die Müllfahrer der Gemeinde sind eigentlich angewiesen, die Sachen stehen zu lassen.Aber in diesem Ambiente, noch dazu zur Ferienzeit, sind sie dann doch immer wieder einmal nachsichtig


Ich denke da lieber an den Torrente, an das Jahrzehnt, das ich seinen kühlen Gumpen verdanke und fühle mich nach dem Besuch des Discarico einfach  nur gut.

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