Sonntag, 8. Juli 2012

Euros Gnaden

Castellinaria Kapitel 14



  Und dann galt ab 1. Januar 2002 der Euro und sorgte für einen Wertewandel sowie höchst unterschiedliche Wahrnehmungen bezüglich seiner wirtschaftlichen Wirkung. Das traf sicher überall in Europa zu, war aber auf dem Zauberberg von Castellinaria mit seinem verlangsamten Raum-Zeit-Kontinuum und den höchst persönlichen Perspektiven seiner Bewohner geradezu exemplarisch. Durch den Nationen-Mix war hier quasi ein Musterzoo oder besser ein Reservat für unterschiedlichste Wirtschaftswesen europäischer Herkunft entstanden. Je nachdem in welchen Biotopen sie aufgewachsen waren, gediehen sie jubelnd oder verkümmerten seelisch; jedwedes aber eigentlich ohne ersichtlichen Grund:
  Bernhard Kleiner war bedingt durch seinen Lebenslauf Vertreter einer raren, gegen diese Anwandlungen immunen Spezies. Das galt auch für die steinalten, immer schon hier angesiedelten „Gewächse“, die sich landwirtschaftlich selbst versorgten. Sie suchten höchsten bei schwersten Krankheitsfällen niedere Gefilde auf oder wurden meist erst nach weit über 80 Jahren harten Lebens im Sarg auf den Friedhof ins Tal gebracht.
  Die Gogels hatten zwar noch das Haus mit Garten gekauft, es aber sofort, nachdem sie es wieder in bewährter Manier dekoriert hatten, an eine Agentur zur Vermietung weiter gegeben. Im Übrigen aber waren sie gleich über die nur noch in den Köpfen vorhandene Grenze nach Frankreich entwischt und hatten von den Gewinnen in Castellinaria eine Villa auf dem Cap d’Ail  zwischen Monaco und Nizza erstanden. Bevor der Rest der Welt begriff, dass der Euro bald nicht mehr heimlich in Gedanken umgerechnet zu werden brauchte, kauften sie diese von verängstigten Amerikanern in Dollar auf der Basis von Franc-Umrechnung. 2007 sollten sie (wieder einmal fristgerecht und hübsch dekoriert) die Villa in Euro zur gleichen Summe verkaufen und das taten sie dann auch gleichermaßen bei dem Haus in Castellinaria.
  Natürlich bekam Johannes Goerz seine vermeintlichen Nachbarn niemals mehr zu Gesicht, um ihnen zumindest einmal die Meinung zu sagen. Der ehemalige Journalist gehörte also schon wegen seines baufälligen Domizils und der Tatsache, dass er nun weitgehend vom „Eingemachten“ leben musste, ganz sicher zu denen, die Gefahr laufen würden, zu verkümmern. Er entwickelte jedoch für das Phänomen des Euro-Wertwandels ein Ursachenschema, mit dem sich außer ihm auch andere Europa-Depressive gedanklich aus dem schwarzen Loch hätten hieven können: Das Pizza-Theorem.
  Das Pizza-Theorem zeigte einerseits die Machtlosigkeit des Individuums, machte ihm andererseits aber auch deutlich, dass es zumindest nicht allein von den Wirtschaftsmächten verarscht wurde – dass das Volk als Volkswirtschaft demnach immer  noch die Chance gehabt hätte, zurück zu schlagen:
  Der Euro war im März/April 2002 für die Italiener immer noch so ungewohnt, dass die Kaufhäuser und Laden-Ketten die Waren (zum Teil bis heute) auch noch mit Lire auszeichneten. Restaurants gestalteten ihre Menükarten nach diesem Vorbild, um zu suggerieren: Schaut her, nichts hat sich durch die neue Währung geändert. Aber der Euro war für den kleinen Mann eben ein schleichendes Gift. Drehbuchschreiber von Verschwörungsthrillern könnten rückblickend vielleicht einen Zusammenhang zwischen der Euro-Einführung, „Nine Eleven“,  Börsen-Crash, „America at War“ und dem damit verbundenen Angriff auf den Irak konstruieren. Tatsache war, dass das beidermaßen in Friedenskundgebungen und Kriegshandlungen engagierte Berlusconi-Italien mehr damit zu tun hatte, die regenbogenfarbenen „Peace“-Flaggen auf die Balkons zu hängen, als Preise zu kontrollieren.
  Der kleine Riss im Damm  gegen den „Teuro“ wurde durch eine Pizza-Kette verursacht. Die Schallgrenzen für Pizze lagen 2001 zwischen 6000 und 9000 Lire (etwa sechs bis neun Mark). Heimlich hatte sich im April der Euro-Preis für die „Margherita“, die nur mit Mozzarella, Tomaten und Basilikum belegte in der Regel billigste Version, mit 3,90 Euro von der alten Einstiegsmarke entfernt. Als sie erstmals die Vier-Euro-Grenze überschritt, schlugen die Italienischen Verbraucherschützer angesichts der Preissteigerung um 25 Prozent innerhalb dreier Monate erstmals Alarm und riefen zum landesweiten Boykott von Pizzerien,  Pizza-Bäckereien und -Lieferanten auf.
  Das funktionierte. Ein Wochenende lang aß Italien nur selbst gemachte oder tiefgekühlte Teigfladen. Es rutschte jedoch nur die Margherita unter die frühere Marke zurück. Die nicht so leicht typologisch zuzuordnenden übrigen Pizza-Kreationen mogelten sich weiter auf die Neun Euro zu oder schlichen sich im Jahr darauf gar schon darüber. Im Frühjahr 2008 kostete die Durchschnittspizza bei gleichem Lohn-Niveau und  EU-weit geringeren landwirtschaftlichen Erzeuger-Preisen mit Neun Euro nach nur fünf Jahren um jedenfalls 100 Prozent mehr.
  Das Theorem hätte übrigens ohne weiteres auch auf Deutschland als Schweinsbraten- oder in Österreich als Kaffeehaus-Theorem angewendet werden können… Der 1000Lire-Steh-Espresso war auf wundersame zwei Euro geklettert, aber da hatte dieses Genussraucher-Volk auch schon ohne jeglichen Widerstand und vor allen anderen EU-Mitgliedsstaaten die härtesten Restriktionen gegen Tabakqualm akzeptiert…
 
  Bernhard Kleiner wusste zunächst mit Johannes Goez, dem neuen, streitbaren Bewohner Castellinarias nichts anzufangen. Ihm fiel auf, dass dieser sich jedoch sehr schnell in seinem Umfeld zurechtfand, weil er ungeachtet seiner geringen Sprachkenntnisse auf die Einheimischen zuging und ihnen sichtlich bemüht zuhörte - wie ein Therapeut oder Seelsorger. Goerz signalisierte ihnen – anders als der beflissene Peter Häubel -  dass er mit ihnen leben, aber nicht um jeden Peis dazu gehören wollte. Man zollte ihm wohl  gerade deshalb schnell Respekt.
  Dieser wuchs auch, weil der Autor für Dienstleistungen und Reparaturen sein Geld strikt im inneren Zirkel der Gemeinde ausgab, selbst wenn er sich dafür manche Unzuverlässigkeit (zunächst durchaus bewusst) einhandelte. Aber irgendwann erträgt auch der dickste Nacken keine weiteren Schläge mehr.
   Der von ihm engagierte Baumeister war mitten im totalen Sanierungs- und Umbau-Chaos in Folge eines Herzinfarktes von der Leiter gepurzelt. Dadurch geriet dessen „banca di favore“, die Gefälligkeitsbank, in Schieflage. Mit den Lebensgeistern des „impresarios“ waren nämlich auch 15 000 per Handschlag a conto übergebene Euro entfleucht. Und unmittelbar darauf stellte sich heraus, dass die Baugenehmigung für eine Säulenreihe, die eine marode Mauer an der Dachterrasse nach Maßgabe des Verstorbenen ersetzen sollte, beim „Sindaco“ nicht eingeholt worden war.  Das bedingte eine Anzeige wegen Verstoßes gegen den mittlerweile sehr strengen Denkmalschutz.  Eine neue, kostenpflichtige Vermessung für das Katasteramt zuzüglich eines stattlichen Bußgeldes wurde fällig.
  Bernhard Kleiner war ein harter Mann, und nichts von dem, was seinem Landsmann widerfuhr, hätte ihn jemals emotional tangiert. Doch als er den Fleischberg eines Morgens heulend und zusammen gesunken durch die offene Haustür an seinem Küchentisch sitzen sah, trat er ungefragt und auch besorgt von der Piazza in dessen Haus.
  Goerz wischte sich verschämt die geröteten Augen und versuchte sich an einem Grinsen:
  „Ich gebe auf. Dieses Haus schafft mich. Das ist eine Sparbüchse ohne Boden. Und jetzt das!“
  Er wies auf die vor kurzem frisch gestrichene Küchendecke. Dort breitete sich zügig ein pechrabenschwarzer Fleck aus. Irgendwie war das ablaufende Wasser aus der Wanne des darüber liegenden Bades seit Jahren unbemerkt in einen stillgelegten, zu zementierten und total verrußten Kaminabzug geraten. Jahrhunderte Olivenholz-Befeuerung mussten sich in ihm abgelagert haben. Jetzt hatte sich das seit wohl geraumer Zeit zusickernde, sehr kalkhaltige Wasser einen Weg durch die Hohlräume der Mauern gebrochen und diese Melange war zusätzlich rabenschwarz oxidiert.
 
  Dies also war der Moment, in dem der legendäre „Ruinen-Bernd“ seine Wiedergeburt feierte, und es war auch der Beginn einer eigentümlichen Männerfreundschaft. Zwei vom Leben unterschiedlich geschundene Alpha-Wesen gingen zunächst eine Symbiose ein, die sicherlich keiner von beiden noch ein paar Jahre zuvor für möglich gehalten hätte. Der eher Manuelle und der ans Dominieren gewöhnte Delegierer – konnte das gut gehen?
  Instinktiv spürte Goerz die einfach strukturierte Kompetenz und den unerschütterlichen Mut zum Anpacken bei dem zehn Jahre Älteren und lieferte sich erstmals in seinem Erwachsenen-Leben einem anderen Menschen vorbehaltlos aus.
  Dank Euros Gnaden sollte dies eine der besten Entscheidungen seines Lebens werden. Mit „castorpschem“ (nach dem Zauberberg-Held entlehnte Charaktereigenschaft) , naivem Staunen nahm er in den kommenden Monaten die Urkraft wahr, die von diesem Zauberberg ausgehen konnte, wenn man sich nur bewusst auf ihn einließ. Es schien auch, als wolle jener seine Bewohner erst prüfen, ehe er sie dauerhaft als Residenten duldete.
  Schutthalden, Trümmer im Haus, Deckenkonstruktionen, die nicht hielten, was sie versprachen – das alles hätte den alten Johannes an den Rande eines Nervenzusammenbruches geführt. Jetzt war es ihm wurscht, wenn er sich einen Abend mal staubverkrustet und stinkend zum Schlafen niederlegte, weil das Wasser abgestellt bleiben musste. Jetzt war ihm auch egal, dass sein ramponiertes Vermögen stetig schrumpfte wie die von Signora Edda auf blitzenden Blechen zum Ausdörren auf dem Dach gegenüber ausgelegten Tomaten.  Jeden Morgen trat er  mit breiter Brust auf die Piazza oder seine über allem schwebende Terrasse, umarmte das einzigartige Panorama und sog die vom Meer aromatisierte, frische Bergluft wie befreit in seine Lungen. Sein Leben hatte als Ruinen-Bauherr einen neuen Orientierungspunkt, und diese Zielsetzung riss sein Umfeld mit.
  Milan Besnik war der erste, der Johannes Goerz in einer Mischung aus Respekt und Baustellen-Kumpanei mit seinem zukünftigen Spitznamen „Don Giovanni“ ansprach. Kleiner hatte die beiden Albaner in kleiner Nachbarschaftshilfe engagiert, weil diese neben ihrer erwiesenen und erprobten Zuverlässigkeit als einzige nicht mit dem Euro ihre Preise eins zu eins angehoben hatten. Er ahnte ja nicht, was Johannes Goerz bald erfahren sollte, aber  seiner  Verschwiegenheitspflicht gehorchend,  noch Jahre für sich behalten musste:
   Die „Sterbenachhilfe“ in Euroland war bei zunehmender Zwielichtigkeit derart gefragt, dass die zwei das Schuften am Bau, schlicht als  einen, die Nerven beruhigenden  Ausgleichssport betrachteten. Den meist ausländischen Bauherren fielen dabei die immer häufigeren partiellen Abwesenheiten des einen oder anderen Besnik nicht wirklich auf. Dass auf einmal Sali Besnik häufig allein auf seiner Baustelle schuftete, führte beispielsweise Johannes Goerz darauf zurück, dass nur der titanische Rotschopf so mühelos dazu in der Lage war, die Tonnen von Schutt durch das winkelige Anwesen nach draußen zu schaffen.
   Als auch „Il Mulo“ ihn zum ersten Mal mit „Don Giovanni“ ansprach, fühlte sich der Schreiberling gruselig amüsiert an die Szene in „Der Pate I“ erinnert. Die, in der der Killer Clemenza Don Corleone seine Aufwartung macht und in gutturalem Dialog seine tödlichen Anweisungen empfängt. Wie sollte „Don Giovanni“ da schon ahnen, wie treffend diese Assoziation noch werden würde?
  Und dann hatte Goerz beim gemeinsamen Schleppen einer schweren Säule in Folge von Pressatmung eben diesen bereits beschriebenen, kurzen Herzstillstand, der den Exil-Albaner aus seiner zementierten Rolle zwang. 
  Ausgerechnet beim Lebensretten hatte Sali Besnik seine Tarnung aufgegeben. Das Schicksal schreibt wirklich die besten Sketche!  
  Johannes Goerz hielt die gesamten Hintergründe für einen geplanten Roman lange unter Verschluss. Was womöglich auch damit zusammen hing, dass Sali einige Wochen, nachdem die Renovierung von Goerzens Haus endlich abgeschlossen war, auf die beschriebenen Weise zu Tode kam. Kurze Zeit darauf war dann übrigens auch Milan samt dem kleinen Bauhof bei Garlenda verschwunden.
  Bernhard Kleiner waren die stimmungsmäßigen Veränderungen seines neuen Bekannten nach dem euphorischen Zwischenhoch durchaus nicht verborgen geblieben, aber so sicher war er sich, dass Goerz ihm eines Tages erklären würde, was geschehen war, dass er nicht neugierig war. Noch waren sie beim Umgang miteinander zur Sicherheit distanziert beim Sie geblieben.
 Kleiner hatte Goerz genauestens studiert, ehe er langsam begann, ihm zu vertrauen. Ihm war aufgefallen, dass dessen augenscheinliche Interesselosigkeit im näheren Umfeld in erster Linie den deutschen Landsleuten auf dem Zauberberg galt. Bei den Italienern war das anders. Lucca, Enzo und die anderen mit Bernhard in die Jahre gekommenen Spießgesellen der ersten Zeit in Castellinaria hatten „Il Rullo“, die Dampfwalze, sofort in ihr Herz geschlossen. Sie nannten Goerz wegen seiner bisweilen plattmachenden Herzlichkeit ihnen gegenüber und natürlich auch wegen seiner Figur so. Bernhard beschrieb Traute die Art, wie Goerz, sich so schnell auf neue Bekannte oder alte Antipathien einstellte, als sie einmal an der Kasse im Supermarkt standen:
  Die Kassiererin zog Produkt um Produkt stoisch über das Scannerfenster. Erst wenn eines keinen Signalton von sich gab, widmete sie ihre Aufmerksamkeit ganz individuell dieser Ware. Dann tippte sie die Zahlen des Strichcodes ein und schickte sie auf dem Laufband hinterher. Manche Produkte - meist selten ausgewählte aber auch besonders neue wurden dann per Aufruf durchs Mikrofon ausgezeichnet an die Kasse nachgeliefert. Die nicht derart standardisierten Stücke gingen in einen besonderen Korb. Bernhard wies auf das Scan-Fenster:
  „Ich glaube der Goerz macht das mit Menschen genauso. Er scant sie und bevorzugt die, die nicht gleich per Strichcode ihren Euro-Preis zu erkennen geben. Wir sind wohl bei ihm in diesem Sonderkorb gelandet. Anders wäre das bei unserer Unterschiedlichkeit ja kaum zu erklären.“


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen