Mittwoch, 4. Juli 2012

Memento mori

Castellinaria Kapitel 11




Die im Borgo verbliebenen Alten wurden in der Regel sehr alt. Die Geschwister Basalto - fünf an der Zahl, von denen nur die jüngste Schwester verheiratet war - brachten es zusammen auf annähernd 500 Jahre. Eine sprang dement mit weit über 90 aus dem Fenster, aber bei den restlichen Vieren bekam man schon  ein wenig das Gefühl von Unsterblichkeit. Sie waren nicht nur völlig klar im Kopf, sondern schufteten sich auch noch täglich in den Oliven oder im Gemüsegarten am steilen oberen Dorfrand ab. Hatten sie trotz ihrer Gläubigkeit daher den Frieden in Dankbarkeit für ein erfülltes Leben mit Gott gemacht? 
  Nein. Was sie zusammen und am Leben hielt, war ihre latente Boshaftigkeit. In sofern war dafür gesorgt, dass das Deutsche Wesen in ihrer Gerüchte- und Hexenküche ein ums andere Mal weich gekocht wurde. Hatten sie selbst mal einen Schlüssel verlegt, waren es natürlich tedesci oder albanesi, die sie versteckt hatten. Mit Staatsschauspieler-Talent wurde dann in dräuender Gestik gen Himmel gezeigt und auf den Signor verwiesen, der alles sähe. Oder die Hand zum cornito geformt zeigte gleich mit einer Verfluchung zur Hölle. Mauro, 90, der einzige Bruder und ein zähes Gerippe, packte bei Falschparkern schon mal in der Dunkelheit einen Stichel aus und zerkratzte rundum den Lack jener Fahrzeuge, die den kleinen Grenzstein mit der Aufschrift proprieta privata übersehen hatten. Bei minder schweren Verstößen  verklebte er lediglich die Türschlösser mit Sofortkleber.
Wer als Ausländer und residente im Konsortium war, gab bei den Sitzungen schnell auf. Nicht weil es wegen der im Ligurischen laut ausgetragenen Streitereien der Burggeister untereinander wenig zu verstehen gab, sondern weil das menschliche Verständnis der Einheimischen dort oben in all den Jahrhunderten so drastisch gelitten hatte. Ein früherer Bürgermeister mit beträchtlichem Besitz im Luftschloss verließ einmal so eine Sitzung mit dem Schwur, den Borgo nie wieder zu betreten. Er hielt sich dran.
   Auch die Gebrüder Besnik waren nur schwer zu verstehen. Das lag einerseits daran, dass Sali und Milan so gut wie nicht redeten. Wenn sie aber mit anderen redeten, dann geschah das in dem mit zischelnden S- und gaumigen Umlauten fast wie Albanisch klingenden urligurischen Dialekt. In dem hieß das Feuer zum Beispiel nicht fuoco sondern fögü. Es gehört zu den ungeklärten Mirakeln der europäischen Wohlstandsvölkerwanderung, wieso die über die Adria geflohenen albanischen Boat-People sich schon früh im ligurischen Appenin ansiedelten und mit unfassbarer Geschwindigkeit dessen Dialekt, aber auch leidlich das Italienische assimilierten. Lag es daran, dass die Ligurer unter den italienischen Landsmannschaften die gleiche Außenseiter-Rolle spielten wie die Albaner auf dem Balkan?
   Der deutsche Autor Johannes Goerz, der in Castellinaria das Haus der „Francesa“ gegenüber vom Schloss nach der Jahrtausend-Wende gekauft hatte und die beiden Albaner vorübergehend beschäftigte, sollte noch weit Wundersameres über die zwei mit ihrer kleinen Baufirma herausfinden. Um zu verstehen, was in Castellinaria 1996 ablief, muss jedoch auf dessen erst später erworbenen  Erkenntnisse vorgegriffen werden:
  Die Annahme, dass die Besniks Brüder waren, rührte lediglich vom Firmennamen her: Besnik Fratelli Imprese Edile nannte sich die. Dass sie völlig unterschiedlich aussahen, wurde dadurch nie in Frage gestellt. Milan war feingliedrig, klein und so dunkel, dass er auch als Palestinenser durchgegangen wäre. Sali, dem sie auf den Baustellen den Beinamen „Il Mulo“ – das Maultier – nachriefen, hätte gut und gerne mit wenig Maske Rübezahl oder Quasimodo darstellen können. Er gab den zotteligen roten Riesen in gebückt schlurfender Haltung unter Entfaltung gigantischer Körperkräfte derart überzeugend, dass ihm ein anderes Signalement überhaupt nicht zuzutrauen gewesen wäre.
  Tatsächlich aber waren die beiden so „ungleichen Brüder“ Cousins. Der jüngere Milan war mit Sali in der Obhut dessen daheim zur traurigen Legende gewordenen Mutter aufgezogen worden, bis er alt genug sein sollte, um als letzter Überlebender seiner Sippe die Blutrache gegen eine andere Familie fortzuführen. Sali wurde, um die „Schuld“ seiner Mutter abzutragen, von albanischen Exil-Politikern erpresst, die die Spur vom Alt-Kommunismus schnurstracks in die modern organisierte, grenzenlose Verbrechenswelt der EU gewechselt hatten. So wie sich Sali am Bau auf die groben und Milan ergänzend auf die feinen Arbeiten konzentrierte, so waren sie auch bei ihrer gut getarnten Nebenbeschäftigung spezialisiert – nur umgekehrt. Milan war als „Auftragsmörder“ für die groben, nassen Hits zuständig, während Sali nicht einmal selbst Hand anlegte, denn er arrangierte gezielte Todesfälle aus Alltagssituationen mit versteckten Risiken. Je nachdem, ob und welche Botschaft die Auftraggeber  mit ihren Morden übermitteln wollten, wählten sie einen der Besniks. Und zwar so oft, dass das Baugeschäft doch wohl mehr oder weniger Hobby oder Tarnung war.
  Bernhard Kleiner und Peter Häubel waren wie alle  ahnungslos, als sie sich für die anerkannte Zuverlässigkeit der Beiden bei ihrem gemeinsamen Bauvorhaben entschieden. Und der alte Lenz frohlockte, weil er sich irgendwie vorstellte, er könne die albernen Albaner – wenn die deutschen Poliere erst einmal wieder daheim im Einsatz waren – besser  zu seinem Vorteil herumscheuchen als die individualistischen Italiener.
  Da nie ruchbar wurde, was in jenem Herbst tatsächlich passiert war, bauen die Hintergründe auf einer Hypothese auf, was später tatsächlich den nachhaltigen Wandel im „Prinzip Lenz“ bewirkt haben könnte:
  Dessen Prinzip beruhte ja in der Vergangenheit darauf, dass die Marionetten, deren Fäden er in der Hand hielt, willig in die Richtung zappelten, die er vorgab. Sein Prinzip sah nicht vor, dass die Puppen ein Eigenleben führten, die Fäden selbst verhedderten und am Ende gar noch abschnitten. Der verschlagene, aber eigentlich im Sinne der körperlichen Auseinandersetzung stets gewaltfrei operierende Lenz war noch nicht einmal ansatzweise in seinem bisherigen Leben auf die Idee gekommen,  jemand könnte ihm Paroli bieten und seine schon rücksichtslose Vorgehensweise dann auch noch mit unverhohlener Gewaltbereitschaft überbieten…
  Sali und Milan hatten ungefähr vier Wochen von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang auf beiden Baustellen geschuftet, um die ständigen Sonderwünsche zu erfüllen, mit denen der Lenz das Projekt Kleiner/Häubel  bis zur Schlechtwetter-Periode im November ins Hintertreffen bringen und somit torpedieren wollte.
  „Il Mulo“ machte seinem Spitznamen alle Ehre. Selbst nach viermaligem Umsetzen zweier nicht tragender, rund drei  Zentner schwerer Ziersäulen und dreimaligem Umgestalten des dazu gehörigen Treppenaufgangs mit massiven historischen Trittsteinen fuhr er noch immer nicht aus der Haut. Den immer dreisteren Anweisungen Meesters kam er äußerlich derart stoisch und stur nach, dass der Deutsche dann bei der massiven Reaktion der beiden aus allen Wolken fiel.
  Der Unfall, der dem Lenz eines Abends widerfuhr, erzeugte – kausal für Dritte kaum in Zusammenhang zu bringen -  einen deutlichen Klimawandel in Castellinaria. Der Schreiberling erzählte Bernhard Kleiner erst nach dem gewaltsamen Tod Salis  2004 den Ablauf  dieser Begebenheit. Die perfide Wirkungsweise des „Arrangierens“ wird an diesem nicht tödlichen Beispiel exemplarisch veranschaulicht. Er wunderte sich nur, dass Kleiner sich überhaupt nicht empörte, sondern sardonisch lächelte. Aber Goerz kannte ja den Lenz  weder  persönlich noch wusste er, dass jener der nicht gerade geliebte Schwager seines neuen Freundes war.

  Gerade waren die Besniks also in diesem Spätherbst 1996 nach der Arbeit in der Abenddämmerung mit ihrem alten Kipplaster auf die lange abschüssige Gerade der Konsortiumsstraße zum Capoluogo hinunter eingebogen, als sich auch der Lenz mit seinem schicken Mercedes-Geländewagen talwärts begeben wollte. Milan, der am Steuer saß, winkte und bedeutete Meester, dass er ihm noch einmal etwas zu sagen habe. Er bremste, stellte bei laufendem Motor die Handbremse fest und stieg mit einer Blaupause aus dem Führerhaus. Da das Licht zu deren Studium nicht mehr ausreichte, forderte er den Alten auf, nach vorne ins Scheinwerferlicht des Lasters zu treten. Während er nahezu  unverständlich irgendein Problem schilderte, war Sali  auf der anderen Seite mit einer Flasche eines speziellen Kriechöls in den Schatten geschlüpft und besprühte die vier Bremsen des Benz mit einer auf Erfahrung beruhenden Menge.
  Als Milan seine Blaupause wieder zusammen gefaltet hatte, war der abgelenkte Lenz, der von allem nicht das Geringste verstanden und mitbekommen hatte,  bereits leicht gestresst. Der Laster setzte sich zügig in Bewegung und war schon fast an der ersten Spitzkehre, als der Alte mit mehr PS als seiner Reaktionsfähigkeit gut tat, den schnell schrumpfenden Abstand fast schon zu gefahren hatte. Er sah noch, wie die durch Baustaub  beinahe blinden Bremslichter des Lasters kurz aufleuchteten und dann sah er nichts mehr. Denn trotz ABS griffen die Bremsen - für eben diesen einen, ausreichenden Moment verzögert - nicht. Der schwere „G“ krachte auf der abschüssigen Strecke weiter beschleunigend in die massive Hinterachse, und die Kipplade des Lasters zerschlug die Frontscheibe. Der Airbag öffnete sich Hundertstel von Sekunden vor dem einsetzenden Glashagel mit lautem Knall. Für eine Minute war der Lenz geistig so alt und verwirrt, wie ihm das eigentlich an Lebensjahren zugestanden hätte. Dann hatte er sich wieder gesammelt und kochte vor Wut.
  Doch die beiden Albaner riefen ungerührt, den eingeklemmten Greis beobachtend mit dem Handy die Polizei und die Ambulanz aus Pontedassio. Beide Bereitschaftswagen waren überraschend schnell mit Blaulicht und Martinshorn vom Tal heraufgeprescht. Alles sollte doch seine Ordnung haben.
   Der Alte wurde gegen seine Einlassungen und Proteste zur Beobachtung nach Imperia in die Klinik gebracht. Das Unfallfahrzeug konnte nur noch als Totalschaden sichergestellt werden (und landete auf Vermittlung der Besniks wundersam wieder wie neu Wochen später auf einer Fähre Richtung Osten). An den Aussagen der Albaner, die  dem Hergang nach und dem Augenschein gemäß protokolliert wurden, gab es keinerlei Zweifel.
  Natürlich hätte eine kriminaltechnische Untersuchung zumindest eine kleine Merkwürdigkeit auf den Bremsscheiben und  -Backen des nahezu fabrikneuen Fahrzeugs erbracht. Aber da bei Lorenz Meester nach mehreren kräftigen Schlucken Grappa, die er sich zuvor gewohnheitsmäßig gegen die abendliche Kühle auf der Baustelle aus seinem Flachmann genehmigt hatte, ein zu hoher Alkoholwert im Blut festgestellt wurde, lag der Fall auch so klar. Wer wollte da noch hören, wie der Lenz von irgendwie verzögert funktionierenden Bremsen schwadronierte?
  Die Albaner ließen dem Lenz gegenüber in der Folge keine weiteren Zweifel mehr an den geänderten Machtverhältnissen aufkommen. Als ihr Auftragsgeber wieder einmal in alte Verhaltensmuster zurück fallen und weitere unsinnige Anweisungen geben wollte, griff ihm „Sali Rübezahl“ fürsorglich unter beide Achseln hob ihn wie ein ungezogenes Kind vor sich auf Augenhöhe und sprach:
  „Memento mori, alter Mann! Das nächste Mal fährst du in den Tod.“
 Womit er nicht nur Bildung offenbarte, sondern auch die Tatsache, dass er mit für Sekundenbruchteile nicht blöde verstellten Gesichtszügen in der Lage war, fließend Deutsch zu sprechen.
  Dass der wieselflinke, geschmeidige Milan in den Folgejahren immer wieder einmal im memento mori an allen Überwachungssystemen und Alarmanlagen vorbei nachts das Schlafzimmer von Meester  aufsuchte, beruht auf Hörensagen. Dass er dann - zärtlich den Schalldämpfer seiner Beretta streichelnd - am Bett des Deutschen saß, soll ihre weiterhin blühenden Geschäftsbeziehungen noch gesteigert haben. Jedenfalls ließ sich der Lenz –auf einmal sein Alter vorschützend – kaum noch in Castellinaria sehen.
 Die Bauarbeiten waren so pünktlich und tadellos fertig, dass genug Folgeaufträge für die Besniks hereinkamen. Erstaunlicher Weise für Außenstehende wuchs die kleine Firma der Albaner trotz ihrer stets manifestierten Tüchtigkeit nicht. Was ihrem Kalkül entsprach. Da sie nicht gierig waren, wurden sie eben auch von der heimischen Konkurrenz respektiert und niemand sah sich veranlasst, hinter die Kulissen zu blicken

  In jenem Herbst erinnerte die dem Luftschloss „übergeordnete Instanz“, die ja von den meisten seiner Bewohner als ihr Gott dem dort so nahen Himmel zugeordnet wurde, sehr nachhaltig daran, dass alle Menschen sterblich sind:
  „La Francesa“ hatte einen zu spät erkannten Tumor in ihrer Gebärmutter. Doktor Dröse der sich selbst nie an Verbote gehalten hatte, die er seinen Patienten gerne auferlegte, starb während der Sprechstunde. Dicke Zigarren und Cognac nach zu fettem Essen hatten seinem ersten, gleich tödlichen Herzinfarkt  durch arrogantes Ignorieren  rechtzeitig und deutlich an sich selbst zu diagnostizierenden Signale  den Weg bereitet. Überraschender Weise trauerte seine sich immer noch jung fühlende Witwe derart heftig, dass sie Lucca nicht mehr in ihr Bett lassen und eine lange Auszeit von Castellinaria nehmen wollte. Um Dinge daheim zu regeln. Deshalb verkaufte sie ihr Haus, ohne dass die Sache mit dem „geraubten Stück Flur“ zuvor bereinigt  worden wäre.
  Peter Häubel, ansonsten absolut schwindelfrei, kam auf dem Dach eines Hochhauses in Bonn ins Schwanken und konnte gerade noch von seinem Bauherrn daran gehindert werden, ohnmächtig in die Tiefe zu stürzen. Überraschend bei seiner Umtriebigkeit und gänzlich unbemerkt war er schwer an Diabetes mellitus erkrankt. Bernhard Kleiner, der kurz vor seinem Sechzigsten stand, hatte Stress bedingt zwei schwere Autounfälle, die er nur durch Glück überlebte. Normaler Weise sagt man ja  jenen, die erst spät den Führerschein gemacht haben, ein ruhigere und umsichtigere Fahrweise nach. Im Prinzip war das auch bei Bernhard so. Aber vier Bauvorhaben in drei Städten mit  immerhin dreihundert Wohneinheiten mussten koordiniert und beaufsichtig werden. Er, der sein Leben lang  körperlich in Bewegung gewesen war, hatte seit der Wiedervereinigung meist nur noch im Auto oder im Baubüro gesessen. Das nahm sein Kreislauf natürlich übel, und die Blutdruck-Werte rauschten in abnorme Höhen.
  Aber das Handtuch warf er, weil die Büros der Baufirma komplett international vernetzt auf Computer umgestellt werden sollten. Ausgerechnet sein Sohn Sebastian hatte diesen ungemein lukrativen Auftrag ergattert. Es lag auf der Hand, dass „Jerda, dat Aas“ – die Tante ehrenhalber quasi - dabei ihre Hände im Spiel hatte. Sie schmiss den Baukonzern  mittlerweile nahezu alleine, weil ihr Göttergatte nur noch zum Golfen ging; angeblich zwecks Geschäftsanbahnungen                                      

   

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