Samstag, 7. Juli 2012

Il Mulo

Castellinaria Kapitel 13



   Spitznamen können schrecklich sein. Manchmal sind sie auch noch schrecklich zutreffend. Um den Mann, den sie Mulo, Muli oder das Maultier nannten, rankten sich viele Legenden. Die ehrabschneiderischste  war die, die sich an der Zoologie anlehnte: Mulos Vater sei eben der "geile kleine Esel" gewesen, der die schönste und größte Pferde-Stute im Dorf geschwängert habe. Die ehrfürchtigste wurde über seinen Weg in den Westen verbreitet:
   Als die Guardia Costiera den mit albanischen Flüchtlingen überladenen Fischerkahn in einer stürmischen Winternacht vor Brindisi aufgebracht hatte, habe sich das Maultier in einem unbeobachteten Moment mit einem hufeisenförmigen Rettungsring über Bord gestohlen. Der Ring sei noch nicht einmal groß genug gewesen, um über Mulos Nacken zu passen, damit sein Kopf nicht unter Wasser geriet. Er habe nur seinen Hinterkopf drauflegen können, hätte seine überlangen Arme zur Toter-Mann-Lage ausgebreitet und sei auf diese Weise die ganze Nacht im kalten Wasser herumgetrieben, bis ihn eine gnädige Welle an Land gespült habe. Das sei bei Bari gewesen. Neun Monate hätte er sich tagelöhnernd von Ort zu Ort immer dort verdingt, wo seine gewaltigen Körperkräfte von Nöten gewesen seien. Eines Tages sei er dann gar nicht überraschend bei einem legal als Maurer an der Ponente lebenden Vetter aufgetaucht, hätte ihm das unterwegs verdiente Geld wortlos in die Hand gedrückt, und es sei genug gewesen, um die kleine Baufirma bei Albenga zu gründen, die sie nun seit einigen Jahren gemeinsam betrieben.
  Die furchterregendste Version der Maultier-Legende war jedoch die: Mulo sei ein kosovarischer Killer, und seine Existenz als Bauarbeiter nur eine Tarnung für seinen Blutjob. Den Spitznamen Mulo hätte er von seinen Auftraggebern bekommen. Wegen der sturen, unbeirrbaren und ausdauernden Weise, mit der er seine Hits zu arrangieren pflegte.
  Zwar gab Mulo den Gerüchten keine weitere Nahrung, aber Legenden haben eben ihr Eigenleben, und das wurde durch den Umstand noch angeregt, dass sich der Albaner auf den Baustellen mit selten mehr als einem Dutzend Worten pro Tag aus einem ligurisch-albanischen Vokabular artikulierte.
  Als der Autor Johannes Goerz den legendären Mann zum ersten Mal sah, stand dieser gerade ungesichert in 13 Meter Höhe auf der Terrassenmauer in einem Teil des mittelalterlichen Hauses, das sich der Deutsche zu seiner Ruhestandsresidenz umbauen ließ. Das Maultier wuchtete Hand über Hand eine Palette Bodenfliesen aus der Gasse hoch, obwohl es in Armlänge von ihm einen Flaschenzug gab, der ihm die Arbeit hätte erleichtern sollen. Als Goerz zu ihm auf die Terrasse kam, sah er das Malheur. Das angeblich strecksichere Bau-Seil, das er in den Zug eingelegt hatte, hing überstreckt zwischen den Blöcken und ringelte sich wie Schillerlocken die Wand hoch. Der Schrat musste es mit einer Tonne oder mehr belastet haben... In dem Moment, in dem er die Palette über die Mauerkrone schwang, als handele sich um ein Geschenkpaket, blinzelte Mulo Johannes aus einem Auge seines schräg gestellten Kopfes zu und gab einen grinsenden Grunzlaut von sich. Die Ideal-Besetzung für einen Quasimodo, schoss es Johannes Goerz durch den Kopf, aber er sollte sich gründlich irren.
  Wenige Wochen vor dieser denkwürdigen Begegnung war der Autor, der bis dahin selbst gern die Muskeln hatte spielen lassen, von irreparablen  Herzrhythmusstörungen heimgesucht worden und knapp an seinem ersten Schlaganfall vorbei geschrammt. Unter starken Medikamenten versuchte er, sich in die Nähe seiner alten Form zu bringen, aber für die richtig harten Sachen brachte sich eben von nun an ohne viel Worte das Maultier ein. Mitunter kam er allein von einer anderen Baustelle, um zu helfen oder etwas fertig zu machen, und dann ergab es  sich, dass die beiden so unterschiedlichen Männer bei einem Bier in der Abendsonne saßen oder schweigend gemeinsam eine Pasta-Mahlzeit spachtelten, die Johannes ihnen zubereitet hatte. Da der Blick des Urwesens immer freundlicher und offener wurde, fasste Johannes eines Abends den Mut, eine Art Konversation zu beginnen: In seinem einfachen Italienisch machte er seinem Gegenüber klar, dass für Deutsche der Spitzname Maultier oder Muli eher eine Beleidigung darstelle. Er wollte ihn bei seinem richtigen Namen nennen. Nein, Johannes hatte nie den Eindruck, es mit einem Debilen zu tun zu haben, aber er war doch einigermaßen überrascht, als sich in das Gesicht seines Gegenübers beim Zuhören ein aufgewecktes Lächeln schlich. Er heiße Sali Besnik, und es sei ihm eine Ehre, meinte der Mann, den sie Mulo nannten. Das war der erste ganze Satz ihrer Kameradschaft, die sich dennoch zunächst einmal nur stillschweigend weiter entwickelte.
  Eines Tages musste der körperliche Arbeit nicht sonderlich Gewohnte bei einer Säule mit anpacken, die über eine enge Treppe hinauf sollte. Und obwohl Sali als Untermann den Löwenanteil des Gewichtes auf sich nahm, geriet Johannes durch das Tragen vor der Brust und die erzwungene Pressatmung offenbar in eine Art Sauerstoff-Defizit. Genau das, wovor ihn die Ärzte nachdrücklich gewarnt hatten. Es gelang ihm gerade noch, die Säule abzusetzen, ehe er in eine kurze Ohnmacht fiel. Als er aufwachte, spürte er den Kopf des Albaners auf seiner Brust. Er horchte in Ihn hinein und schaute dann mit einem eindeutig geschulten Blick in die benommenen Augen von Johannes.
  "Du bist ein Arzt! Sali?"
  "Das Problem sind nicht die Arhythmien, mit denen könntest du hundert Jahre werden. Das Problem ist dein hektisches Atmen. Das bringt dir den Sekunden-Tod, wenn du dir nicht eine Atemkontrolle  antrainierst."
  Goerz war zwar noch  konfus, aber nicht so sehr, dass er nicht gemerkt hätte, dass der Mann - mit einem guturalen Akzent zwar - Deutsch gesprochen hatte.
 "Wer bist du?"
 "Ich war mal Dr. Sali Besnik. Jetzt bin ich il Mulo. Ich weiß, du bist ein Geschichten-Erzähler, aber die Geschichte, die ich dir erzählen könnte, würde keiner glauben. Also lassen wir es besser."
  Für eine Weile sahen sich die beiden nach diesem Outing nicht mehr.  Aber auch der ehemalige Reporter  erzählte aus einer Eingebung heraus - quasi im Hinblick auf einen nicht vereinbarten Quellenschutz -  niemandem von dem Erlebten. Er hatte aber im Internet gestöbert. Mit diversen Suchbegriffen hatte er versucht, einen Zeit- und Ereignisraster zu konstruieren, denn schon bald war ihm klar geworden, dass es zwar diverse Sali Besniks gab, aber keinen, der annähernd deckungsgleich mit dem Signalement des Mulis war. Auch indem er die Legenden, die sich um Mulo rankten, in Suchbegriffe zerlegte, landete er keinen Treffer. Der Mann war zwar deutlich jünger als er selbst, aber er war alt genug, dass er noch unter der finstersten kommunistischen Regierung Europas studiert haben musste. Das Deutsch hatte er vermutlich bei Gastsemestern oder als Assistenzarzt in der ehemaligen DDR gelernt.
  Dann hatte auf einmal alle Spekulation ein Ende, weil Mulo eines Abends vor der Tür stand. Eine Flasche Grappa und eine Tüte frische Focaccia unterm Arm:
  "Irgendjemand muss ich es ja mal erzählen. Sie sind schon hinter mir her, um mich umzubringen. Meine Leute sind ja alle tot,  aber mein Vetter mit seiner Familie hängt noch mit drin. Aber du wirst wissen, wie du mit dem Wissen umgehst. - Du könntest meine Geschichte eines Tags vielleicht verwenden. Ich würde nicht umsonst gestorben sein und ein paar bekämen dann vielleicht  mal selber Angst. Ich war ein..."
  An jeder Legende haftet ein Teil der Wahrheit. Diese Erkenntnis gewann Johannes in jener Nacht. Der Vater vom Muli war zwar klein gewesen, aber längst kein Esel. Er war Bibliothekar und trotz aller Repressalien hatte er als orthodoxer Christ gelebt. Seine Furchtlosigkeit hatte ihn zum Ankerplatz einer intellektuellen Opposition gemacht,  und da viele Kinder aus Familien der Nomenklatura Tiranas sich darin gefallen hatten, Ilja Ehrenburgs "Tauwetter" oder Boris Pasternaks "Dr. Schiwago" zu diskutieren, waren diese Kreise relativ unbehelligt geblieben. Gefährlich war es erst geworden, als eine üppige hoch aufgeschossene, honigblonde Kosovarin regelmäßig zu den Treffen gekommen war. Wie viele körperlich kleine Männer war der Bibliothekar urinstinktiv den ausladend einladenden Reizen der Studentin erlegen und er träumte fortan geradezu besessen davon, sein Denkerhaupt auf immer zwischen diesen gewaltigen Brüsten zur Ruhe zu betten. Doch die Rubensschönheit, die ihn nicht nur um Haupteslänge überragt hatte, sondern auch Muslima war, wurde von eigenen Tugendwächtern, nämlich ihren vier äußerst aggressiven und gnadenlosen Brüdern observiert... Furchtlosigkeit - vor allem, wenn man körperlich nichts zuzusetzen hat - zehrt aus. Der Muli sollte nie erfahren, wie es sein Vater angestellt hatte, alle Hindernisse aus dem Weg zu schaffen, um seine Mutter nicht nur zu heiraten, sondern ihn auch noch zu zeugen. Denn der Beginn seiner Wahrnehmungsfähigkeit war mit dem Verfall jenes kleinen, Brille tragenden Männchens zusammen gefallen, den er wohl mit den ersten Worten Papa genannt hatte, der aber noch vor seinem dritten Geburtstag seinem Leberkrebs erlag.
  Es war nach dem Tod seines Vaters nicht zu der tragischen Kindheit gekommen, die gemeinhin zu erwarten gewesen wäre. Ljuba, seine Mutter, hatte seinen Vater so geliebt, dass sie nie wieder heiraten sollte. Aber sie hatte die Männer  gut genug studiert, um mit dem Fetisch ihres Körpers auf die meist kleinwüchsigen Machtneurotiker ihres Landes Einfluss zu nehmen. Als in Deutschland die Mauer fiel, war sie gerade die Lebensgefährtin des albanischen Botschafters in „Berlin, der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik". Ihr Sohn stand in Jena kurz vor dem Facharzt für Kardiologie.
  Wie schnell das damals gegangen war: Die Genossen waren im wieder vereinten Deutschland über Nacht zu unbequemen Gästen geworden. Gerade noch politisch hofiert, war ihnen unmissverständlich nahe gelegt worden, in ihre trotz freier Wahlen noch zwei weitere Jahre im Kaderkommunismus verharrende Republik zurück zu kehren.
  Il Mulo hatte das getan, was er bei Veränderungen am liebsten tat. Er stellte sich stur und konzentrierte sich auf seine Berufung als Arzt. Ljuba war ebenfalls beim bewährten Rezept geblieben und leistete erneut vollen Körpereinsatz. Gleichzeitig mit der ersten demokratischen Regierung Albaniens hatte sie es wieder einmal an die Spitze geschafft. Man nannte sie nur noch die "Prinzessin der Pyramiden". Damit waren nicht die von Ägypten gemeint, sondern jene Kapitalanlage-Modelle, die den gerade mal aufkeimenden Wohlstand in der albanischen Bevölkerung durch unsaubere Machenschaften auf nimmer Wiedersehen abschöpften. Am zweiten Tag des so genannten "Lotterie-Aufstands" drangen aufgebrachte Menschen im Morgengrauen in die Strandvilla eines der verantwortlichen Bankiers und erschlugen ihn in seinem Bett. Ljuba, die neben ihm lag, wurde auf die Straße gezerrt und schließlich auf obszöne Weise vor den Augen aller geschändet. Sie erlag ihren inneren Verletzungen ausgerechnet in dem Krankenhaus, in dem ihr Sohn als Stationsarzt Bereitschaftsdienst hatte.
 
  Der nicht mehr einzudämmende Wortschwall, mit dem Il Mulo Johannes sein Leben geschildert hatte, endete mit Tränen, die dieses Urtier von einem Mann geradezu grotesk erscheinen ließen.
  "Ich habe so große Schuld auf mich geladen. Statt Leben zu retten und zu bewahren, habe ich Leben ausgelöscht. Ich dachte, die harte körperliche Arbeit könnte mich läutern. Mein Gewissen abstumpfen. Aber ich wollte so gerne wieder einmal Deutsch reden, und dann kam dein Schwächeanfall. Plötzlich war er wieder da, der Arzt - verstehst du? Und damit das Grauen.“ 
  Es vergingen nach dem ergänzenden Bekenntnis, erneut viele Tage, in denen Johannes wieder nichts vom Maultier hörte. Und dann kam es - von den meisten kaum beachtet - in den RAIregionale-Nachrichten.
  Ein Fischer hatte mit seinen Stellnetzen vor dem Capo Berta einen Mann aus dem Meer gezogen. Der Mann sah so entspannt und zufrieden aus, dass die Behörden an einen betrunkenen Bade-Unfall geglaubt hatten. Die Obduktion bestätigte zwar, dass der Mann ertrunken war, aber eben an flüssigem Marmorkleber. Es war der Mann, den sie  il Mulo genannt hatten...
  

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