Donnerstag, 28. Juni 2012

Eine Art Zauberberg

Castellinaria Kapitel 9


  Später sollte Bernhard einmal gestehen, dass er sich nie und nimmer auf sein italienisches Luftschloss eingelassen hätte, wenn er auch nur geahnt hätte, doch noch Vater zu werden. Die durch die alleinigen Versorgerpflichten bedingte höhere Verantwortung als Bauleiter war allerdings zweischneidig. Einerseits war der Kredit für Italien im Nu getilgt, andererseits ging der weitere Ausbau in Castellinaria nur sporadisch im knapp bemessenen Urlaub voran. Manches musste jetzt mit italienischen und aus der Heimat über die Adria geflohenen albanischen Bauarbeitern fortgeführt werden, sollte das Haus nicht wieder in den Ruinenzustand zurück fallen.
  Klar waren die vier ligurischen Freunde auch da wieder zur Stelle, aber immer konnten sie die jeweiligen Vorhaben auch nicht beaufsichtigen. Der Lenz, der die Zeit genutzt hatte, um im Ort zu Ansehen und Akzeptanz zu kommen, spielte nun in Bernhards Abwesenheit immer  häufiger die Karte des fürsorglichen Schwagers aus. Da die Schwestern immer noch – so sie dort zusammen waren – einen liebevollem Umgang miteinander pflegten, war es bei den ligurischen Familienmenschen keine Frage, dass das Tun der beiden Schwäger ebenso von den Familienbanden motiviert war.
  Auf einmal fanden die Kleiners aber bei ihrer Rückkehr den ehemals großzügigen Eingangsbereich ihres Hauses durch eine massive Mauer halbiert wieder. Sie war während ihrer Abwesenheit eingezogen worden, weil der Lenz der deutschen Arztfamilie, der er das unmittelbar an die Mauer grenzende Nachbarhaus zu einem vielfachen Gewinn verkauft hatte, auch einen Eingang von der Gasse haben wollte. Praktischer Weise war der Bauschutt des Umbaus dafür im kleinerschen Garten gelandet…
  Lucca, der im ganzen Haus des deutschen Doktors edelste Fliesen verlegt hatte, war gar nicht auf die Idee gekommen, die Anweisungen des Schwagers Don Lorenzo in Frage zu stellen und Bernhard von diesem „Umbau“ zu berichten.
   Allerdings war er durch eine anderweitige Motivation auch arg abgelenkt. Weil die die Arbeiten überwachende Arztgattin vor allem einen Blick auf Luccas schneidige Erscheinung geworfen hatte, unterhielten die beiden in engster deutsch-italienischen Freundschaft über nahezu ein Jahrzehnt eine leidenschaftliche Sexbeziehung. Der ganze Ort nannte den alten Eingang des Anwesens, der zum Garten führte, folglich auch „La porta di Lucca“. Es konnte passieren, dass Lucca erst unten durch diese Tür in die Campagna entschlüpfte, wenn der aus Deutschland angereiste Doktor oben bereits vom beschwerlichen Aufstieg schnaufend seine Koffer in die geraubte Diele stellte.
  Klar, dass zwischen Bernhard und Lenz – da konnten sich die Schwestern mit weiblicher List noch so sehr ins Zeug legen – die Tür zueinander für eine lange Zeit schwer ins Schloss gefallen war. Was den Lenz nicht sonderlich anfocht, denn er zog sein Ding durch. Am Ende der Siebziger sprach er, im Gegensatz zu Bernhard nicht nur fließend Italienisch, sondern hatte, bis auf ein Schmuckstück von Terrassen-Villa mit Gärten, Pool und Einlieger-Wohnung, das er für sich selbst behielt, alle oberflächlich renovierten Ruinen, die in Castellinaria ihm gehört hatten, verkauft; meist an betuchte Alltagsflüchtlinge aus Deutschland und den Benelux-Staaten.
  Bernhard meinte, der Lenz habe dabei mehr als eine Million Mark steuerfreien Reingewinn gemacht. Damit er die Bebauungs- und Spekulationsfristen von fünf Jahren auch parallel einhalten konnte, hatte er mit Gratisurlauben Familien-Mitglieder als Strohmänner- und –Frauen gewonnen. Auch die Körber-Zwillinge und selbst ihre mittlerweile gassenbreite Mutter, die nie und nimmer mehr dort hochgekommen wäre, waren so eine gemessene Frist pro forma Hausbesitzer in Castellinaria gewesen, wagten aber nicht, vom Lenz vor dem Verkauf einen Bonus für ihr Zurücktreten zu verlangen.
  Die Raffgier und Konsumstärke der neuen Bewohner dieses mittelalterlichen Wehrdorfes hatten aber auch positive Auswirkungen; vor allem auf die Infrastruktur. - Einmal abgesehen davon, dass der Ort vielleicht ein Jahrzehnt später gar nicht mehr zu retten gewesen wäre.
  Den endlich asphaltierten Serpentinen vom Capoluogo hinauf  folgte bald auch ein geteertes, steiles Sträßchen des neu gegründeten Konsortiums durch die Oliventerrassen zum höher gelegenen oberen Dorfrand. Das erleichterte Transporte und Lieferungen und trug ein wenig dem nun rasant wachsenden Bedarf an Parkplätzen Rechnung.
  Die kleinen heimischen Bauunternehmen, bei denen der Impresario meist Maurer und Architekt – beziehungsweise Geometra -  in Personalunion war, konnten auf einmal Leute einstellen und mussten nicht mehr zeitweise in andere Regionen Italiens ausweichen.  Diese völlig ungewohnte Vollbeschäftigung sorgte sogar dafür, dass, selbst bei der lausigen Steuermoral der Einheimischen, ordentlich Geld bis hin in  die Gemeindekasse floss. Erstmals wurde von der Comune  im Tal oben in Castellinaria auch Geld für Schönheitsreparaturen ausgegeben.
 
  Bernhards Weg nach Ligurien war von einem bestimmten Gefühl motiviert gewesen, das treffend in der italienischen Denkweise und Bedeutung als la nostalgia bezeichnet werden konnte. Er war keinesfalls schwermütig und konnte sich im doppelten Sinne sogar größte Lasten aufbürden. Es war auch nicht so, dass er süchtig war nach einer gewissen Leichtigkeit des Daseins. Es war wohl die Sehnsucht nach einer gewissen archaischen Existenz in den Aggregatszuständen des Lebens, die er auf den Großbaustellen Europas immer mehr aus dem Blick verlor.
  Die neuen residenti aus den Bildungs- oder Wohlstandseliten nordeuropäischer Gesellschaften hingegen hatten vordergründig meist andere Beweggründe für den Kauf ihrer meist schon vorrenovierten Häuser: Sie schufen sich damit ein Statussymbol und pflegten etwas, das sie für das dolce far niente hielten – zumindest die nicht mit dem Gelderwerb befassten Angehörigen.
  So entstanden in den Achtziger und Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts dort oben, aber auch in ähnlichen Dörfern der anderen Täler, zeitgeistige Karikaturen von Thomas Manns Zauberberg. Enklaven des Denkens und Verhaltens, die die Natur und das Naturell der unmittelbaren Umgebung nur soweit mit einbezogen, wie die eigene Wahrnehmung das zulassen wollte. Da Neid, Missgunst oder treudeutsche Werte jeweils im Reisgepäck verstaut wurden, entstand so etwas wie eine italienische Schein-Existenz. In Wahrheit mutierte Castellinaria zu einer Enklave Wohlstands-Europas, während die RAF und die Brigate Rosse ihr Terrorwerk verrichteten, der kalte Krieg seiner absoluten Eiszeit entgegen frostete und allenthalben die Umweltzerstörung fortschritt. Wer wollte, konnte - so er sich es eingerichtet hatte – dort ganzjährig auf der Sonnenseite des Lebens Gott einen lieben Mann sein lassen. Aber es gab keinen Gott in Castellinaria oder besser gesagt, er hatte sich von dort eine Auszeit genommen. Und das, obwohl Generationen dieses kleinen, an einen Felsgrat geklammerten Bergnestes in den tausend Jahren seiner Existenz, um ihn zu preisen, auf einer Grundfläche von etwa vier Fußballfeldern, nicht weniger als drei Kirchen und zwei Kapellen errichtet hatten…


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen