Mittwoch, 6. Juni 2012

Die Empfängnis


Casellinaria Kapitel 3

  Bernhard hatte den Sandsteinkegel am linken Pfeiler des Portals nicht zementiert. Als er Mitte November als Anhalter von Kempen bei Köln innerhalb zweier frostiger Tage nach Castellinaria zurückkehrte, erlebte er eine böse Überraschung. Wie hatte er, der den Ort bisher nur bei staubiger Gluthitze kannte, auch nur ahnen können, welche Unwetter über sein Luftschloss hinweg brechen würden und welche Aufgabe dieser unscheinbare Kegel dann zu erfüllen gehabt hätte?
  Wie so oft hatte der die Ligurer so depressiv machende Scirocco aus Südost gegen Ende des Herbstes die Wende eingeleitet.  Er hatte dafür gesorgt, dass der Schönwetterwind Libeccio, der aus Südwest mit seiner warmen, feuchten Luft über das Mittelmeer kam, gestoppt wurde. Die Luftfeuchtigkeit staute sich an den Bergen oberhalb von Sanremo zu gewaltigen, dunkelgrau drohenden Wolken-Türmen. Als der Libeccio sich dann zurückzog, saugte er den eiskalten Maestrale an,  den D-Zug schnellen Fallwind der von Nordwest aus den bereits dick beschneiten Gipfeln der Seealpen heran raste. Die warmen Wolken, die jetzt wie überkochender Leim träge und schwer von Feuchtigkeit über die Bergkämme in die Valle del Olio rannen, wirkten auf diesen schnellen Wind wie die Reibflächen der staatlich regulierten Zündholzschachteln (die allerdings ebenso selten berechenbar funktionierten). Im Nu waren Gewitter infernalischen Horrors entfacht. Der Regen wurde mitunter waagerecht unter die Dächer gepeitscht, wandelte sich dann in Sekunden zu Hagelstrichen und prasselte sogar durch die zur Vorsicht verrammelten Schlagläden vor den Fenstern. In wenigen Augenblicken wurden mitunter große Teile der Olivenernte vernichtet. Diese Kraftentfaltung der Naturgewalten überraschte selbst die Alten immer wieder aufs Neue. Da wurden Zentner schwere Amphoren umgerissen und segelten massive Vordächer davon. - Und dann diese Wassermassen.
  Oben in Castellinaria waren die drei parallelen Gassen auf dem Felsgrat die Ablaufrinnen zwischen den maroden Häuserreihen. In Sekunden verwandelten sie sich in reißende Wildwasser, auf denen Narren hätten Kajak fahren können. Die bergseitig einzementierten Kegel an den Türpfosten und Torpfeilern wirkten dabei wie kleine Wehre, die das Wasser in die Mitte der Häuserschluchten zurücklenkten und dadurch daran hinderten, in die Wohnbereiche einzudringen.
  Der erste Wasserschwall hatte Bernhards nur hingestellten Kegel derart verschoben, dass er seine provisorische Brettertür fortgerissen hatte und als ungebetener Besucher in die nur aufgeschütteten Böden der beiden zukünftigen Wohnzimmer gerauscht war. Da man Bernhards am Ortsrand klebendes Haus im obersten Stockwerk betrat, raste die Flut die alten Stufen hinunter und verschaffte sich zum Garten hin gewaltsam Ausgang, indem sie die historischen Mauern unterspülte und die Sickergrube sprengte.
  Als Bernhard seine ruinierte Ruine am Tag danach erreichte, stach die Sonne wieder vom Himmel, als sei nichts gewesen. Der Wind war abgeflaut wie Bernhards Enthusiasmus, aber dann kam auf einmal ein anderer mystischer Wind. Er brachte das Blut in Wallung, weil er im stechenden Sonnenlicht bei 25 Grad durch sein kühles Fächeln Beklemmung und Atemnot behob und  auf eine tückische Art euphorisierend wirkte: La brezza libecciata oder il libeccio
  Die Einheimischen kannten sein trügerisches Spiel und waren deshalb  gar nicht erst aus den Häusern gekommen, um Bernhard zu warnen. Der nachgebesserte Zementsockel für den Sandsteinkegel war gerade fest geworden, da brauste schon ein neues Gewitter heran. Geistesgegenwärtig hatte der Ruinenbaumeister bei dem aufkommenden Sturm Sandsäcke aus einer Felsenhöhle seiner Cantina geschafft, in der sie mit allen anderen dort gelagerten Baustoffen das Unwetter wie durch ein Wunder unbeschadet überstanden hatten. Der kleine Wall verhinderte, dass sich noch einmal ein Sturzbach durch sein Haus ergießen konnte. Aber gegen die von oben herein dreschenden Regenschauer half er natürlich nicht. Zwei Tage und Nächte goss Petrus aus vollen Badewannen Schwall um Schwall in die zum Teil noch unbedachte obere Etage. An arbeiten war nicht zu denken. Es galt, mit Eimern das Wasser heraus zu schöpfen wie bei einem maroden Kahn. Und es wurde wieder bitter kalt, weil durch die Feuchtigkeit die Kälte nach dem neuerlichen Temperatursturz fast unerträglich unter die Haut drang.
  Aber Bernhard wollte ja nie wieder frieren. Es zahlte sich aus, dass seine noch nicht ganz feste Burg tatsächlich nicht auf Sand gebaut, sondern die meisten Mauern auf Felsen verankert waren. In der Höhle, die er eher instinktiv als Lagerplatz für die Materialien gewählt hatte, befand sich am Ende auch eine gemauerte Esse, die vielleicht einmal als primitive Schmiede gedient hatte.
  Er blies seine Luftmatratze auf, rollte dort seinen alten NVA-Rucksack aus, stellte Camping-Kocher samt Geschirr sowie Tütensuppen daneben und schuf sich so das perfekte Biwak. Wann immer es auch nur den Anflug von Kälte gab, heizte er die Esse mit geborstenem Bauholz und schuf damit sogar eine Art Hüttenromantik. So ritt er das Wetter sicher ab wie ein Bergprofi. Es spricht für die Charaktereigenschaften dieses Mannes, dass er aus der primitiven Gemütlichkeit, die Kraft gewann, nicht aufzugeben. Er schaffte es vielmehr,  zu Raum und Zeit mit seiner Urkraft als dritter Dimension innerhalb der verbleibenden fünf Wochen noch nahezu ein Wunder zu vollbringen. Es entstand gewissermaßen aus dem Chaos.
  Am  21. Dezember sollte seine Frau, Traute, mit dem TEE (Trans Europ Express Mediolanum/Ligure) nachkommen, um die Weihnachtsfeiertage und Neujahr in ihrem Himmelsschloss zu verbringen. Da sollten Wohnküche, Bad und das Schlafzimmer doch bewohnbar sein. Sie hatten ohnehin noch einmal einen zusätzlichen Kredit aufnehmen müssen. Wer weiß denn schon wirklich, was so ein Luftschloss kostet?
  Als Bernhard nach 48 Stunden völlig verrußt mit seinem Kulturbeutel unterm Arm aus seiner Höhle kroch, um sich an der Fontana vor dem Castell zu waschen, bahnte sich eine weitere Herausforderung gänzlich anderer Art für den Deutschen an.
  Hinter einem Vorhang im Haus auf der Südseite der Piazzetta beobachteten zwei kenntnisreiche Augen, wie der wie ein Carbonaio anmutende  Biondo sich unter dem Seifenschaum in einen Adonis verwandelte, der durchaus von einem italienischen Renaissance-Bildhauer hätte modelliert sein können.
  La Francesa war eine Einheimische, die erst vor kurzem nach einem Leben voller legendärer Vorkommnisse verwitwet in ihr Haus an der Piazza Castello zurückgekehrt war. Die ehelich gebundene Weiblichkeit der Talschaft ward ob des männermordenden Rufes von Tiziana Gandolfo bereits seit Wochen in Angst und Schrecken versetzt. Man erzählte sich treppauf, treppab, sie habe für den Fürsten Rainier von Monaco gekocht und nebenbei ein Vermögen in dessen Spielbank gewonnen. Sie wurde indes auch nicht müde,  selbst die Gerüchteküche um sie herum anzuheizen, indem sie Männer aus der Nachbarschaft, die ihr einen handwerklichen Gefallen erwiesen hatten, gelegentlich mit auf Goldrandtellern dargereichten Leckereien belohnte.
  Natürlich hatten sich die Geschichtchen um die Besonderheiten des Deutschen auch bis zu Signora Gandolfo herumgesprochen, und weil sie einige Jahre im Palace von Sankt Moritz Sous Chef gewesen war, sprach sie auch ganz manierlich Deutsch. Bernhard trocknete gerade seinen mehr als ansehnlichen, kaum behaarten Oberkörper, als sie mit einer Goldrand-Tasse Kaffee auf ihn zu stöckelte:
  "Schaden sehr groß?", fragte sie, indem sie ihm die Tasse reichte.
  Bernhard brauchte ein paar Sekunden, um zweierlei zu verarbeiten: Einerseits, dass es im Dorf jemanden gab, der Deutsch sprach, und andererseits sah diese Frau aus wie eine etwas jüngere, deutlich schlankere und wesentlich elegantere Ausgabe der Muhme Alice... Bernhards pommersches Spökenkieker-Blut nahm das als einen Fingerzeig.
  "Nicht so groß, aber ich wollte fertig sein, bis meine Frau kommt! Ich werde doch Hilfe brauchen."
  Die Signora lupfte indigniert und amüsiert zugleich auf französische Art ihre linke zu einem fadendünnen Strich gezupfte Augenbraue. Sie hatte, nun ja, ihr bestimmtes Beuteschema, und wenn ein Kerl gleich im ersten Satz von seiner Frau sprach, dann weckte das ihren Instinkt als Jägerin und Sammlerin.
  "Ich habe  junge, starke Freunde - da ein paar! Gefallen mir. Non! Schulden mir Gefallen."
  Was für eine Beziehung war das, die sich da ergab? Bernhard war sich seiner Wirkung auf Frauen durchaus bewusst, aber eher sein unbewusster Stoizismus als seine bewusste Moral ließen eine andere Frau als Traute in seiner Gefühlswelt nicht zu. Er war jedoch Pragmatiker genug, der etwa anderthalb Jahrzehnte älteren Frau das Gefühl zu geben, sie könne seine mütterliche Beschützerin sein. Er nahm die mit einem gemütlichen Bett ausgestattete Kammer an, die sie ihm anbot, damit er seine verausgabten Kräfte mit gutem Schlaf regenerieren konnte. Er schleppte ihr die Einkäufe und machte ihr quasi den Hausmeister, was beim nachbarschaftlichen Umfeld natürlich die üblichen Verdächtigungen hervorrief. Andererseits hatte Frau Gandolfo einen flotten, azurblauen Alfa Giulia Super, mit dem sie ihre Favoriten gerne herumfuhr. Ein unbezahlbarer Vorzug für Bernhard, der immer noch keinen Führerschein hatte. Und die Favoriten, die ragazzi oder cipollini, wie Tiziana ihre Höflinge je nach Laune nannte, waren dann für Bernhard das eigentliche Himmelsgeschenk:
  Die vier Männer im Alter Bernhards waren in der Gegend geblieben, weil sie einerseits vitelloni (unverheiratete im Hotel Mama wohnende Müßiggänger) und andererseits gesuchte Meister ihres Fachs waren. Gleich am zweiten Abend nach ihrer Begegnung am Dorfbrunnen hatte die Signora sie in einer Bar an der Piazza von Pontedassio zusammengebracht:
  Franco, ein hageres, untersetztes Energiebündel mit einem bebrillten Professoren-Kopf auf einem dürren Hals hatte eine ape. Er war Schreiner und kannte sich auch mit Türen und Fenstern gut aus.
  Sandro war Elektriker und Monteur bei der staatlichen Stromversorgung und mischte unter seine offiziellen Aufträge in den Bergen manch privaten Zusatzverdienst durch Installationen und Reparaturen. Er war von beängstigender Schönheit, und die Gandolfo konnte Blicke der Begierde nur schwer unterdrücken. Sandro allerdings hatte bei ihren gemeinsamen Treffen nur noch Augen für Bernhard. Was dem wiederum nicht bewusst wurde.
   Enzo war gelernter geometra - also eigentlich Vermessungstechniker - aber im ländlichen Sprachgebrauch erhob ihn das im ligurischen Hinterland zum Quasi-Architekten. Enzo hatte eine Stimme wie Caruso und erledigte jede Arbeit mit einem Lied auf den Lippen. Er war am Bau ein Alleskönner, wenn es jemandem gelang, seinen phlegmatischen Habitus zu überwinden, den er mit einem pyknischen Körper und einer blauschwarz gefärbten Schiebedachfrisur manifestierte.
  Lucca, der jüngste und reichste von allen, war der schnellste und beste Fliesenleger der Täler. Ein immens fleißiger Einmann-Unternehmer mit einer angeborenen Kunstfertigkeit, die es ihm ermöglichte, Preise zu verlangen, die ohne Diskussion bezahlt wurden. Lucca hatte einen eigenen 7,5 Tonner und lebte tatsächlich noch unter der Fuchtel seiner Mutter; in einer herrlichen Villa auf einem Hügel unweit des Meeres, der Anfang der sechziger Jahre von einer mächtigen Autobahnbrücke der Autostrada dei Fiori überspannt worden war. Jetzt hatte der Luxus - je nach Jahreszeit – einen langen oder kurzen Mittagsschatten…
  Wer den Ligurern Reserviertheit und Mangel an Kontaktfreudigkeit nachsagt, wäre überrascht gewesen, wie schnell die Vier den Deutschen trotz der Sprachbarriere in ihrer Mitte aufnahmen. Gut, am Anfang war es die Gründung der Gefälligkeitsbank, der banca di favore, die das Miteinander erleichterte. Ihnen hatte so ein kreativer, zupackender Maurer, der vor altem Gemäuer nicht zurückschreckte, einfach noch gefehlt. Hinzu kam, dass Bernhard durch seine Lehr- und Wanderjahre in den Baukombinaten der DDR für diesen speziellen bargeldlosen Austausch von Dienstleistungen ohne nähere Erläuterungen prädestiniert war. Ohne diese "Nachbarschaftshilfe" war dort im Arbeiter- und Bauernparadies doch privat gar nichts gegangen. Hier war sie allerdings Bestandteil einer lukrativen steuerfreien Schattenwirtschaft.
  Die Gefälligkeitsbank hatte keine Buchhalter und trotzdem waren ihre Konten, nachdem die Vier in den Anfangsjahren so kräftig bei Bernhard eingezahlt hatten, im Laufe der späteren Jahre stets ausgeglichen. Jeder hatte seine speziellen Geschäftchen am Laufen, wo die anderen ihm von Nutzen sein konnten. Orte wie Castellinaria wären in den 1970ern ohne solche socii vermutlich dem Verfall ausgesetzt gewesen. Hier kam noch ein anderer Aspekt hinzu - eine sich aus der Arbeit in den Ruinen langsam festigende, bedingungslose Freundschaft höchst unterschiedlicher Männer.
   Es sollte jedoch bis zur Beerdigung der Francesa im Herbst 1996 dauern, ehe sie sich gegenseitig beim Wein eines gestanden: Dass nämlich nicht einer von ihnen jemals in die Venusfalle der mysteriösen Frau geraten war. Die meisten in der Gemeinde betrachteten die Fünf dennoch für immer und ewig als den männlichen Harem, il arem maschile, der Gandolfo. Und diese Legenden geistern deshalb auch heute noch als erregtes Raunen durch die Gassen von Castellinaria...
  Am 19. Dezember 1968 zog Bernhard bei der Signora aus und in sein eigenes Heim. Er machte sich keine Gedanken darüber, ob es seine Wirtin verletzen könnte, als er sie bat, Traute mit ihm gemeinsam zwei Tage später im Alfa vom Bahnhof in Porto Maurizio abzuholen. Er fragte einfach, und sie sagte zu, ohne auch nur mit den Klebe-Wimpern zu klimpern.
  Wie auch immer sich alle Beteiligten Bernhards Frau vorgestellt haben mochten, sie entsprach keiner dieser Erwartungen. Die Langbeinige mit einem Gardemaß von über 180 cm und der damals populären blonden Hippie-Mähne hätte ob ihrer Schönheit allen Grund gehabt, wie ein Model oder eine Discoqueen aus dem Zug zu steigen. Aber es war diese burschikose Natürlichkeit, mit der sie sich von eilfertigen Reisebekanntschaften im Zug verabschiedete, um dann die viel kleinere Patrizia Gandolfo herzlich zu umarmen. Sie dankte ihr für die Fürsorge, die sie ihrem Bernhard in den vergangenen Wochen hatte angedeihen lassen, als sei sie ihre Lieblingstante. Dass das zudem in einfachen italienischen Redewendungen geschah, überraschte auch ihren Mann, der ja selbst immer noch einzelne, gehörte italienische Worte mit deutschen mischte.
  Mag sein, dass die Signora - was ruhig bezweifelt werden kann - die Ankunft einer Rivalin erwartet hatte, aber als sie sich fast nicht aus der Umarmung dieser weiblichen Naturgewalt lösen wollte, beschloss sie - die Kinderlose - spontan eine blonde, deutsche Tochter zu haben, die sie um 25 Zentimeter überragte.
  Traute hatte soviel Ähnlichkeit mit Bernhard, dass man beide durchaus auch für Geschwister hätte halten können. Dazu gehörte neben der rein körperlichen auch Zähigkeit und immense mit ihrer Grazie kaschierte Körperkräfte. Als die Gandolfo automatisch versuchte, Trautes Koffer in den Kofferraum ihrer Giulia zu wuchten, bekam sie das alte von Lederriemen an der Maulsperre gehinderte Ding, das Traute sich wie ein Handtäschchen geschnappt hatte, nicht vom Boden. Tedeschi sonno titanici, dachte da die Signora bei sich.
  Bernhard, der es von seinen Baustellen gewohnt war, sich laut und auch manchmal erzwungen rüpelhaft durchzusetzen, hatte in Traute eine stille, intellektuelle Sicherheitsreserve. So war es typisch, dass seine Frau die Zeit genutzt hatte, sich seit dem Sommer mit Hilfe einer italienischen Arbeitskollegin nicht nur die Grundbegriffe der Sprache anzueignen, sondern auch mit typisch italienischen Gepflogenheiten vertraut zu machen.
  Nachdem Bernhard sie über die Schwelle ihres Luftschlosses getragen und mit ihr die erste Führung gemacht hatte, ging sie alsbald allein durchs Dorf und stellte sich bei allen, die ihr begegneten, artig vor. Sie erkundigte sich nach Kindern, Gesundheit und der Oliven- oder Weinernte. Vor allem die älteren Frauen sprachen anschließend von ihr, als hätten sie den leibhaftigen Weihnachtsengel gesehen.
  Bernhard und die ragazzi della banca favore hatten ganze Arbeit geleistet. Das hatte sich im Ort herumgesprochen, und beinahe jeder der Nachbarn war beiläufig mal vorbei gekommen und hatte sich das werdende Wunder angeschaut:
  Aus Schaden klug geworden, hatte Bernhard, nachdem er die zerfurchten Schotter-Aufschüttungen wieder angeglichen hatte,  sie mit einem Drahtgeflecht gesichert und dann erst zementiert. Der Estrich war auf eine elastische Schicht aus Folien und Teer aufgetragen worden und Lucca hatte obwohl er aus Kostengründen von überall her zwar hochwertige Fliesen-Reste zusammengetragen hatte, ein Meisterwerk an harmonisch abgestuften Ebenen gezaubert. Gerade weil nichts absolut neu war, sah das renovierte Haus aus, als sei es immer schon so edel gewesen.
  Sandro hatte nämlich aus einem historischen öffentlichen Gebäude in Peve di Teco, in dem er zu tun gehabt hatte, von Franco nach der Entkernung Wandverkleidungen und Paneele aus uraltem Eichenholz mit dessen ape abholen lassen. Dazu kam noch ein komplettes, dreiteiliges Halbrundfenster, das jetzt aus dem ligurischen Schlafzimmer der Kleiners den grandiosen Blick übers Tal auf das Meer öffnete. Eigens bestellt war in jenen Tagen die Sicht, denn  Korsika lag so nah und klar am Horizont, als könne man hinüber schwimmen...
  Eine Nachbarin hatte Bernhard das komplette aus dem 19. Jahrhundert stammende, geschnitzte Schlafzimmer samt Herrgottswinkel aus dem leer stehenden Haus ihrer Großeltern für ganze 50 000 Lire überlassen.
  Die Küche hatte natürlich keinen Einbau-Schick, aber sie war durchaus funktionell und  entwickelte mit ihren Wand hoch und auch auf den Arbeitsflächen verarbeiteten, handbemalten Kacheln einen recht gemütlichen Charme. Vorerst gab es ja außer den elektrischen Durchlauferhitzern in Küche und Bad nur für den Herd Gas aus Flaschen. An kalten Tagen musste also allein der großzügig bemessene Kamin in der Wohnzimmerecke zur Balkonterrasse als Wärmequelle reichen.
  Es war in den ersten Jahren wohl eine einfache Ferienwohnung  - mehr nicht. Aber Berthold hatte etwas sehr geschickt gemacht. Dort, wo weder Leitungen noch Armierungen unter Putz kaschiert werden mussten, hatte er die Mauern auch innen so gelassen, wie er sie errichtet hatte. Er ließ beispielsweise um den Kamin herum allein die Struktur der großen Steine für Burg-Atmosphäre sorgen und dekorierte sie mit alten Werkzeugen, Waffen und Gebrauchsgegenständen, die er bei seinen Arbeiten und Wanderungen gefunden hatte.
  Traute hatte ihn nach der ersten Besichtigung nur stumm an die Hand genommen und mit feuchten Augen angeschaut. Dann war sie nicht korrigierend, aber ergänzend auf ihre stille Art daran gegangen, dem Haus auch ein wenig weibliche Note zu geben.
  Natürlich war es auch Traute gewesen, die auf die Idee gekommen war, die Nachbarn und alle, die bei dem Wunder mitgewirkt hatten, am Abend vor Heiligabend zu einer typisch deutschen Weihnachtsfeier einzuladen. Sie hatte mit ihrer schönen Handschrift auf ihrem persönlichen Briefpapier mit Hilfe von Patrizia Gandolfo einen einfachen Einladungstext geschrieben und auch persönlich verteilt. Aus aufgeklaubten Olivenzweigen hatte sie einen schönen Adventskranz geflochten, und nun war auch klar geworden, wieso ihr Koffer dieses Gewicht gehabt hatte. Denn er war voller altrheinischem Weihnachtskram und Keksdosen gewesen. Es gab Stollen, Mutzemandeln, Nonnenfürzchen, dicke Wachskerzen, Lametta, Kerzenhalter und dergleichen. Bernhard hatte in Ermangelung eines Weihnachtsbaumes, der in jener Zeit in den Bergen Liguriens noch nicht aufgestellt wurde, eine kleine Zypresse im Garten mit Schleifen und Kerzen bestückt und - als die paar Glaskugeln nicht ausgereicht hatten - einfach die schönsten Zitronen und Orangen frisch von den eigenen Bäumen an Schleifen dazwischen gehängt.
  Alle kamen, und alle brachten etwas mit, wie es im armen Ligurien der Brauch war. Zwar hatte Traute im Waschtopf der Gandolfo ihre berühmte Erbsensuppe mit Bauchfleisch, gebratenem Speck und Croutons gemacht, um alle satt zu kriegen, aber das hätte für den heuschreckenartigen Heißhunger der Nachbarn längst nicht gereicht. Der aus einem fragwürdig aufgelösten Klosterbestand von Enzo ergatterte Refektoriumstisch vor dem Kamin geriet trotz der aus der Nachbarschaft herbeigeholten Stühle an die Kapazitätsgrenze und bog sich unter den Speisen: frische Laibe Bauernbrot, Flaschen mit mosto d'oro, der grasgrün trüben Erstpressung des extra vergine Olivenöls, Schinken und Sorpressa, Bauern-Taleggio, der so unweihnachtlich duftete, dass er auf dem Balkon verbannt wurde, sowie diverse Töpfe mit pesto (pistou), peperonada und Hasenragout für Berge diverser, natürlich hausgemachter Pasta, die bis in die späte Nacht nachgekocht werden mussten.
  Erst als alles verputzt war und dampfende Tassen coretto aufgetischt worden waren, kehrte mit dem durch Grappa "korrigierten" Kaffee weihnachtliche Ruhe ein. Einer der Nachbarn auf Urlaub von der Arbeit in Deutschland fragte, ob Traute und Bernhard nicht deutsche Weihnachtslieder singen könnten, worauf die beiden in den Garten hinunterkletterten, die Kerzen der Weihnachtszypresse anzündeten und - es war ja längst schon der 24. Dezember - Stille Nacht, Heilige Nacht, O du Fröhliche und Süßer die Glocken nie klingen zu den auf ihrer Terrasse versammelten Menschen hinauf sangen. Die ließen sich nicht  lumpen und stimmten dann ihrerseits die mit durch Mark und Bein sowie zu Herzen gehenden Kopfstimmen vorgetragenen, fremd anmutenden Choräle aus dem Appenin an. Was für eine Bergweihnacht!
  Als Traute und Bernhard nach dem Aufräumen endlich ins Bett gefunden hatten, waren sie sich beide sicher, noch nie in ihrem Leben so glücklich gewesen zu sein. Vor lauter Glück war an Schlaf gar nicht zu denken. Und so passierte es: Andere Umgebung, kein Stress durch Sex nach Thermometer und Kalender - nur ein Rausch der Sinne. Neun Monate später, nach einer diesmal absolut komplikationslosen Schwangerschaft wurde den Kleiners ein Sohn geboren. Obwohl beide eher agnostisch veranlagt waren, ließen sie ihn auf den Namen Sebastian taufen. - In memoriam des Santuario San Sebastiano, das in jener Liebesnacht so weihnachtlich feierlich vom Tal in ihr Schlafzimmer herauf geleuchtet hatte...


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