Sonntag, 17. Juni 2012

Der Lenz

Castellinaria Kapitel 5


Es gibt Menschen, bei denen fällt es selbst den gläubigsten Christenmenschen schwer, weiterhin an die Existenz eines göttlichen Plans zu glauben. Und selbst agnostische Moralisten zweifeln bei solchen Individuen an der Gerechtigkeit jener höheren Macht, der sie sich insgeheim oft anvertraut haben.
  So lange diese Menschen nicht als Diktatoren oder Verbrecher aus ihrem Umfeld heraus treten, lässt man sie in mitunter eitel pharisäerhafter  Selbstbespiegelung gewähren oder nimmt ihr Tun fatalistisch hin. So wie ein Bauer einen Hagelstrich aus heiterem Himmel auf sein reifes Kornfeld über sich ergehen lassen muss.
  Genau so ein Mensch war Lorenz Meester.
  Nun könnte man für die Art, mit der dieser durchs Leben ging und als beinahe Hundertjähriger immer noch ging, diverse soziologische Aspekte als Entschuldigung für seine Handlungsweisen aufführen:
  Durch zwei Weltkriege traumatisiert, Entsagungen überkompensierend, Verlustängste durch Raffsucht verdrängend und Liebesmangel durch hemmungslose Promiskuität ausgleichend – doch nichts trifft wirklich zu. Mag sein, dass sich  irgendein Dazugehörigkeitsgefühl durch seine diffuse Geburt im Grenzbereich zwischen den Reichen des Deutschen Kaisers und denen der Benelux-Monarchen nicht ausprägen konnte. Aber selbst daraus zog er noch einen Vorteil. Denn er entging im Status selbst gewählter Staatenlosigkeit hüben wie drüben der Einberufung.
  Darf man sich so einen Opportunisten, Kriegsgewinnler. Schieber, Anlagebetrüger und Urkundenfälscher als wahren Kotzbrocken vorstellen? - Man darf nicht! Denn Zeit seines Lebens belehrten einen Erscheinungsbild und  Auftritt dieses Charakter-Chamälions anscheinend eines anderen. Und so sitzen die im Alter da, die er am meisten ausgenutzt und ausgebeutet hat und leisten resigniert mit hasserfüllten Herzen eine Art Ahnenpflege, obwohl der vermeintliche Greis noch am Ende rüstig genug war, um alle Puppen konzentriert an jenen Fäden tanzen zu lassen. Er hielt diese auch noch ganz allein, und ohne zu zittern, fest in seiner Hand.
  Keiner - außer seinen italienischen Opfern, die ihn respektvoll mit Don Lorenzo anredeten – benutzte jemals seinen wirklichen Vornamen. Als er in diese Geschichte trat, war er bereits „der Lenz“. Was das Ergebnis eines Slogans war, den er für alle möglichen und unmöglichen Dienstleistungen schon vor der Währungsreform verwendet hatte:
  „Der Lenz ist da!“
  1954, als die Deutsche Nationalelf Fußball-Weltmeister geworden und das Deutsche Wesen demzufolge am Genesen war, saß der Lenz für eine vergleichsweise harmlose Urkundenfälschung sechs Monate Gefängnis ab. Sie waren nicht zur Bewährung ausgesetzt worden, weil er zwei Jahre zuvor eine Vorstrafe wegen organisierten Schmuggels an der Deutsch-Niederländischen Grenze kassiert hatte.
  Es war der verzweifelte Versuch, dieser Haftstrafe zu entgehen, der ihn in diese Geschichte führte. Die Urkundenfälschung hatte er im Zusammenhang mit einer Wohnhaus-Ruine begangen, die im Dunstkreis eines Klinik-Neubaus in Köln Lindenthal stand und erheblichen Veräußerungsgewinn versprach. Im noch absolut stabilen Souterrain dieses Hauses wohnte unter beinahe menschenunwürdigen Bedingungen eine Frau Körber mit fünf Kindern und wartete auf die Heimkehr ihres Mannes aus russischer Kriegsgefangenschaft. Die mussten natürlich raus.
  Als der gefälschte Räumungsbescheid wegen Einsturzgefahr aufflog und neben dem Straf- auch ein Zivilverfahren drohte, heiratete der gerade von seiner dritten Frau geschiedene Lenz die älteste Tochter dieser Frau in einer Blitzaktion, obwohl die erst 17 war. Er hätte sonst  vielleicht auch noch gestehen müssen, dass er sich das junge Ding schon gefügig gemacht hatte, als sie noch erheblich unter 16 gewesen war.
  Halt! Keine voreiligen Schlüsse! So anrüchig die Rahmenbedingungen für diese Eheschließung auch gewesen sein mochten, es handelte sich aus dem Blickwinkel der 17jährigen tatsächlich um eine Art Liebe, die – aufgrund der Unerschütterlichkeit, mit der diese zum Ausdruck gebracht wurde - auch der 47jährige im Laufe der Jahrzehnte zögerlich zu erwidern begann. Bis zu seinem Ende waren beide im wahrsten Sinne des Wortes zusammen und hatten sogar noch Goldene Hochzeit gefeiert.
  Die Ehe blieb jedoch kinderlos, was wohl daran lag, dass Lenzens Kinder aus den anderen Ehen bei der Trauung bereits wesentlich älter waren als die neue Braut. Heute ist von denen nur noch eine 72jährige Tochter übrig, die ihre Stiefmutter auf dem Weg zur Erbschaft als mehr oder weniger störend empfindet…
  So kam es also, dass der Lenz bereits Trautes Schwager war, als Bernhard in dem anderen Deutschland begann, der Spur der Steine zu folgen. Seinem Naturell entsprechend, hatte Meester nämlich bereits ein Auge auf Traute geworfen, ehe er begann, bei Hannelore überhaupt sexuell auf „seine Kosten“ zu kommen. Die Schwestern waren aber auch zu unterschiedlich:
  Hannelore war in den Augen des Nimmersatts so etwas wie ein pralles Marzipan-Schweinchen. Er konnte nur dosiert von ihr naschen, wollte er nicht Gefahr laufen, sich die Seele zu verkleben. Bei Traute, die noch auf langen Stelzen unter einem knochigen Hinterteil herumstakste wie das frisch geborene Fohlen eines teuren Rennpferdes, musste der Lüstling nur heimlich mit den Augen den leicht nach außen gebogenen Innenlinien der Oberschenkel nach oben folgen, um sicher zu sein, was da in ein paar Jahren auf ihn warten würde…
  Die Weichen hatte er ja schon unfreiwillig großzügig gestellt, indem er die übrigen „Kellerasseln“ – wie er sie bei sich nannte - in eine geräumige Etagenwohnung aus seinem Besitz umgesiedelt hatte. Als der neue Schwiegervater von Lenz dann aus einem Lager hinter dem Ural nach Köln zurückkam, war er zu überwältigt von der „guten Partie“, die seine Älteste gemacht hatte, um anderes wahrzunehmen.
  Er sah die im Vergleich zu früher deutlich verbesserten Lebensverhältnisse der Seinen, nahm den leichten Fahrerjob, den sein Schwiegersohn ihm angesichts des körperlichen Zustandes angeboten hatte und hörte im Übrigen nicht auf, den Lenz zu loben.
  Selbst als die Traditionszeitung der Domstadt, die damals noch trotz ihrer eindeutigen Adenauer-Freundlichkeit investigativen und objektiven Journalismus publizierte, den Lenz unter der Überschrift „Der Absahner“ an den Pranger stellte, ließ Eddie Körber auf seinen Schwiegersohn nichts kommen. Andeutungen seiner Zweitältesten, der Mann von Hannelore versuche immer wieder an ihr rumzufummeln, überhörte er genauso geflissentlich, wie das Rumoren aus dem Inneren seines Körpers.
  Der charmante, großzügige und weltmännische Meester  hatte es als seine persönliche Aufgabe betrachtet, den zum Hänfling verkümmerten Schwiegervater wieder aufzupeppen. So häufig standen die damals so begehrten Fresskörbe im Porzer Wohnzimmer, dass seine Familie von neidischen Nachbarn schon die „Fress-Körbers“ genannt wurden. Mutter Körber platzte innerhalb kurzer Zeit aus allen Nähten. Der durch die Gefangenschaft beeinträchtigte Stoffwechsel ihres Mannes jedoch unterlag der Gier, die erlittenen Hungerjahre möglichst in einigen Monaten ungebremster Orgien aufzuholen. Eddie verstarb nach gerade mal siebzehn Monaten in Freiheit am kollektiven Versagen seiner inneren Organe. Erst bei der Beerdigung wurde dem Lenz eigentlich bewusst, dass sein Schwiegervater vier Jahre jünger gewesen war als er. Er hatte ihn immer so wahrgenommen, wie er ihn gesehen hatte – als Mann kurz vor dem Eintritt ins Rentenalter.
  Einmal in die Öffentlichkeit geraten, ohne größeren Schaden zu nehmen, fing der Lenz an, seine zwielichtige Berühmtheit zu genießen. Er begann seinen Kleidungsstil zu wandeln und suchte immer häufiger die Nähe einflussreicher Politiker.  Im Habitus war er bald von jenen kaum mehr zu unterscheiden, die er sich durch die eine oder andere kräftige Spende gewogen machte. Zu Beginn der 1960er war Lorenz Meester ein festes Glied im so genannten „Kölschen Klüngel“.
  „Man kennt sich, man hilft sich“, pflegte der Lenz sein Idol Konrad Adenauer gerne zu zitieren. Kein Zweifel, er war stadtfein geworden, und dafür, dass er es bleiben konnte, sorgte seine Frau fürs Grobe, Gerda Janke.
  Die sehnig elastische Fatalistin mit der kurzen, nach hinten gekämmten, brünetten Bubikopf-Frisur war aus diffuser Herkunft 1950 an der Seite vom Lenz aufgetaucht und von dort nicht mehr gewichen, obwohl sie da wohl kaum älter gewesen sein konnte als Hannelore Körber bei der Hochzeit mit ihrem Chef.
  Scharf geschnittene Züge von böser Schönheit signalisierten den Männern in diesem Spielfeld von Geld und Macht, dass sie es trotz der nur 160 Zentimeter Körpergröße hier mit einem gefährlichen Sprengstoffpaket zu tun hatten. Wer sie verärgerte, bekam auch Ärger mit dem Lenz – das war klar.
    Im Kanon hatten sie den Lebensstil der Wirtschaftswunder-Jahre assimiliert und traten nun als Erfolgsduo auf. Hannelore hatte als erste Lektion begriffen, dass weder Eifersucht noch Stutenbissigkeit etwas am engen Verhältnis von Gerda und Lenz ändern konnten. Wenn es zum Skifahren nach Obergurgel ging, war Gerda dabei. Wenn sie an Sommerwochenenden Geschäftsfreunde zu einer Rheinpartie mit dem neuen Riva-Boot luden, brillierte Gerda als Femme fatale im Mini-Bikini.
  Während Hannelore und Lenz quasi Blümchen-Sex zelebrierten, hielt Gerda Janke ihren Körper für all jene Varianten fit, die der Lenz mit seiner niedlichen Braut nicht praktizieren wollte. Hannelore, die zwar naiv, aber keinesfalls blöd war, arrangierte sich nachdem sie nachts auf einer Reise einmal heimlich vom Balkon ihres Hotelzimmers in das benachbarte der Sekretärin gelugt hatte. Insgeheim war sie Gerda sogar dankbar, dass es ihr auf diese Weise erspart blieb, diverse Körperpositionen, -Teile und – Öffnungen darzubieten.
  Hätte Gerda andererseits geahnt, dass der Lenz in Stellungen, bei denen sie ihn nicht mit ihrem harten Blick fixieren konnte, detailliert an Traute dachte, wäre es vielleicht zu einer Gewalttat gekommen…
  Aber zu der kam es genau so wenig wie zu der „Menage à quatre“ – wie man so etwas im immer noch frankophilen Cologne hätte nennen können. Denn auf einmal war in aller Dunstkreis ein frisch „rübergemachter“ Beau aus der DDR aufgetaucht, der die Traute hofierte, aber von Gerda derart angeschmachtet wurde, dass die sich dem Lenz fortan im wahrsten Sinne des Wortes verschloss.
  Hätte die Erläuterung der latenten lenzschen Liederlichkeit eines besonderen Beispieles bedurft, so wäre dies der Fortlauf der Handlung in den Jahren bis zur Hochzeit von Bernhard und Traute gewesen. Leute wie Lenz können noch so reich und mit den tollsten Häusern und Frauen versorgt sein – sie werden nie den Neid und die Missgunst los, wenn ein anderer ähnliches ohne ihre ausdrückliche Hilfe schafft. Lenz fehlte ja auch das Gen des gönnen Könnens.
  Bernhard hingegen war ein Typ, der niemanden brauchte, dessen Geradlinigkeit im Gegenteil bei solchen Menschen, die ihn vom rechten Weg abbringen wollten, als anhaltende Provokation empfunden wurde. Natürlich nahm er die Aufträge, die ihm der Lenz auf diversen im Rheinland verstreuten Baustellen zuschanzte, gerne an. Doch die Absichten, die damit verknüpft waren ignorierte er. Er neutralisierte diese mit exzellenter, schneller und verlässlicher Maurerarbeit. Dabei darf ruhig spekuliert werden, dass er das häufige und vom Lenz gewollte Aufeinandertreffen mit Gerda genauso von vornherein durchschaute wie die mit den Engagements einhergehende Trennung von Traute…
  In Lenz fand eine Implosion unbändiger Wut statt, als er im März 1970 nicht nur von dem Luftschloss in Ligurien und der Schwangerschaft von Traute erfuhr. Das war der Höhepunkt unbequemer Niederlagen. Wen wunderte es da noch, dass der Lenz auch ein schlechter Verlierer war:
  Die von Bernhard nicht erhörte und dem Lenz gegenüber nun zugeknöpfte Gerda hatte sich mit einem international operierenden Baulöwen aus Düren eingelassen und ihn gleich geheiratet, nachdem sie an sich gegenseitig als liebenswert eine unüberbietbare Skrupellosigkeit festgestellt hatten.
  Bei eben diesem Bauunternehmer heuerte Bernhard auf Vermittlung der ihn immer noch begehrenden Gerda als gut und nun korrekt und regelmäßig bezahlter Bauleiter an, um seiner Familie die nötige Sicherheit zu geben. Sein erstes Projekt war ein gigantisches Bauvorhaben in Süd-Spanien. Ein Führerschein war nun unerlässlich, denn vor Ort wartete ein Dienstwagen. Auch ans viele Fliegen musste er sich erst gewöhnen.
  Der Lenz jedoch – nun über sechzig – wurde kein bisschen weise. Er schnappte sich seine 30jährige Hannelore und reiste mit ihr nach Castellinaria, wo er die Abwesenheit von „Don Bernardo“ nutzte, um sich mit Bargeldbündeln als „Don Lorenzo“ zu etablieren. Als Bernhard erstmals Urlaub von seiner Großbaustelle nehmen konnte und wieder nach Castellinaria kam, gehörte seinem Schwager bereits ein Dutzend der aussichtsreichsten Häuser…





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