Freitag, 8. Juni 2012

Der Held der Arbeit


 Castellinaria Kapitel 4

   Es ist müßig, rechten zu wollen, wenn der Krieg die Bestie Mensch aus den Käfigen der Zivilisation lässt. Sicher waren die Menschen der Uckermark, die in jenen Jahren Opfer willkürlicher Gewaltakte durch Angehörige der Roten Armee wurden, genauso unschuldig und am Krieg nicht beteiligt, wie die ukrainischen Juden, die bis zur Kapitulation - und trotz mangelnder Tonnage für die eigenen, ostpreußischen Flüchtlinge – von der SS über die Ostsee zur Vernichtung verschifft worden waren. Aber Angst, Entsetzen, Leid  und Traumata sind dann ja Privatsache. Und obwohl sich alle immer wieder geschworen hatten, dass so etwas nie wieder passieren dürfe, geschehen die Gräueltaten bis heute, und ihre Opfer werden immer noch alleine gelassen.
  Bernhards Kindheit endete endgültig mit dem Erscheinen der 'schwarzen Frau'.
Die Diphtherie-Patienten der Familie Kleiner schienen gerade auf dem Weg der Besserung, als sie in gellend hohen Tonlagen wehklagend ins Dorf gehastet kam. Sie war derart traumatisiert, dass sie keine Rücksicht darauf nahm, ob das, was sie zusammenhanglos hervorstieß, für Kinderohren geeignet war oder nicht:
  Sie und die Muhme Alice seien von neun Rotarmisten zwei Tage lang vergewaltigt worden. Die Muhme habe man dann mit Bajonetten abgestochen, weil sie sich von Anfang an mit Beißen, Kratzen und Treten gewehrt hätte. Sie selbst habe sich zunächst immer ohnmächtig gestellt, was die Peiniger aber gar nicht abgehalten habe. Den auf dem Rückzug desertierten Verlobten von der Muhme hätten sie nackt aus ihrer Hütte gezerrt und bei lebendigem Leib unters Eis des Weihers gestoßen, bis er nicht mehr aufgetaucht sei. Dabei wären die Russen an der Kate von der Alice schon beinahe vorbei gewesen. Alle, die sie in diesen Wochen besucht hätten, seien ja immer von hinten durch den Birkenhain zu ihr gekommen, damit man keine Spuren sähe. Doch die Russen hätten eben eine einzelne  Spur gesehen, die über  das Feld führte und wieder zurück. Das hätte sie neugierig gemacht. 'Wo ist anders Frau?' hätten sie deshalb auch immer wieder gefragt und alles in der Kate der Muhme auseinander genommen.
  Bernhard sah entsetzt zu den mit Filz und Stroh gestopften Stiefeln seiner Mutter hinunter, die er ja immer noch gegen die Kälte trug. Sind es seine Spuren gewesen, die der Muhme zum Verhängnis geworden waren? Das Blut stieg ihm in den Kopf und gleichzeitig hatte er das Gefühl, er sei in eine Zwinge geraten, die von einer höheren Macht unbarmherzig zugedrückt wurde.
  Nach ihrem Schreikrampf verstummte die schwarze Frau, aß und trank nichts mehr, wanderte bis zum Frühjahr nur noch stumm herum und schüttelte dabei mit Pausen immer wieder heftig den Kopf, als wolle sie ein lästiges Insekt abschütteln. Dann war sie eines Tages spurlos verschwunden.
  So bald es die Temperaturen zuließen, verbrachte Mutter Kleiner "die gefährlichen" Tages- und Nachtzeiten mit den Kindern in mehrere Decken gehüllt auf dem Friedhof, weil jemand erzählt hatte, die Russen seien so abergläubisch, dass sie – egal wie betrunken - auf einem Friedhof niemanden vergewaltigten.
  Dieser Unsinn kostete dem Hannele das Leben. Die Diphtherie hatte wohl ihr kleines Herz geschädigt. Fraglich, ob sie daheim im Bett überlebt hätte. Aber gegen die zehrende Kälte der Friedhofsnächte konnte sie keine Kräfte mehr mobilisieren. Zu der Schuld, die er möglicher Weise mit Muhme Alice auf sich geladen hatte, musste Bernhard nun dem toten Vater sein Versagen als Beschützer der Kleinen eingestehen. Er war ganz allein mit seiner seelischen Last, denn die Mutter war nach Hanneles Tod in eine tiefe Dauer-Depression versunken, aus der sie mit überdrehter Kompensation bis zu ihrem viel zu frühen Tod 1952 nur noch gelegentlich an sonnigen Frühlings- und Sommertagen auftauchte. Den beiden Großvätern, denen es wieder erstaunlich gut ging, kam es hingegen nur noch aufs eigene, tägliche Überleben an.
  Als die Russen dann schließlich auch nach Pangerow gerieten, waren diese weit weniger schrecklich als befürchtet. Offenbar war der Rausch der Gewalt schon am Abklingen, oder es stimmt, was Bernhards damalige Wahrnehmung mutmaßte. Dass nämlich von der kämpfenden Truppe weit weniger Gefahr ausging, als von der ideologisch motivierten, zweiten Etappe mit den Polit-Offizieren und den Beschaffungsbrigaden. Noch nachdem die  DDR schon gegründet war und die Rotarmisten quasi in den Stand der Befreier erhoben worden waren, hielt sich der Hass der vorpommerschen Bevölkerung auf diese spezielle Sorte Russen besonders hartnäckig. Auch Bernhard hatte da schon seine spezifische Erfahrung gemacht.
  Weil die Frühlingsboten nach dem strengen Winter doppelt stimulierend wahrgenommen und die Zirbeldrüsen stärker reagierten, ließ auch das unterbewusste Sicherheitsverhalten speziell der Kinder nach. Fast war der ländliche Tagesablauf zur Normalität zurückgekehrt, nur dass Bernhard statt dreißig, vierzig bloß noch ein paar registrierte Gänse zum Hüten hatte.
Verträumt saß er mit dem Rücken an einer Kopfweide unweit des Bewässerungsgrabens, der zum Dorfteich führte. In Momenten, da er sich unbeobachtet fühlte, holte er jetzt oft die silberne Glashütten-Savonette seines Vaters hervor, ließ den Deckel aufspringen und sprach zum Zifferblatt, wie er es im Angesicht seines Vaters nie getan hätte:
  "Wieso konnte die Muhme mir aus der Hand, meine Zukunft sagen? Wieso konnte sie aus ihren eigenen Händen nicht lesen, was ihr selbst geschah?"
  "Ich hab' doch für das Hannele alles getan. Sogar meine Ration Sanddorn hat sie gekriegt. Bitte, bitte sei mir nicht mehr böse und lass Mammi wieder lachen!"
  Bernhard konnte nicht ahnen, dass der Deckel der Taschenuhr wie ein Blendspiegel die Sonne direkt in die Augen eines russischen Straßenpostens lenkte. Der fühlte sich provoziert und rannte auf den Knaben zu. Als er nah genug heran war, schrie er:
  "Uri, Uri! Davai, davai!"
  Bernhard wollte aufspringen und davon rennen, aber da sah er, wie der Posten bereits seinen Karabiner auf ihn anlegte:
  "Uri, Uri! Davai, davai!", sagte der noch einmal sehr nachdrücklich und streckte die Hand nach Bernhards Uhr.
  "Das ist die Uhr von meinem Pappi!", schrie der Knabe, aber da war sie schon in dessen  Kasack verschwunden. Bernhard war es egal, dass er die Gänse im Stich ließ. Er lief neben dem untersetzten und krummbeinigen Kerl her, der ihm auf einmal trotz des Gewehrs keine Angst mehr machte.
  "Gib mir die Uhr zurück!"
  Sie waren jetzt an dem Holzschott angelangt, das den Abfluss aus dem Dorfteich regelte. Da steckte auch ein hölzerner Torfspaten im Modder. Ohne zu überlegen, packte Bernhard den, riss ihn hoch und drosch mit aller Kraft, die in seinem Knabenköper steckte, dem Russen auf den Rücken...
  Die Gänse hörten auf zu schnattern, die Hunde bellten nicht mehr. Auf einmal schien die ganze Welt verstummt. Gewalt gegen einen russischen Soldaten - das bedeutete sofort zu vollstreckende Todesstrafe...
  Bernhard blickte bestürzt auf das marode Holzteil in seinen Händen. Da peitschten schon auf Russisch Kommandos über die Straße. Zwei Soldaten, die ebenfalls am Ortseingang Wache schoben, packten den Knaben an den Armen und zerrten ihn in die Mitte der Fahrspur. Alles ging so schnell und war so unwirklich, weil es so gar nicht zur Heiterkeit des Frühlings passen wollte. Doch noch immer war die Wut Bernhards größer als seine Angst. Die Empörung über das Unrecht überwog die sichere Erkenntnis, dass er jetzt sterben müsse.
  Der Rotarmist hob das Gewehr und zielte auf die Brust des Jungen. Bernhard steckte in einem Wahrnehmungstunnel, sonst hätte er die Bremsen und den Motor eines Fahrzeuges hinter ihm gehört.
  "Stoi!"
  Die helle, scharfe Kommando-Stimme registrierte er nur, weil der Mann, der ihn erschießen wollte, plötzlich blass geworden, die Waffe sicherte und ihren Lauf zu Boden senkte.
  "Was ist hier los?" Ein großer blonder Offizier in Breeches und Reitstiefeln blickte auf Bernhard herab und herrschte ihn in gutturalem Deutsch an.
  "Er hat mir die Uhr von meinem Vater weggenommen", sagte Bernhard mit ersterbender Stimme und fing endlich an zu weinen, wie es einem Kind seines Alters zustand.
  Der große blonde Offizier hob Bernhard hoch und setzte ihn so auf seine Unterarme, dass zwei ziemlich stattliche Brüste gegen seinen Bauch drückten:
  "Wo ist dein Vater?"
  "Er liegt auf dem Feld der Ehre", ahmte Bernhard den Euphemismus der Erwachsenen nach, was seine Hilflosigkeit nur unterstrich.
  "Du meinst tot. Als Soldat gefallen?"
  "Ja!"
  "Und das ist dein letztes Andenken?"
  "Nein! Das ist wegen der Zeit. Damit ich sie nicht vergeude, weil ich doch auf die Kleinen aufpassen muss. Und das Hannele ist ja schon tot und die Muhme auch - obwohl ich alles versucht habe. Die Diphtherie." Es sprudelte nur so aus Bernhard heraus, weil auf einmal erst die Todesangst einsetzte.
  "Muss ich jetzt sterben?"
  Die mütterliche Fürsorge erhielt bei dem Wort Diphtherie einen spürbaren Dämpfer, und der weibliche Offizier stellte den Knaben schnell wieder auf den Boden.
  "Nein! Das musst du wohl nicht."
  Die Frau ging auf den Posten zu und stellte ihn offenbar mit knapper, befehlsgewohnter Stimme zur Rede. Obwohl sie ihren Untergebenen ohnehin schon überragte, schien jener noch zu schrumpfen, als er kleinlaut die Uhr aushändigte, und von den anderen beiden davon geführt wurde.
  "Besser, du spielst nicht mehr mit ihr herum!"
  Und mit einem 'davai, davai!' schwang sie sich wieder in den Führerstand des Armeelasters. Weder seinen verhinderten Henker noch seine Lebensretterin sah Bernhard jemals wieder.
 
  Die wenigen, noch verbleibenden Wochen eines Menschenlebens im Krieg machten Bernhard wie viele Kinder jener Jahrgänge zu einem ernsten, jungen Menschen. Introvertiert, wortkarg, aber von einer scharfen Aufmerksamkeit geprägt, glitt der Bauernsohn in den Nachkriegsjahren mit wachsender Körperkraft und zunehmender Körperlänge durch ein spezielles Raum-Zeit-Kontinuum. Die ideologisch geschulten  Lehrkräfte des 'neuen Deutschlands', die sein striktes Verhalten als besonderes, linientreues Bewusstsein missverstanden, betrachteten ihn als pädagogisch wertvolles Vehikel für ihre eigene eifernde Beflissenheit. In Wirklichkeit war es aber so, dass es Bernhard einfach keine Mühe machte, die geforderten Standards einzuhalten. Ob im Klassenzimmer oder auf dem Sportplatz, bei der FDJ oder bei den Ferien-Einsätzen - er war das Idealbild eines jungen Pioniers und wurde mit Auszeichnungen überhäuft. Und was er bei all dem tatsächlich dachte, vertraute er bis zu Pubertät über das Zifferblatt seiner Uhr nur dem Geist des Vaters an.
  Denn im selbsternannten Arbeiter- und Bauernparadies passierte es, dass die Kleiners bei der ersten übereilten Bodenreform ihr Land zunächst zu- und dann wieder abgesprochen bekamen. Denn nichts anderes war die zwangsweise Eingliederung in die LPGs, die Landwirtschaftlichen Produktions-Genossenschaften doch gewesen - als rigorose Enteignung. Irgendwann gegen Ende der 1950er hatte er einmal im Kino-Vorprogramm einen dieser unsäglichen Selbstlob-Propagandastreifen zu den LPGs gesehen. Da wurden der Achtstunden-Tag und der pünktliche Feierabend für die Bauern als revolutionäre Errungenschaft gefeiert. Aus der flackernd erhellten Dunkelheit erschall ein einzelnes, herzhaftes Gelächter und Beifallklatschen. Das war Bernhards erste und einzige politische Reaktion in zehn Jahren als Bürger der DDR. Hatte er doch schon als kleines Kind gelernt und erfahren, dass die natürlichen Abläufe den Stundenplan auf einem Hof prägten, und dass der Ertrag einzig und allein vom Fleiß und persönlichen Einsatz des Bauern und seiner ganzen Familie abhing. Die agronomische Planlosigkeit der sozialistischen Planwirtschaft hatten  dann im Falle des Verzugs immer wieder - der Leistungsbilanz wegen - die jungen Pioniere durch Ferienverzicht mit freiwilligem Ernte-Einsatz ausbaden dürfen.
  Aber zu diesem Zeitpunkt existierte ja die Bauernfamilie Kleiner schon nicht mehr. Obwohl ihm alle offiziellen Stellen schon aus propagandistischem Interesse die höhere Schule und ein Studium nahe gelegt hatten, begann Bernhard nach dem frühen Tod der Mutter 1953 das Maurer-Handwerk zu erlernen. Er war 1950 mit der depressiven Mutter und dem weiterhin kränkelnden Bruder nach Strausberg gezogen, wo der KPD-Opa, der inzwischen SED-Genosse geworden war, Wohnung und Aufgabe gestellt bekommen hatte.
  Der SPD-Opa hatte kurz davor die Erkenntnis nicht überlebt, dass die Ostdeutschen von einem Faschismus in den nächsten geraten waren. Als bei einem ländlichen Sportfest, an dem sein Enkel aussichtsreich teilnehmen sollte, vor den Wettkämpfen riesige Plakate mit den Konterfeis von Otto Grotewohl (einem ehemaligen SPD-Mann) und Walter Ulbricht auf den Sportplatz getragen worden waren, hatte er sich dermaßen  in Rage und Sauerstoffmangel geredet, dass er noch auf der Tribüne einem Herzinfarkt erlegen war.
  Als Beherrscher seiner eigenen Zeit und Wahrer der privaten Räume in einer gänzlich entprivatisierten Gesellschaft begann Bernhard in den Folgejahren systematisch Kraft und Körper zu kultivieren. Das hatte fast schon etwas Metaphysisches, denn die jungen Aspiranten wurden kaserniert, drangsaliert und in einer Form ausgebeutet, wie es selbst der kapitalistische deutsche Klassenfeind in diesem Stadium der zweigeteilten Geschichte, im „Wirtschaftswunder“, bei Lehrlingen nicht mehr gewagt hätte. Bernhard überstand diese ersten vierundzwanzig Monate seiner Lehre, weil er jeder einzelnen Erfahrung an Demütigung und Kasteiung eine Bedeutung beimaß, die ans Rituelle grenzte. Die Steine und 'die Spur der Steine' als Metapher wurden zu seiner Bestimmung - seiner Lebenslinie.  
  Wenn er später nach der Wiedervereinigung den von den DDR-Bonzen so geschmähten und 23 Jahre lang gebannten DEFA-Film von Frank Beyer mit Manfred Krug aus dem Jahr 1963 immer und  immer wieder ansah, dann liefen dem harten Bernhard die Tränen herunter. So nah kam die Handlung dieses Streifens seinen eigenen Erlebnissen.
  Schon im dritten Jahr hatte er sich auf seine Weise einen Sonderstatus erarbeitet. Als Lehrling bereits mehrfach für vorbildlichen Arbeitseinsatz ausgezeichnet, wurde er nun unter den Erwachsenen schon mit 18 zum "Arbeiter des Monats" gekürt. Die ihm in verschiedenen Brigaden und Kombinaten vorgesetzten Poliere erkannten und förderten seine besondere Neigung und Hinwendung zu historischem Mauerwerk. Sie verstanden eine seiner wenigen, flapsig hingeworfenen Bemerkungen nur zu gut, auch wenn sie sich selbst nicht trauten, dieser ideologisch zuzustimmen:
  "Der Plattenbau macht die Maurer platt!"
  Als sei er eine Art Reaktionsbeschleuniger gewesen, passierten merkwürdige Dinge in den Brigaden und Kolonnen, denen sich Bernhard anschloss. Sein konzentriertes Zupacken erhöhte schleichend das Arbeitstempo in seinem Umfeld. Seine inneren – seit der Kindheit stetig präzisierten – Zeitvorgaben wurden nun auf das Tagwerk eines Maurers ausgerichtet. Den Verantwortlichen in den Kombinaten fiel das direkt erst auf, als die von Bernhards Arbeitseifer betroffenen Genossen damit begonnen hatten, ihn auszugrenzen.
  Und dann entpuppte er sich auch noch als Schlaumeier und widersprach einem vorgesetzten Polier und KPD-Veteranen.
  Es ging um einen kleinen Glockenturm an einem der historischen Gebäude von Stralsund, der bei dem einzigen Bombenangriff im Oktober 1944 zunächst unbemerkt in Mitleidenschaft gezogen worden war. Erst als eine parteinahe Institution Anspruch wegen mangelnder Büroräume auf den gesamten Gebäudekomplex angemeldet hatte, entdeckte man bei der allgemeinen Sanierung die feinen netzartigen Risse und die dadurch bedingte Einsturzgefahr des Türmchens. Besonders die Bedrohung durch die Tonnenschwere Glocke forderte eine radikale Lösung, weil mit einem entsprechenden Kran durch die Enge nicht heranzukommen war.
   Denkmalschutz - noch dazu als Erinnerung an das glorreiche kapitalistische Wirken der Hanse – war ja nicht gerade eine Stärke der SED-Genossen. Also beschlossen sie, auf Vorschlag des Poliers eine rasche gezielte Sprengung, von der die Bevölkerung erst hören würde, wenn es bereits gekracht hätte.
  Bernhard war ein noch nicht einmal zwanzigjähriger Geselle, als er seinen Einwand wagte. Wieso man in einer Hafenstadt mit Werften und Stahlverarbeitung sei, wenn man deren Wissen nicht anwendete? Bernhard konnte unheimlich schnell und präzise zeichnen, und so entstand innerhalb von ein paar Minuten, was ihm durch den Kopf geschossen war:
  Er zeichnete dem Türmchen ein stählernes Rohr-Korsett, das zugleich Stütze für die Schienen einer von einer Werft geliehenen Laufkatze sein sollte. Die Laufkatze würde die Glocke in beinahe gleicher Höhe versetzt auf ein Podest im bereits sanierten oberen Stock des Hauptgebäudes transportieren. Dort würde sie für die Dauer der Maurerarbeiten im Inneren des Türmchen-Korsetts abgestellt.
  Der Polier tippte sich, den Blick streng auf Bernhard gerichtet, mehrmals hart an die Stirn:
  „Und womit willste det allet bewejen, wenn wa noch nich ma nen Kran hia rin bekommen.“
  „Wie die Pharaonen - mit Muskelkraft und schiefen Ebenen!“
  Der begleitende Architekt war nach statischen Berechnungen von Bernhards Idee begeistert, und wenn es im real existierenden Sozialismus eine Tugend gab, dann war es die durch Fehler der Planwirtschaft generierte Improvisationsfähigkeit. Laufkatze, Rohre und Schienen zu beschaffen, erwies sich dann als weitaus leichter, als das Überwinden der menschlichen Barrieren. Die Bauarbeiter und Maurerkollegen sollten erst ohne Murren ihre Körperkräfte einsetzen, als Bernhard den stärksten von Ihnen beim Ziehen der Laufkatze zum Duell herausgefordert und den Zweizentner-Mann mit scheinbarer Mühelosigkeit übertroffen hatte.
  Die Arbeit erwies sich im wahrsten Sinne des Wortes als der Mühe wert, weil sie nur eine Woche länger erforderte, als Sprengung, Abtransport des Schutts und Schließen der Baulücke dies getan hätten. Die ganze Brigade bekam zwei Tage Sonderurlaub. Polier und Architekt wurden eigens belobigt. Bernhard jedoch wurde an seinem zwanzigsten Geburtstag das rote Bändchen mit dem Silbernen Stern an die Brust geheftet, das ihn als „Held der Arbeit“ auszeichnete. Seine Jugend und die im Verhältnis dazu  besonders hoch erscheinende  Prämie von 10 000 Mark waren natürlich Anlass die Propaganda-Trommel kräftig zu rühren und jede Menge Neider auf den Plan zu rufen.
  Fortan galt er natürlich als Muster-Genosse und Streber, was ihn noch weiter isolierte. Der staatlich verordneten Gleichmacherei waren Neid und Missgunst keinesfalls erlegen, und ein Kolonnenführer, dem man widerspricht, vergisst zuletzt.
  Im Sommer 1957 fand sich Bernhard in quasi einsamer Mission und mit dem hinter seinem Rücken kreierten Spitznamen „Ruinen-Bernd“ auf der schönen Insel Rügen wieder. Doch was insgeheim vielleicht von den lieben Genossen als Strafversetzung ausgeheckt worden war, sollte der „Freimaurer“ rückblickend als die schönsten Jahre in der DDR empfinden.









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