Sonntag, 24. Juni 2012

Traute


Castellinaria Kapitel 7

Die, die nur nach dem Äußeren eines Menschen gehen, machen es sich oft bei ihren Beurteilungen wissentlich zu leicht. Das Vorurteil, eine Frau müsse nur gut genug aussehen, um Erfolg und Glück im Leben zu haben, hält sich sogar bei intelligenteren Menschen. Traute Körber war, bis sie sich endlich die Liebe ihres Lebens erarbeitet hatte, das Opfer multipler Vorurteile:
 
  Vorurteil 1: Wer einmal im Keller gehaust hat, bleibt meist auch ein Kellerkind - also sozial unterste Schublade.
  Als Familie Körber 1943 in Köln ausgebombt und  ins Bergische Land auf einen Bauernhof umgesiedelt worden war, musste die dreijährige Traute an der Hand ihrer älteren Schwester Hannelore schon große Strecken auf eigenen Füßen zurücklegen. Die Mutter schob den Kinderwagen mit den anderthalb jährigen Zwillingen Rolf und Renate und einen Bauch vor sich her, aus dem in zwei Monaten Tochter Nummer vier schlüpfen sollte: Vielleicht das Abschiedsgeschenk von Eddie Körber, der kurz nach seinem finalen Zeugungsakt auf möglicher Weise nimmer Wiedersehen an die Ostfront geschickt worden war.
  Die Demütigungen, die die Stadtkinder bis ein Jahr nach Kriegsende dort von der Landbevölkerung erfuhren, waren nichts gegen die Wohnverhältnisse und den Hunger, den sie trotz fleißiger Erntearbeit zu erleiden hatten. Der Bauer hatte ihnen eiligst den muffigfeuchten Unterbau einer Scheune frei geräumt. Plumpsklo und Pumpe zum Waschen lagen auf der anderen Seite vom Hof.
  Um die Versorgungsverhältnisse ihrer Kleinen bisweilen ein wenig zu verbessern, ließ Mutter Körber es zu, dass der Bauer ihr gelegentlich im Stall oder, in einem vermeintlich unbeobachteten Moment bei der Pause von der Feldarbeit die Röcke über den Hintern hochschlug. Was er dann machte, kannten die beiden großen Mädchen, die mehrfach spionierten, von Hengst und Stute auf der Weide.
  Durch eine Fehlmeldung kurz vor Weihnachten 1946 hieß es, sie könnten in ihre alte Wohnung zurück. So hoffnungsfroh waren sie gewesen, von dem Bauernhof fort zu kommen, dass sie eine Rückversicherung gar nicht in Erwägung zogen. Zu sechst standen sie mit ihrer armseligen Habe und löchrigen Klamotten vor ihrem einstigen Wohnhaus, das allerdings immer noch so aussah wie nach dem Bomben-Einschlag. Ein Zahlenverdreher bei der Straßennummer hatte sie zum zweiten Mal obdachlos gemacht.
  Bis 1947 lebten sie folglich in einer zum Massenquartier umfunktionierten Kaserne. Sie teilten die Stube mit einer Kriegswitwe, die zwei kleine Buben hatte. Das Zusammenleben war ein Alptraum. Hygiene und Privatsphäre konnten nur mit erheblichem Kraftaufwand bei der Selbstdisziplinierung erreicht werden. Die beiden Frauen vermochten immerhin jedoch im Wechsel einer bescheidenen Erwerbstätigkeit nachzugehen.
  Mutter Körber hatte dabei Glück im Unglück – oder umgekehrt? Sie fand Arbeit bei einer Änderungsschneiderei, die in einem ehemaligen Textil-Geschäft von den Eigentümern im eigenen Haus betrieben wurde. Bei dem Haus war nur der Dachstuhl zerstört. Weil sie sehr fleißig war und bei Überstunden nicht murrte, machte ihr der Arbeitgeber den Vorschlag, es sich mit ihren Kindern und den dort noch vorhandenen, nicht so ramponierten Möbeln,  unter dem unbeschädigten Teil des Speichers gratis häuslich einzurichten. Damit begann eine fünfjährige nahezu sklavische Abhängigkeit der Körbers, in der das Textilgeschäft wieder auferstand und  das Dach mit den Körbers drunter sowie Etage um Etage wieder saniert wurde, ohne dass sich jedoch deren Lebensverhältnisse sonderlich verbesserten. Dann erst flohen sie aus Verzweiflung in das Souterrain, aus dem sie der Lenz dann „befreite“
  Hannelore und Traute wurden trotz des Altersunterschiedes zusammen eingeschult. Die britische Besatzungsmacht hatte sich alle Mühe gegeben, das Deutsche Bildungssystem zu entnazifizieren und wieder auf ein gewisses Niveau zu bringen. Damit die Schüler nicht gezwungen waren, wegen der permanenten Nahrungssuche in diesen chaotischen Verhältnissen die Schule zu schwänzen, wurden sie von den Tommys mit einem Mittagsessen – meist Suppe oder Brei – zum Besuch des Unterrichts regelrecht angelockt. Damit Mutter Körber ungestört durchschuften konnte, nahmen die beiden großen Mädchen die drei kleinen Geschwister einfach mit in den Unterricht und Teilten den Inhalt aus den zwei Kommissbüchsen durch fünf. Niemand erhob Einwand dagegen, obwohl die mangelhaft ausgestatteten und kaum geheizten Klassenzimmer der Notschulen ohnehin hoffnungslos überfüllt waren…

  Vorurteil 2: Außergewöhnliche Intelligenz bahnt sich von selbst ihren Weg.
  Obwohl sich Traute im Gegensatz zu Hannelore mit ihren Leistungen aus den unüberschaubaren Klassen stets nachhaltig heraus hob, reüssierte sie nicht. Die Lehrer, die vor allem auch wegen der hohen sozialen Kompetenz, die Traute von Beginn an entwickelt hatte, nicht müde wurden, Empfehlungen für das Gymnasium und ein späteres Studium auszusprechen, fanden kein Gehör.
  Hannelores frühe Hochzeit war ebenso kontraproduktiv wie die wenigen Monate väterlicher erzieherischer Begleitung.  Eddie Körber hatte selbst am eigenen Leib verspürt, dass er durch die Heirat seiner Töchter einen Status einnahm, den Leute aus seinen Kreisen sich nie und nimmer hätten erarbeiten können. Warum sollte Traute dann unnütz die Zeit auf der Schule verplempern?
  1954 war Traute immer noch auf der Volksschule und alles hatte darauf hingedeutet, dass sie dort auch ihren Abschluss gemacht hätte. Wenn es im Leben des Lenz aus menschlicher Regung eine Handlung gegeben hat, die in der Folge zu etwas Gutem führte, dann war es sein Beharren, Traute müsse zumindest die Mittel- und danach eine Handelsschule besuchen. Die edle Tat wurde später allerdings von Traute selbst als Akt der alternativen sexuellen Langzeitversorgung enttarnt. Meesters Büro in Porz lag nur um die Ecke von den beiden avisierten schulischen Einrichtungen, und er selbst bestand darauf, sich persönlich um Trautes Fortkommen zu kümmern. Neben der Überwachung der Hausaufgaben sollte sie so auch gleichzeitig in den Vorzug kommen, alle fürs Büro von der Pieke auf zu lernen…
  „Dat Jerda, dat Aas“, hatte natürlich den Braten als erste gerochen und machte sich einen Spaß daraus, ein ums andere Mal ihrem Sex- und Geschäftspartner auf die vor  vorfreudiger Geilheit bis auf den Boden feudelnde Zunge zu treten. Und zwar so, dass es immer richtig weht tat.

 Vorurteil 3: Schönheit muss nicht arbeiten.
 Da war aus dem Gör, das langgliedrig und dürr war wie eine Gottesanbeterin plötzlich mit gerade einmal sechzehn eine hoch aufragende Schönheit geworden, die selbst angebetet wurde. Selbst der freche kleine Bruder, der sich immer über ihre Länge lustig gemacht hatte, verstummte. Gerade hatte er noch gemeint, wenn Traute jemals Männer abbekommen wolle, müsse sie wohl zwei aufeinander stellen, da rannten die Kerle ihnen bereits die neue Bude in Porz ein. Aber war Traute darüber glücklich?
  Ein Freund vom Lenz, der es in den wenigen Jahren zum Besitzer mehrerer großer Friseur-Salons gebracht hatte, spannte die überragende Traute gratis als Modell und Repräsentantin seiner neuesten Haarkreationen ein. Was Traute noch mehr zu einem Hingucker machte. Das wiederum blieb nicht ohne Folgen auf ihr soziales Umfeld. War sie mit Freundinnen zum Tanztee, stürzten sich die Jungs allein auf sie, was den anderen Mädchen unbeabsichtigt das Gefühl gab, Mauerblümchen zu sein. 
  Was tat Traute in ihrer angeborenen sozialen Fürsorge? Sie wurde den Galanen gegenüber unwirsch und abweisend, damit ihre Freundinnen besser zum Zuge kamen. Sie selbst blieb von da an stoisch hocken, was wiederum als unnahbare Arroganz ausgelegt wurde.
  Intellektuell unterfordert, zu Höherem befähigt, aber nicht erkannt und unnahbar schön glitt die Göttin in eine Isoliertheit ab, in der sie aber nach indischem Vorbild sechs Arme benötigt hätte, um die flinken zielstrebigen Hände von Schwager Lorenz Meester abzuwehren. Der Lenz hatte doch so gar nichts frühlingshaftes, war er doch erkennbar nun schon ein Mann in den Fünfzigern.
  Kaum aus der Handelsschule nahm Traute also eine Lehrstelle an, die sie, so weit es ging, aus der Reichweite dieser Fänge brachte. In Königsdorf begann sie eine Lehre als kaufmännische Gehilfin für Im- und Export. Paradoxer Weise bekam sie die Stelle, weil sie im Büro vom Lenz so gut aufgepasst hatte, dass  sie gleich als vollwertige Kraft eingesetzt werden konnte. Es brauchte ihr ja kaum jemand noch etwas beizubringen …
 
 Man stelle sich die ersten Begegnungen zwischen Bernhard und Traute am besten folgender Maßen vor:
  Aus dem Meer der allmorgendlich zur Arbeit schwappenden Köpfe auf den Bahnsteigen des Königsdorfer Bahnhofs ragten zwei Leuchttürme, die ihre Strahlen über allem kreisen ließen: Stadteinwärts Bernhard mit seinen Attitüden eines englischen Landjunkers und langem, sonnegebleichten Blondhaar sowie dem gepflegten Oberlippenbart, der sein stets gebräuntes Gesicht markant kontrastierte. Und auf dem gegenüberliegenden Perron ankommend schwebte die der Garbo so ähnliche Gottheit mit wöchentlich wechselnden, tollkühnen Frisuren, wie man sie nur von den Titelbildern der FÜR SIE oder der Constanze kannte.
  Am Anfang streiften sich die Strahlen lediglich oder kreuzten sich bestenfalls. Aber eines Morgens verhakten sie sich kurz, und von da an warteten alle anderen vergebens, noch einmal von beider Glanz beschienen zu werden.
Erst zehn Sekunden, dann zwanzig und schließlich eine volle Minute ertranken sie nun täglich - immer noch durch die Bahngleise getrennt - gegenseitig in ihren Augen. Dann wechselte Bernhard endlich mutig  auf ihre Seite und erwartete sie. Bewusst eine Verspätung in Kauf nehmend, artig unter Wahrung aller Anstandsregeln, sie im Gespräch auch formell siezend, begleitete er Traute erstmals zu ihrer Firma.

  Obwohl der direkte Augenkontakt die Initialzündung war, ist das keine Liebe auf den ersten Blick gewesen, die da zwischen Traute und Bernhard ihren Lauf nahm. Sie gingen ins Kino, wo sie zunächst einmal zögerlich Händchen hielten, aber sich noch nicht zu küssen wagten. Sie verabredeten sich am Samstagabend zwar zum Tanzen und gingen beim Slow auch auf Tuchfühlung, aber den ersten Kuss tauschten sie erst nach acht Wochen bei einem Sonntagsspaziergang am Rheinufer. Es war der Kuss seines Lebens, behauptete der 71jährige Bernhard und dabei schwammen seine Augen immer in etwas mehr Flüssigkeit als sonst.
  An diesem Sonntag war Traute schon 22 und noch Jungfrau. Bernhard war 25 und verdrängte schlagartig die nun scheinbar schon so weit zurück liegenden Exzesse mit seiner lesbischen DDR-Braut. Er wartete noch zwei Monate, bis er Traute vorsichtig fragte, ob sie nach dem Tanzen noch zu ihm in sein Appartement im „Bullenkloster“ käme…
  Diese Behutsamkeit, manchmal sogar Langsamkeit, bei den gemeinsamen Schritten, sollte ihr weiteres Leben prägen. Wieder einmal war Bernhard in einem Zeittunnel autarker Wahrnehmungen unterwegs, und dass seine Partnerin dies akzeptierte, gab ihm eine veränderte, aber noch stärkere Selbstsicherheit.
  Traute fand Bernhard auch in seinen Maurerklamotten äußerst attraktiv, aber den Kick versetzte ihr dieser Mann immer aufs Neue, wenn er in seinen Maßanzügen vor ihr stand. Lag es nun an Bernhards DDR-Vergangenheit, die ihn sichtlich reifer erscheinen ließ, oder auch an Trautes reservierter Schönheit, dass die zwei die stürmischen 1960er in einem Kokon erlebten. Klar hörten sie Beatles und Rolling Stones und manchmal twisteten sie sich auch die Seele aus dem Leibe, aber sie waren doch eher die Cliff-Richard-oder Paul-Anka-Typen. Zu ihrer Lebenshymne wurde jedoch Percy Sledges “When a Man Loves a Woman“. Sie wurde natürlich auch bei  ihrer Hochzeit 1966 gespielt.
  Was hatte die beiden abgehalten, schon früher zu heiraten? Sie waren doch einander so sicher.  - Die Welt war es nicht. Da kam die Kuba-Krise. Dann wurde Kennedy ermordet. Aber gleichzeitig erhob sich Köln immer noch nachhaltig aus seinen Trümmern. Banken, Versicherungen und Spekulanten überboten sich im Hochziehen gigantischer Verwaltungsgebäude. - Mittendrin der Lenz als eine Art Neunauge im Kölschen Klüngel, der sich überall parasitär festsaugte und den Versuch nicht aufgab, den „Beschäler von Traute“ (so nannte er Bernhard verächtlich vor Dritten) auf die dunkle Seite hinüber zu ziehen. Aber da Bernhard nur wenig von seiner Vergangenheit preisgegeben hatte, ahnte der Lenz nicht, dass Bernhard der Umgang mit Dunkelmännern durchaus vertraut war. Zudem konnte es sich der permanent sich selbst überhöhende Meester wohl nicht vorstellen, dass er die „Fünfte Kolonne“ in den eigenen Reihen hatte. Mag sein, dass Gerda Janke zunächst aus einer Art Eifersucht die Annäherung des Lenz an Traute immer wieder geschickt sabotierte. Aber da die rasant verstreichenden Jahre ihre Kinderlosigkeit besiegelten, wuchsen ihr Bernhard und Traute mehr und mehr ans Herz. - Wobei ihr langer Blick auf Bernhards männliche Attribute recht häufig nicht unbedingt etwas mit mütterlicher Zuneigung zu tun hatte.
  In der Praxis sah das so aus: Wann immer der Lenz etwas ausgeheckt hatte, um Bernhards Geradlinigkeit zu erschüttern oder ihn in Folge nicht ganz koscherer Vorgehensweisen von sich abhängig zu machen, steckte Gerda das der Traute.
  Der Lenz musste lernen, dass es, jenseits seiner Ränkespiele, eine unerschütterliche Aufrichtigkeit gab, gegen die ihm kein Mittel gegeben war. Das gefiel ihm nicht. Und es gefiel ihm noch weniger, dass dieser, sein neuer Schwager, immer nur einen kontrollierten Schritt davon entfernt war, seinem durchaus vorhandenen Temperament wie einen Vulkan ausbrechen zu lassen.
  Im Frühjahr 1967 überraschte er im Baubüro zu einer Großbaustelle am Kaiser-Wilhelm-Ring seinen Schwager dabei, wie er gegenüber Gerda Janke in einem Streit handgreiflich wurde. Er ahnte doch nicht, dass das einmal „part of the Game“ war. Gewalt gegen Frauen aktivierte bei Bernhard ganz kurze Reizleitungen. Dass hatte nichts damit zu tun, dass Gerda dem jungen Paar eine echte Vertraute geworden war. Jede andere Frau in dieser Lage hätte die gleiche ungebremste Reaktion bei Bernhard ausgelöst:
  Er zerrte den Lenz an seinen Jackett-Aufschlägen aus der Baracke an den Rand der Baugrube für die dreistöckige Tiefgarage. Eine falsche Bewegung, und der Lenz wär fünfzehn Meter tief gefallen:
 „Wie wär’s, wenn du dir mal einen gleich starken Gegner suchtest? Ich schau mir das ja schon eine ganze Weile an und ich weiß auch, dass du mich nur für einen rüber gemachten DDR-Trottel hältst. Aber sollte ich noch einmal erleben – vor allem bei Gerda und Traute – dass du eine unserer Damen nur berührst, dann hast du keinen Schwager mehr, der dich gerade noch vor einem Fehltritt bewahrt. Dann hast du einen Unfall!“
  Eine Stunde später lag Bernhards Kündigung auf dem Tisch, und irgendwie war von da an auch klar, dass beide wohl keine echten Freunde mehr würden.



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