Sonntag, 26. Juni 2016

Flieg oder stirb

Anders als die jungen Mauersegler, die, um ihre meist hoch gelegenen  Nester verlassen zu können, gleich fliegen müssen, ist der Amsel-Nachwuchs beim Nestflüchten größter Gefahr ausgesetzt. Die Mauersegler-Eltern können davon ausgehen, dass - wenn ihre Deszendenten den ersten Flug überlebt haben - sie von weiteren Pflichten befreit sind.

Amsel-Kinder sind im Idealfall so fett gefüttert, dass kein Platz mehr im Nest ist. Tatsächlich sind sie in dieser Phase, in der sie größer als ihre Eltern sind, immer noch noch nicht auf das wahre Leben vorbereitet. Sie dödeln mit aufgerissenen Schnäbeln ziemlich orientierungslos hüpfend im Burghof herum und erwarten, immer noch gefüttert zu werden. Die Eltern sind jedoch vom Fürsorge- in den Aufsichts-Modus übergegangen. Das heißt sie checkern sich von den Dachrinnen und Simsen die Kehlchen wund, um ihren Nachwuchs am Boden anzuspornen und vor Gefahren zu warnen.

Einem erprobten Vogeljagd-Veteranen wie unserem Piazza-Kater Lazaro spielt dieses Stadium eigentlich in die Krallen. Deshalb war ich vorgestern in der Mittagshitze von seinem Verhalten wirklich überrascht. Da verharrte er mit seinem immer noch nicht vollständig abgeworfenen Winterpelz in der prallen Sonne und beobachtete angestrengt. Als ich mich auf die vom Wind klimatisierte Treppe unseres Nachbarn setzte, verlor er augenscheinlich das Interesse und legte sich im Höflichkeits-Abstand zu meinen Füßen.

Das heftige Scheppern am Blech des aufgelassenen Hauses nebenan, ließ aber nicht nach. Und so machte sich Lazaro gemächlich auf den Weg, hüpfte die Stufe hoch und verschwand hinter einem Blumentopf. Das Scheppern hörte nicht auf, aber der Kater kam wieder hervor und schaute mich an, als wollte er mir andeuten, ich solle mich doch mal kümmern.

Als ich widerwillig zum Schutzblech ging, entdeckte ich die Lärmquelle sofort. Von den Dächern erhob sich ein wütender Protest. Eine junge Amsel flog immer wieder mit weit aufgerissenem Schnabel gegen das Blech. Vermutlich dachte sie, sie könne zum Nest zurück, das wohl irgendwo im Haus versteckt war.

Sie war ein draller Leckerbissen. Deshalb wunderte ich mich, dass Lazaro sie in Ruhe gelassen hatte. Als ich versuchte, sie mit meinen Händen in Sicherheit zu bringen, hüpfte sie dem Kater direkt vor die Nase, aber der reagierte wieder mit unüblicher Ignoranz. Er folgte noch nicht einmal, als ich das Vögelchen in den dunklen Bogengang gegenüber unter eine Hortensie scheuchte.

Akustisch verstärkt durch das Gewölbe erhob sich bald wieder ein Gezeter, obwohl Lazaro bei mir ausharrte. Da jetzt auch die beiden Blau-Merlen auf dem Kamin gegenüber einstimmten, sah ich noch einmal nach dem Vögelchen, dass sich nun jedoch verdoppelt hatte.

In früheren Jahren hätte ein Dorfbewohner die zwei geschnappt und auf den Grill-Spieß für ein Mittagessen gesteckt. War irgendwo vielleicht  noch eine Katze? Die Amsel-Eltern und ihre Verbündeten meckerten aber auf mich ein, als ich ihren Nachwuchs in die geschichtsträchtige Columbus-Gasse scheuchte.

Und siehe da: In ihrem abschüssigen Verlauf hüpften die beiden mit ausgebreiteten Flügelchen in den Aufwind und flogen. Zumindest landeten sie im sicheren ersten Stock eines Hauses.

Zurück auf der Piazza bedauerte ich den Lazaro in einer kleinen Ansprache, in der ich ihm zu verstehen gab, dass ja bei mir auch nicht mehr alles so leicht funktioniert wie in jungen Jahren.

Beleidigt wandte er mir den Rücken zu und belehrte mich am Morgen darauf eines Besseren. Offenbar war ihm die mögliche Beute einfach zu leicht gewesen, oder ihm war tatsächlich zu heiß.
Denn nun sprang und hechtete er dem Amsel-Nachwuchs hinterher, der immer noch wie betrunken flog.

Ob er erfolgreich war? Ich will es gar nicht wissen...

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