Donnerstag, 15. November 2012

Lebenserwartungshaltung

Die Friedhofsgängerinnen und die in die Jahre gekommenen Vitelloni haben in der Bar Girasole einen neuen Treffpunkt, der zunehmend frequentiert wird. Da hat die Gemeinde eine gute Entscheidung getroffen, und unsere Nachbarin Carina, die sie betreut, geht kein vom Umsatz bedingtes Risiko ein, da sie von der Comune bezahlt wird.

Dass sie sich beim zweckdienlichen Herrichten des Hauses am Sportplatz mit Gustavo auseinander gelebt hat, ist ein Kollateralschaden, den sie offenbar besser verkraftet als der Ex-Fernfahrer und jetzige Nebenerwerbslandwirt.

Er, der im vergangenen Jahr noch Gemüse en gros hochgezogen hat, ist nun wie besessen dabei, die beste Oliven-Ernte seit Jahren in unverschnittenes Olio Extra Vergine zu pressen. Ich hatte die Ehre, von ihm mit der Gestaltung eines Etikettes betraut zu werden, weil er ja weiß, dass ich derlei Gestaltungsprogramme noch auf meinem Computer habe. 

Als ich ihm nach der erfolgreichen Präsentation den USB-Stick für seine Druckerei in die Hand drückte, tat er so cool, als mache er derlei Daten-Transfers täglich. Und Überraschung: Gestern hat er den Stick gleich stolz wie Oskar über den geglückten Druckvorgang zurück gebracht. Hoffentlich bekomme ich auch noch mein Honorar in Form eines Fläschchens Mosto d'Oro. Aber ich bin da recht zuversichtlich, weil der neue Gustavo so etwas wie "preußische Tugenden" für sich entwickelt hat. Er ist extrem pünktlich - für ligurische Verhältnisse, und wenn er etwas zusagt, dann ist die Erfüllung gewissermaßen Ehrensache.

Worauf will der Burgbriefe-Schreiber hinaus - mit dieser eher unspektakulären Situationsbeschreibung als Einleitung quasi durch die Brust über den Hinterkopf ins Auge? 

Es ist eine Mischung aus Neid und Verzweiflung: Einerseits bin ich neidisch, dass die Burggeister,die ja in meinem Alter sind, sich geradezu stoisch, aber gar nicht mal schlecht gelaunt, auf neue Situationen einstellen können. Aber als einer, der das italienische Leben von Kindesbeinen mit verfolgt hat, macht es mich traurig, dass sie sich dabei nicht auf Faktoren stützen können, die früher "italienische Tugenden" waren - nämlich der Zusammenhalt der Großfamilie und die Fähigkeit im sozialen Ensemble am Offenen Grab ihrer Nation zu tanzen. 

Was haben Journalisten in den vergangenen 60 Jahren nicht alles über die wirtschaftliche Situation Italiens geschrieben? Was wurde in punkto Devisen-Regulierung nicht alles unternommen, um das Abfließen der Gewinne ins steuerbegünstigte Ausland zu verhindern! Immerhin war Italien vor Einführung des Euro stets unter den Top-Ten der Wirtschaftsnationen. Jetzt ist es möglicher Weise bald Kandidat für den Rettungsschirm. 

Einer der auch hier oben sichtbaren Gründe ist die totale Diskrepanz zwischen der biologischen Lebenserwartung und dem was die schwindende Jugend Italiens noch vom Leben erwarten kann. 36 Prozent - gleichgültig ob nach der Lehre (die es so hier eigentlich nicht gibt) oder einem akademischen Abschluss - finden keine entsprechende Arbeit oder starten unsicher zu Dumping-Löhnen.

Jahrelang wurde über die italienische Jugend gelästert, weil sie das Hotel Mama so nachhaltig frequentiert hat. Aber wäre sie nur zu Hause geblieben, anstatt sich mit falschen Erwartungen zu lösen. Italien ist das Land mit dem größten privaten Haus- oder Wohnungsbesitz pro Kopf der Bevölkerung, aber es ist anzunehmen, dass besonders die jüngere Generation in diesem Bewusstsein, sich eigene "vier Wände" mit Null-Eigenkapital-Finanzierungen zu schaffen, an der bedrohlichen Immobilien-Blase mitwirkt.

Im Bannkreis der Burg - nur ein paar Kilometer von der Stadt und dem Meer entfernt -steht jedes zweite Haus leer, das nicht im Besitz von Ausländern ist. Zu den Traum-Immobilien gehört auch das ehemalige Kinderheim, das in Ermangelung derselben seit zwei Jahrzehnten nicht mehr genutzt wird, und das vor der Krise zu langem, spekulativem Begehren ausgesetzt war.

Die "Lebenserwartung" ist jetzt bei den allfälligen Sparprogrammen in der Euro-Zone ein Argument für den späteren Einstieg ins Renten-Alter. Aber was macht das für einen Sinn, wenn allenthalben jobverlustige Arbeitnehmer über 50 von  der Arbeitswelt ausgeschlossen werden? Oder - was viel schlimmer ist - den Nachfolge-Generationen die Möglichkeit überhaupt genommen wird, rechtzeitig in den Renten-Topf einzuzahlen?

Die Witwen, die sich zum Kartenspielen im Girasole treffen und die von der Jugend verlassenen Eltern, die auf eine Grappa oder einen Espresso bei Carina einkehren, müssen wegen ihrer Lebenserwartung doch kein schlechtes Gewissen haben. Sie haben ja ihre "Lebensleistung" erbracht. Und - wenn man sie so hört - gewähren sie ja der Katastrophe noch gewissen Aufschub, indem sie mit Bar-Zuwendungen an die nepote deren Erwartungshaltung wenigstens mit einem Minimum bedienen... 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen