Montag, 12. November 2012

Burg-Tage

Mein Vater war nicht leicht aus der Fassung zu bringen, und noch seltener gab er seine - dem leitenden, gehobenen Staatsdiener - geziemende Sprache auf. Aber einmal - vor mehr als 30 Jahren - schaffte es die Zweitbeste, ihre Schwiegereltern derart in Rage zu versetzen, dass wir fast aus deren Traumhaus im Isarwinkel flogen. Was war geschehen, dass es heute noch so in Erinnerung ist?

Meine Eltern saßen wie üblich Kreuzworträtsel ratender Weise mit dem Rücken zu dem riesigen Panorama-Fester, das den freien Blick aufs verschneite Karwendel quasi in Supercinemascope präsentierte. Aus der Sicht rastloser, von Karrieren aufgefressener Twens, die wir waren, erschien uns das als nerviger Müßiggang und Ignoranz gegenüber der einzigartigen Schönheit. Die Zweitbeste, schon damals eine Betriebsnudel ersten Ranges, forderte meine Eltern dogmatisch auf, die sozialen Kontakte mit der gewählten Isolation am Rand ihres Dorfes nicht  länger zu vernachlässigen und das gipfelte gar in dem Vorwurf: 
"Ihr verkommt hier draußen doch total!"

Wir bekamen unsere verdiente Abreibung: Meine Eltern waren da ja gerade erst zur Ruhe gekommen und hatten nach der Pensionierung  meines Vaters nicht nur eine abenteuerliche Weltreise im VW-Bus hinter sich gebracht, sondern waren die Strecken, die sie aus diversen politischen oder logistischen Gründen mit dem Campmobil nicht mehr bewältigen konnten auch später noch abgeflogen: China, Japan. Ägypten und im Leihwagen ganz Nordamerika. Alle näheren Kontakte, die sie unterwegs hatten, pflegte mein Vater handschriftlich mit ausführlichen Briefen in Englisch und Französisch - oder wenn das nicht half bisweilen auch in Latein. Aus seiner Sicht war der Vorwurf eine Infamie. Wir schrieben seinen Wutausbruch jedoch altersbedingter Sturköpfigkeit zu...

Heute sehen wir das mit dem "Verkommen" natürlich reumütig anders.Wir hätten unsere wie auch immer gearteten sozialen Kontakte auch beinahe für unser Traumhaus hier in Ligurien geopfert. Und das bereits zu einem Zeitpunkt, das wir noch zwanzig Jahre jünger waren als meine Eltern damals. Zwar versuchen wir heute, indem wir den Satz meiner Frau von einst persiflierend auf unser Verhalten anwenden, dem ganzen ein wenig von seiner erschreckenden Erkenntnis zu nehmen, aber es ist eben eine Tatsache, dass wir uns auch mehr und mehr mit unserer Art zu leben isolieren.

Als sich unsere letzten deutschen Nachbarn vergangenen Donnerstag bis zum nächsten Jahr verabschiedet hatten, begann der große Regen. Fast drei Tage strömte und flog das Wasser durch die Burg, aber waren wir deshalb traurig? Nein, ganz im Gegenteil! Es war eine Erleichterung, dass wir uns ohne Erklärungsnotstand und schlechtes Gewissen, den Gegebenheiten einfach hingeben konnten. Hätten wir eine Zugbrücke - wir hätten sie hochgezogen: Bis in die Puppen schlafen, zu Unzeiten Essen, wertvolle Stunden für das "diamantene Fernseh-Auge" sammeln, rumhängen - toll. So lange man noch etwas sehen konnte, musste sogar das Lesen warten. Die wabernden Nebel, die um uns herum zogen zu beobachten, war ja noch viel spannender. Und nachts röhrte und rauschte der randvolle Impero zu uns herauf, als wären wir die Arche in der Sintflut.

Nach dem Regen folgt der Sonnenschein: Das Klischee wird hier auf der Burg so passend bedient, dass wir heute den geplanten Ausflug nach Sanremo kurzerhand gestrichen haben. Stattdessen sechs Stunden bei über zwanzig Grad auf der Terrasse mit dem immer gleichen aber im flachen, klar gewaschenen November-Licht gemeißelten Panorama-Blick über die Oliven-Täler. 

So zu verkommen, ist einzigartig - und am schlechten Gewissen arbeiten wir noch...

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