Freitag, 6. Mai 2011

Sehnsucht


Mignon        

Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht? 
Kennst Du es wohl?
                                     
Dahin! Dahin!
Möcht ich mit Dir, o mein Geliebter, ziehn.


Ist dieses Gedicht unseres Dichterfürsten Goethe ein Beleg dafür, dass tief im teutschen Wesen ein Sehnsuchtsgen eingepflanzt ist, auf dem ITALIEN steht? Ein Gen, das sich selbst aktiviert und uns immerzu verführt, "Italienische Reisen" anzutreten?
Gemessen an unserem Johann Wolfgang hat meine Generation es ja wirklich leicht gehabt, dem Drang nach Süden zu folgen. Und dennoch, was haben wir an den Grenzen, am Brenner, am San Bernardino oder am Gotthard geflucht über Staus, über Ketten von Wohnwagen und die Sonne, die uns erbarmungslos aufs Autodach geknallt hat. Was haben wir unsere Eltern nicht genervt mit der ewigen Frage: "Wann sind wir denn endlich da?"
Aber dann waren wir endlich da und wollten meist nicht mehr fort. Und unseren Kindern und ihren Kindern ist dieses Heulen am Urlaubsende genauso geblieben wie uns. Warum? Weil im Norden immer wieder die Arbeit, die Schule, der graue Alltag wartete. Verzweifelte Versuche, die italienischen Momente mit Rotweinflaschen im Bastkorb und Olivenöl sowie Parmesan und Salami daheim zu verlängern, mobilisierten hier am Stiefel ganze Industrien für Andenken-Konserven, und Ende der siebziger Jahre gab es kaum noch Dorfkneipen, die keinen italienischen Namen  und nicht von einem lauten Familien-Clan aus dem Süden geführt wurden. Der sinnliche italienische Genuss war der Exportschlager. Wer erinnert sich schon daran, dass es zu Beginn der sechziger Jahre nur eine Handvoll Pizzerien im Bundesgebiet gab?
 Heute hat das italienische Moment kulinarisch sogar einen Hang zur Extravaganz erhalten, damit man sich vom Fußvolk abhebt. Man schlürft zum Menü 25 Jahre gelagerten Acetto Balsamico, bevorzugt einen besonderen Pecorino stagionato aus Sardinien und verwendet nur Öl von einem geheimen Frantoio, der allerdings mittlerweile in jedem Fressführer steht. Weine mit dem Qualitätsmerkmal DOC reichen schon längst nicht mehr. Da muss es schon DOCG sein

Wie war das hier oben auf der Burg vor vierzig Jahren? Auch hier war der Sehnsuchtsfaktor von entscheidender Bedeutung. Aber er hatte sehr individuelle Ausprägungen. Ich weiß von zwei drei Ruinen-Baumeistern, die jeden Brücken- und Urlaubstag aufgewendet hatten, um sich ihre Vorstellungen von einem italienischen Leben zu sichern. Bei manchen wurde das derart zur Manie, dass sie selbst weiter "am Bau" arbeiteten, als alles praktisch fertig war und das einfache Ferienhaus am Ende einem kleinen Palazzo glich. Natürlich gab es auch ein paar Geschäftemacher, die ein Schnäppchen erwarben, oberflächlich renovierten und teuer an die nächste Generation verkauften.

Vor allem die Urenkel jener Einheimischen, die damals den Lockungen der Wirtschaftswunders in die Industrie-Metropolen des Nordens folgten und ihre Anwesen für ein paar Tausend Lire verscherbelten, sind heute sauer, wenn sie von den aktuellen Preisen hören. Aber sie können sich auch nicht vorstellen, was die Ausländer für Arbeitskraft und Geld in den Borgo gesteckt haben, damit er so aussieht wie heute...

Die Sehnsucht ist ein seltsames Ding, weil man durch sie eine Triebfeder erhält, die mitunter von den Realitäten des vorbeiziehenden Lebens überdreht wird. Das carpe diem ist hier oben genauso wichtig wie in der Heimat. Wer den Tag aber nur nutzt, um seine Streitkultur von zu Hause mitzubringen oder seine sozialen Dünkel auslebt, versündigt sich.

Es gibt ein gutes Mittel der Annäherung an die ewige Sehnsucht nach Mignon: Für jedes böse Wort, das man herunterschluckt, einen italienischen Satz lernen!

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