Sonntag, 22. Mai 2011

Kleiner Versuch über die Zeit


Seit wir hier wohnen, war die Renovierung der Hauptkirche ein Dauerthema. Ihr Dach war schon am Einstürzen und leckte, der Campanile drohte, den starken Winden nicht mehr standhalten zu können.
Unter anderen sorgte diese zeitlos schöne, wie von Dürer gemalte, deutsche Violinistin vom oberen Eingang des Borgos mit ihrem berühmten Quartett durch ihre Benefiz-Kirchenkonzerte dafür, dass Santo Stefano nun wieder als Schmuckstück aus den immergrünen Oliven strahlt. Vor vierzehn Tagen war das Jahrzehnt  der Renovierung abgeschlossen.Die Zeit scheint rückblickend im Fluge vergangen. Der Bischof war da, und auch der Innenminister: Großer Bahnhof für eine großartige Kirche! War das ein Gebimmel! Zum Teil konnte man sogar  mal campanologisch relevante Melodien heraushören...

Aber das war dem Geläut offenbar dann doch zu anstrengend, denn außer der hellen Halbstunden-Glocke versagten die restlichen Klöppel nach dem Festakt für beinahe zwei Wochen. Es ist offenbar in unserem Alter schon schwer genug, mit der Umstellung auf die Sommerzeit klar zu kommen, aber wenn einem im Unterbewusstsein die Stunde nicht mehr schlägt, kommt es an den immer länger werdenden Tagen hier oben zu nachhaltigen Irritationen: Die Sonne steht noch hoch am Himmel, und du denkst gerade, dass es mal Zeit wird aus der Mittagssonne zu gehen, da zeigt dir ein Blick auf die Uhr, dass es schon kurz vor fünf ist...

Eins zwei drei im Sauseschritt eilt die Zeit, und du eilst mit. So etwas kommt einem dann in den Sinn, und die Sprüche unserer Eltern, die behaupteten je kleiner die Radien und je ruhiger die Tagesabläufe desto mehr rase einem die Zeit davon. Wir haben hier sehr viel ältere Nachbarn deren Leben von einer beneidenswerten Aktivität beherrscht wird, während wir quasi der Zeit beim Verrinnen zuschauen und kein schlechtes Gewissen haben. Als unsere Eltern damals die Drehzahl herunter schraubten und endgültig aufs Land zogen, glaubten wir noch, sie belehren zu müssen.Meine Frau bezog sogar den drastischen Standpunkt: "Ihr verkommt bald hier draußen!"

Inzwischen sind wir durch gesundheitliche Einschränkungen ganz kleinlaut und tun ihnen posthum Abbitte. Die Frau, die seit mehr als 45 Jahren ihr Leben mit mir teilt, hatte früher die Fähigkeit mitten im Familientrubel derart in ein Buch abzutauchen, dass man sie regelrecht anschreien musste, um sie in die Realität zurück zu holen. Wir lasen immer etwa gleich schnell. So im Schnitt ein Buch pro Woche. Hatten wir beide es ausgelesen, dann wurde es nach bibliographischen Vorgaben ins Regal geordnet. Die nicht ausgelesenen Exemplare kamen quasi als mahnende Erinnerung in ein besonderes Fach, in dem jetzt kein Platz mehr ist. Jetzt ist meine Frau nämlich schon etwa vierzig, fünfzig Bücher im Hintertreffen, und ich habe aufgehört, sie zu ihren Eindrücken zu befragen. Manchmal tue ich es dann doch, weil ich sie mit einem Buch unterm Arm auf der Terrasse sehe und dann bekomme ich immer die gleiche seltsame Antwort:
"Ich will ja lesen, aber ich habe keine Zeit dazu, weil ich gucken muss. All diese Schönheit! Und wenn ich dann doch zwei, drei Seiten gelesen habe, dann muss ich wieder gucken. Und dann wird es auch schon wieder dunkel, und ich gucke immer noch!"

Naja, ich mache mich gelegentlich schon ein wenig lustig über sie. Das hält unsere Beziehung am Laufen.
Seit Freitag aber  gehen die Kirchturm-Glocken wieder, und gestern war quasi der erste Sommertag mit über 30 Grad im Schatten der Piazza. Ich hatte mich auf meinen Lieblingsplatz unter den Torbogen gesetzt, und einer der Kater, die uns für ihren Hofstaat halten, gewährte mir die Ehre seiner schnurrenden Audienz. Er schnurrte weiter, ich kraulte ihn. Dann legte er sich in Positur maunzte gelegentlich wichtigtuerisch. Ich antwortete. Und als ich die Kirchenglocke wieder bewusst vernahm, waren zwei Stunden rum. - Aber ich muss jetzt aufhören. Ich habe einfach nicht die Zeit, hier noch lang rum zu schreiben...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen