Sonntag, 28. August 2011

Der Burgnarr

Der Hofnarr                  Oil on Canvas
Jetzt geht die Sonne schon wieder kurz vor acht hinter Cuneo di San Bernardo unter. Die Ferien sind schon fast vorbei, und die Hitzewelle klingt ebenfalls langsam ab. Nachts tasten wir schon wieder mal nach der Bettdecke, wenn der Libeccio weht. Es mehren sich  auch die Wanderer, die die Piazza überqueren, um auf dem Weg zum Passo del Ginostro das vielbeschriebene Dorf zu besichtigen.
Ich arbeite an einem Video, dass ich zu Beginn der nächsten Burgbriefe-Saison in diessen Blog stellen werde. Es geht um einen ganz normalen Tag hier im Borgo, und dabei stelle ich mir immer aufs neue die Fagen, was eigentlich normal ist...
Vermutlich kommt diese Frage auf, weil ich schon zu lange nicht mehr mit "Steinen aus dem Glashaus" geworfen habe. Treue Leser meiner beiden Blogs wissen ja, dass ich es immer noch nicht aufgegeben habe, die Welt zu retten. - Dass ich mich daher hier wie auch in meinem Münchner Stadtteil sehr  um Integration und das kommunale, multikulturelle Zusammenleben sorge. Nicht, dass ich glaubte, hier im Borgo jemals als Gemeinde-Mitglied anerkannt zu werden. Da kann ich noch so sehr den "Omburgsmann" geben oder zusammen mit meiner Frau versuchen, die Piazza sozial wieder zu beleben.
Ist es normal, dass ich hier rumhänge und nichts tue, außer ein paar Bilder zu malen und Texte zu verfassen, auf die die Welt weiß Gott nicht gewartet hat?
Der "böse Burggeist"  geht jedenfalls Tag für Tag trotz seiner 90 Jahre in die Campagna und holt aus seinem mageren Körper alles heraus, was der noch Erstaunliches zu leisten in der Lage ist? Ist es normal, dass der dreißig Jahre jüngere Gustavo jeden Morgen um fünf aufsteht, um nicht nur seinen Horto zu bearbeiten, sondern auch noch Nachbarn zu helfen? - Von den erotischen Höchstleistungen mit der Sammlerin buntester Jogging-Anzüge jede Nacht ganz zu schweigen... Ist es normal, dass meine Freundin Paola ihr Familien-Leben aufs Spiel setzt, nur um hier bei diesem so lausigen Lohn-Niveau  in der ligurischen Gastronomie ihren Selbstwert aufzupolieren?
Das alles ist genau so normal oder anomal wie unser am Tourette-Syndrom leidender und unter einer Horrorkindheit gelitten habender Corrado.
"Jede Burg braucht ihren Narren", hätte ich in meiner formulierenden Leichtsinnigkeit noch vor ein paar Wochen getextet.
Aber dann haben wir uns angewöhnt, Corrado bei jeder Aktivität auf der Piazza mit einzubeziehen. Dabei stellte sich heraus, Corrado trinkt zu Zeit nicht mehr. Er schluckt nur Unmengen von Kaffee, den er in voluminösen Plastikflaschen stets bei sich trägt, und er dreht sich - um von seinem hohen Zigaretten-Konsum herunterzukommen - die Zigaretten jetzt selbst. Nicht, dass er über Nacht zu einem angenehmen Gesprächspartner geworden wäre, und wer so schlecht Italienisch spricht wie ich, muss sich auch daran gewöhnen, dass er seine mitunter überraschenden Ausführungen mit Ersatzbegriffen verklausuliert. Napolitano steht gleichermaßen für Berlusconi und alle mafiösen Zustände in seiner Heimat. "Kaputt" für den Tod, der seiner Ansicht überall auf jeden lauert, aber den er - im Gegensatz zu mir - eben nicht fürchtet. Er ist 45, und muss - wie wir in Bayern sagen - erst einmal so alt werden, wie er bereits jetzt ausschaut. Beim nächsten Vollmond rastet er vielleicht wieder aus - wie neulich tagsüber.
Meine Frau versuchte ihn von der sicheren Höhe unserer Terrasse mit einem wiederholten  "basta Corrado!" auch wegen der vielen ahnungslose Feriengäste zu beruhigen. Da sagte aber der "Vicino Vittorio", der fünf Meter weiter sein Fenster aufgemacht hatte zur zweitbesten aller Ehefrauen:
"Er hat doch recht. Gaddafi ist doch wirklich ein Arschloch, und ein noch größeres Arschloch ist unser Cavaliere, der ihm jahrelang die colleoni eben nicht ..." ("rompere i colleoni" ist eine Art, den männlichen Familienschmuck zu behandeln, die ich hier lieber nicht übersetzen möchte)"
Nun habe ich mir angewöhnt - so nervig es auch sein mag - mich mit Corrado beinahe täglich auf eine Diskussion einzulassen. Der Mann hat Witz - auch die Italiener, die mitunter dabei sind, müssen des öfteren herzlich lachen. Wohl gemerkt, sie lachen durch ihn - nicht über ihn. Schade, dass mein Italienisch für seinen "irren" Humor oft nicht ausreicht.  Aber je mehr ich ihn verstehe, desto mehr kommt mir ein fürchterlicher Verdacht:
Der Burgnarr bin wohl eigentlich ich...

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