Später sollte Bernhard einmal gestehen, dass er sich nie und nimmer auf
sein italienisches Luftschloss eingelassen hätte, wenn er auch nur geahnt
hätte, doch noch Vater zu werden. Die durch die alleinigen Versorgerpflichten
bedingte höhere Verantwortung als Bauleiter war allerdings zweischneidig.
Einerseits war der Kredit für Italien im Nu getilgt, andererseits ging der
weitere Ausbau in Castellinaria nur sporadisch im knapp bemessenen
Urlaub voran. Manches musste jetzt mit italienischen und aus der Heimat über
die Adria geflohenen albanischen Bauarbeitern fortgeführt werden, sollte das
Haus nicht wieder in den Ruinenzustand zurück fallen.
Klar waren die vier ligurischen Freunde auch da wieder zur Stelle, aber
immer konnten sie die jeweiligen Vorhaben auch nicht beaufsichtigen. Der Lenz,
der die Zeit genutzt hatte, um im Ort zu Ansehen und Akzeptanz zu kommen,
spielte nun in Bernhards Abwesenheit immer
häufiger die Karte des fürsorglichen Schwagers aus. Da die Schwestern
immer noch – so sie dort zusammen waren – einen liebevollem Umgang miteinander
pflegten, war es bei den ligurischen Familienmenschen keine Frage, dass das Tun
der beiden Schwäger ebenso von den Familienbanden motiviert war.
Auf einmal fanden die Kleiners aber bei ihrer Rückkehr den ehemals großzügigen
Eingangsbereich ihres Hauses durch eine massive Mauer halbiert wieder. Sie war
während ihrer Abwesenheit eingezogen worden, weil der Lenz der deutschen
Arztfamilie, der er das unmittelbar an die Mauer grenzende Nachbarhaus zu einem
vielfachen Gewinn verkauft hatte, auch einen Eingang von der Gasse haben wollte.
Praktischer Weise war der Bauschutt des Umbaus dafür im kleinerschen Garten
gelandet…
Lucca, der im ganzen Haus des deutschen Doktors edelste Fliesen verlegt
hatte, war gar nicht auf die Idee gekommen, die Anweisungen des Schwagers Don
Lorenzo in Frage zu stellen und Bernhard von diesem „Umbau“ zu berichten.
Allerdings war er durch eine
anderweitige Motivation auch arg abgelenkt. Weil die die Arbeiten überwachende
Arztgattin vor allem einen Blick auf Luccas schneidige Erscheinung geworfen
hatte, unterhielten die beiden in engster deutsch-italienischen Freundschaft
über nahezu ein Jahrzehnt eine leidenschaftliche Sexbeziehung. Der ganze Ort
nannte den alten Eingang des Anwesens, der zum Garten führte, folglich auch „La
porta di Lucca“. Es konnte passieren, dass Lucca erst unten durch diese Tür in
die Campagna entschlüpfte, wenn der aus Deutschland angereiste Doktor
oben bereits vom beschwerlichen Aufstieg schnaufend seine Koffer in die
geraubte Diele stellte.
Klar, dass zwischen Bernhard und Lenz – da konnten sich die Schwestern
mit weiblicher List noch so sehr ins Zeug legen – die Tür zueinander für eine
lange Zeit schwer ins Schloss gefallen war. Was den Lenz nicht sonderlich
anfocht, denn er zog sein Ding durch. Am Ende der Siebziger sprach er, im
Gegensatz zu Bernhard nicht nur fließend Italienisch, sondern hatte, bis auf
ein Schmuckstück von Terrassen-Villa mit Gärten, Pool und Einlieger-Wohnung,
das er für sich selbst behielt, alle oberflächlich renovierten Ruinen, die in
Castellinaria ihm gehört hatten, verkauft; meist an betuchte Alltagsflüchtlinge
aus Deutschland und den Benelux-Staaten.
Bernhard meinte, der Lenz habe dabei mehr als eine Million Mark
steuerfreien Reingewinn gemacht. Damit er die Bebauungs- und
Spekulationsfristen von fünf Jahren auch parallel einhalten konnte, hatte er
mit Gratisurlauben Familien-Mitglieder als Strohmänner- und –Frauen gewonnen. Auch
die Körber-Zwillinge und selbst ihre mittlerweile gassenbreite Mutter, die nie
und nimmer mehr dort hochgekommen wäre, waren so eine gemessene Frist pro forma
Hausbesitzer in Castellinaria gewesen, wagten aber nicht, vom Lenz vor dem
Verkauf einen Bonus für ihr Zurücktreten zu verlangen.
Die Raffgier und Konsumstärke der neuen Bewohner dieses
mittelalterlichen Wehrdorfes hatten aber auch positive Auswirkungen; vor allem
auf die Infrastruktur. - Einmal abgesehen davon, dass der Ort vielleicht ein
Jahrzehnt später gar nicht mehr zu retten gewesen wäre.
Den endlich asphaltierten Serpentinen vom Capoluogo hinauf folgte bald auch ein geteertes, steiles
Sträßchen des neu gegründeten Konsortiums durch die Oliventerrassen zum höher
gelegenen oberen Dorfrand. Das erleichterte Transporte und Lieferungen und trug
ein wenig dem nun rasant wachsenden Bedarf an Parkplätzen Rechnung.
Die kleinen heimischen Bauunternehmen, bei denen der Impresario meist
Maurer und Architekt – beziehungsweise Geometra - in Personalunion war, konnten auf einmal Leute
einstellen und mussten nicht mehr zeitweise in andere Regionen Italiens
ausweichen. Diese völlig ungewohnte Vollbeschäftigung
sorgte sogar dafür, dass, selbst bei der lausigen Steuermoral der
Einheimischen, ordentlich Geld bis hin in
die Gemeindekasse floss. Erstmals wurde von der Comune im Tal oben in Castellinaria auch Geld für Schönheitsreparaturen ausgegeben.
Bernhards Weg nach Ligurien war von einem bestimmten Gefühl motiviert
gewesen, das treffend in der italienischen Denkweise und Bedeutung als la
nostalgia bezeichnet werden konnte. Er war keinesfalls schwermütig und
konnte sich im doppelten Sinne sogar größte Lasten aufbürden. Es war auch nicht
so, dass er süchtig war nach einer gewissen Leichtigkeit des Daseins. Es war
wohl die Sehnsucht nach einer gewissen archaischen Existenz in den
Aggregatszuständen des Lebens, die er auf den Großbaustellen Europas immer mehr
aus dem Blick verlor.
Die neuen residenti aus den Bildungs- oder Wohlstandseliten nordeuropäischer
Gesellschaften hingegen hatten vordergründig meist andere Beweggründe für den
Kauf ihrer meist schon vorrenovierten Häuser: Sie schufen sich damit ein
Statussymbol und pflegten etwas, das sie für das dolce far niente
hielten – zumindest die nicht mit dem Gelderwerb befassten Angehörigen.
So entstanden in den Achtziger und Neunzigern des vergangenen
Jahrhunderts dort oben, aber auch in ähnlichen Dörfern der anderen Täler, zeitgeistige
Karikaturen von Thomas Manns Zauberberg. Enklaven des Denkens und Verhaltens,
die die Natur und das Naturell der unmittelbaren Umgebung nur soweit mit
einbezogen, wie die eigene Wahrnehmung das zulassen wollte. Da Neid, Missgunst
oder treudeutsche Werte jeweils im Reisgepäck verstaut wurden, entstand so
etwas wie eine italienische Schein-Existenz. In Wahrheit mutierte Castellinaria zu einer Enklave
Wohlstands-Europas, während die RAF und die Brigate Rosse ihr Terrorwerk
verrichteten, der kalte Krieg seiner absoluten Eiszeit entgegen frostete und
allenthalben die Umweltzerstörung fortschritt. Wer wollte, konnte - so er sich
es eingerichtet hatte – dort ganzjährig auf der Sonnenseite des Lebens Gott
einen lieben Mann sein lassen. Aber es gab keinen Gott in Castellinaria oder besser gesagt, er hatte sich von dort eine
Auszeit genommen. Und das, obwohl Generationen dieses kleinen, an einen
Felsgrat geklammerten Bergnestes in den tausend Jahren seiner Existenz, um ihn
zu preisen, auf einer Grundfläche von etwa vier Fußballfeldern, nicht weniger
als drei Kirchen und zwei Kapellen errichtet hatten…
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