Die Alten des Dorfes fanden sich nach und nach schweigend auf der
steilen Mauer im Schatten der Kastanien, Platanen und Akazien ein. Da sie
ausnahmslos Schwarz trugen, muteten sie an wie eine zögerlich eintrudelnde
Versammlung von großen, flatterigen Rabenvögeln auf einer Überlandleitung. Es
mögen sich im Laufe einer halben Stunde wohl an die tausend Lebensjahre dort entlang
der krummen Stufen versammelt haben, die in die mittelalterlichen Ruinen
hineinführten.
Weiter oben, schon im Schlagschatten der engen Gasse, summten und
schwirrten die Schmeißfliegen um zwei gewaltige Dungfladen, die sich beim
fallen Lassen fast über die gesamte Breite des Aufstiegs ausgedehnt hatten.
Die riesigen ligurischen Ochsen, die sich vor ein paar Minuten derart
erleichtert hatten, bevor sie - die urgewaltigen Hinterteile voran - in ihre Cantina-Höhlen
bugsiert worden waren, sorgten für ein weiteres Hindernis. Mit ihren
Titanen-Köpfen und sabbernden Mäulern, die von beiden Seiten so weit in die
Passage hineinragten, dass sie fast aneinander stießen, schufen sie ein
respektables Bollwerk. Sie waren offenkundig froh, der schon in den Morgenstunden
herrschenden Sonnenglut entronnen zu sein. Auch die Alten in ihren schwarzen
Stoffsakkos mieden jeden direkten Sonnenstrahl und genossen den bisweilen
kühlenden Atemhauch der Tramontana. Der Fallwind aus dem Appenin nährte
einmal mehr die Hoffnung, dass ein paar kräftige Gewitter die eingeschränkte
Wasserversorgung hier oben beenden mochten. Normalerweise hätten sich die Männer im Dunkel der kühlen
Kellergewölbe schon mal das erste Gläschen Rotwein des Tages gegönnt, aber
dieses angekündigte Schauspiel wollten sie sich einfach nicht entgehen lassen.
„Beim nächsten Mal macht er schlapp“, prophezeite der ausgezehrte Mario
Bartolo. Er reckte sein stoppeliges Kinn in die Brise und sah dabei so aus, wie
Mussolini gerne seine Contadini in den frühen Propagandafilmen hatte in Szene
setzen lassen.
„Eine Packung Nationale dagegen!“ Claudio mit gleichem Nachnamen aber doch nur ein
entfernter Vetter von Mario hatte dem Wettobjekt ein ansehnliches Bündel
1000-Lire-Scheine zu verdanken. Und er hatte mit den Deutschen ja als Partisan
zu tun gehabt: „Er wird es schaffen - der tedesco pazzo …“
Sie warteten darauf, dass der lange Blonde und der mickrige Esel, den ihm
der listige Fulvio geborgt hatte, endlich aufgeben oder gar unter den Lasten
und der Glut dieses Vormittags
zusammenbrechen würden. Fast die Hälfte der betagten Rabenreihe hatte dem „verrückten Deutschen“,
wie ihn Claudio genannt hatte, in der letzten Woche ein Stück zerfallenes
Gemäuer an der steilen Ostflanke des mittelalterlichen Wehrdorfes verkauft.
Einst als Rückzugsrefugium gegen die Piraten
auf einer Felsnase mitten in den schier unendlichen Olivenhainen der Campagna
Imperese errichtet, war das Dorf nun im Jahre 1968 nahezu verlassen. Die
Jungen waren wegen der vermeintlich leichteren Arbeit und des Dolce Vita, das ihnen das
Fernsehen vorgegaukelt hatte, in die Industrie-Städte im Norden oder in die
touristischen Ballungszentren der Riviera gezogen. Die Alten schufteten,
gewissermaßen als letztes Aufgebot, so lange es eben noch ging, in diesem von
Oliven- und Weinernten bestimmten Wartestand zum Jenseits.
Und dann kam dieser Deutsche Spinner und zahlte für wertloses Gemäuer mal
kurz eine Million Lire oder für ein verwildertes Stück Garten mit ein paar
gegen die Trockenheit kämpfenden Zitronen- und Feigenbäumen unvorstellbare 600.000 Lire. Obwohl er offenbar so reich
war, dass er sein Geld zum Fenster hinaus werfen konnte, begann er nun auch
noch zur völlig falschen Jahreszeit damit, sich als Ruinen-Baumeister selbst
abzukämpfen. Er würde knöcheltief durch die Ochsenfladen stapfen müssen. Der
Esel würde bocken, wenn er zwischen den beiden Monstern hindurch müsste, und
die gnadenlose Sonne würde dem hellhäutigen Blonden nach dem fürchterlichen
Sonnenbrand einen gnädigen Hitzschlag versetzten, noch ehe nur eine der sinnlos
erworbenen Mauern wieder stünde.
Der Baustoff-Händler aus Borgomaro hatte alles unten an der Schotterstraße
abgeladen, was Bernhard Kleiner für den ersten Bauabschnitt bei ihm geordert
hatte: Zementsäcke, einen stattlichen Haufen schwarzen Schiefersandes, der wie
das Teergranulat erst noch in Kiepen umgefüllt werden musste, Dachrinnen, Leitungsrohre, Kabel und eine
handbetriebene Miet-Mischmaschine. Näher als die zwei Serpentinen vom Hauptort
herauf an den unteren Dorfeingang ging es nicht. Der Rest würde harte
körperliche Schlepparbeit sein; zweihundert Meter über Stufen und steile
Plattenwege hinauf zur eigentlichen Baustelle. Es war zu befürchten, dass die
Hälfte des Materials über Nacht verschwunden sein würde, wenn Bernhard es
nicht binnen eines Tages auf sein
gesichertes Terrain geschafft hätte.
Bernhard hatte im Morgengrauen bereits Bekanntschaft mit seinem
langohrigen Assistenten gemacht. Fulvio, der Dorfälteste, hatte ihm den
Graukittel als sconto für große, grob behauene Sandstein-Quader
überlassen, die der Deutsche ihm abgekauft hatte. Was für ein Trottel! Fulvio
hatte sich die ganze Zeit über die herumliegenden Dinger geärgert. Jetzt
schaffte der Deutsche sie fort und zahlte auch noch dafür. Kein Mensch würde
heutzutage noch diese Brocken verarbeiten. Laura, seine Frau, müsste dann nach
der Räumung des Trümmerfeldes nicht mehr zu ihrem Gemüsegärtchen an den oberen
Ortsrand. Jetzt würde sie einen Garten direkt vor der Haustür bekommen. Ein
Garten am Haus - das war für die Bewohner solcher Nester in den Bergen ein
Zeichen von echtem Wohlstand.
- Was der Esel, der Beppo hieß, ganz sicher nicht war. Kaum weniger
hinfällig als sein Eigentümer balancierte Beppo einen stattlichen Hängebauch
auf ziemlich zerbrechlich wirkenden Stelzen. Der Rücken hing so durch, dass
Bernhard, der von Eseln ziemlich wenig verstand, sich fragte, wie der überhaupt
den Berg hochkommen sollte. Geschweige denn nur einen Sack Zement dabei würde
tragen können. Aber als er ihm eine vorsorglich eingesteckte Kohlrübe als Akt
der Fraternisation hinhielt, glaubte er in den aufmerksamen Augen des Tieres so
etwas wie sein "Alterasino" zu entdecken: Sturheit, Verschlagenheit
aber auch ein Beharrungsvermögen, das keiner beiden auf einen flüchtigen Blick hin anzusehen
vermochte...
Und dann hatten die beiden Sturköpfe mit ihrer vermeintlichen
Sisyphos-Arbeit begonnen: Der 31jährige
Bernhard, der mit seinem lang gezogenen Adlerprofil und der hoch mögenden
Kopfhaltung eher anmutete wie einer, der sich nicht gern die Hände schmutzig
macht und der alterslose Beppo, der mit dem Auflegen des Tragegeschirrs auf
einmal seinen Rücken mit dem "Jesuskreuz" auf der grauen Schulter
durchstreckte und keinen Hängebauch mehr hatte. Selbst bei zwei Zementsäcken
auf jeder Seite bog sich der Rücken des Esels nicht mehr durch, so dass
Bernhard, der vor dem Tier nicht zurückstecken wollte, seinerseits ordentlich schulterte.
Der lange Deutsche hatte ebenfalls unsichtbare Kraftpotenziale an seinem
hageren Körper, die manchem arglosen Widersacher oder vorlauten Mitarbeitern
auf anderen Baustellen schon zum Verhängnis geworden waren. Das waren keine
Muskelprotzereien, sondern routinierte, abgestimmte Bewegungsabläufe aller
Gliedmaßen. Sie erweckten den Eindruck absoluter Mühelosigkeit. Als hätte der
Schlacks leicht selbst das Quantum des Esels bewältigt. Sie schafften so an die
15 Säcke pro Stunde. Am Ende der zweiten Stunde fanden sich dann die
"Rabenvögel" ein, denn die Kunde vom Unterfangen Bernhards hatte sich
zwischen den wenigen noch bewohnten Häusern schnell herumgesprochen. Jetzt mit
der Hitze musste der Mann doch wohl aufgeben...
Aber Bernhard richtete sich ganz nach dem Rhythmus von Beppo. Sie
machten nach jedem Aufstieg Pausen, die der Esel bockig einforderte. Tranken
das herrlich kühle und mineralhaltig schmeckende Wasser aus der Fontana und
teilten brüderlich ein Stück Foccacia bevor sie leichtfüßig wieder zur
Schotterstraße hinunter trabten...
Aber nun herrschte in der Gasse dieser penetrante Ammoniak-Gestank, und
die Bremsen fielen über sie her. Von den Monster-Hörnern, die drohend den Weg
versperrten, ganz zu schweigen. Bernhard spürte, wie sich die Augen der
"Raben" in seinen Rücken bohrten, als er erstmals auf die neuen
Hindernisse zustrebte. Er hatte seine bewährten deutschen Norm- Arbeitsstiefel
mit den Schutzkappen an und patschte mitten in die Ochsenfladen hinein, dass es
nur so gegen die Hauswände spritzte. Und als sich die Titanen-Köpfe nicht in
ihre Höhlen zurückziehen wollten, trat er dem einen mit frisch gedüngter Sohle
fest genug gegen die weichen Nüstern, so dass auch der andere diese Schmerzen
ahnen konnte. Diese Behändigkeit trotz der Last auf seiner Schulter nötigte den
Alten schon Respekt ab. Sie nickten einander beifällig zu. Doch noch immer war
das sardonische Lächeln aus ihren von Sonne und Alter plissierten Gesichtern
nicht ganz verschwunden, denn jedermann kannte Beppos Angst vor den ausladenden
Ochsenhörnern.
Und richtig, kaum war Bernhard, der sich den Zaum des Esels an den
Werkzeuggürtel gehakt hatte, vorbei und ein paar Stufen weiter oben, schwangen
die Riesenschädel der Ochsen wieder auf die Gasse hinaus. Die zwei Lastenträger
waren in der Falle, weil der Esel sich nicht weiter bewegte.
Wären die Ochsen Bauarbeiter von Bernhard gewesen, so hätten sie nun
gewusst, dass damit die zweite Reizstufe des stoischen Deutschen erreicht war.
Der drehte sich - immer noch ruhig - um die bepackte Achse, womit er die Longe
zum Esel verkürzte und sich beim Abstieg nicht verhedderte.
Auf einer Stufe höher angekommen, trat
er nochmals zu. Diesmal nach beiden Seiten, und jetzt tat es richtig weh, weil
die gezielten Tritte auf die Nasenringe der Tiere trafen. Es erhob sich ein
ohrenbetäubendes Gebrüll, und die annähernd eine Tonne schweren Ochsen bäumten
sich dermaßen in ihren Gewölben auf, dass man das Gefühl bekam, die darüber
liegenden Häuser würden von einem Erdbeben erschüttert.
Beppo, der schlaue Esel, nützte die schmerzliche Verwirrung, um an Scylla und Charybdis vorbei zu klettern. Aber
dann blieb er eine Stufe oberhalb - außerhalb der vermeintlichen Reichweite der
Hörner - plötzlich bockig stehen, als wolle er das Herausschießen der wütenden
Ochsenköpfe noch einmal regelrecht
provozieren.
Und die dummen Ochsen fielen drauf herein. Als sie mit mächtigem
Schädelschwänken nachtarocken wollten, zeigte sich Beppo Bernhard als Bruder im
Geiste zumindest ebenbürtig: Trotz seines in Hangneigung beladenen
Schwerpunktes keilte er mit seinen zierlichen Hufen über die Hinterhand
paarweise zweimal elegant aus - wie ein Lipizaner in der Wiener Hofreitschule -
und traf die Monster noch einmal hart an den schmerzenden Nüstern.
Bei den nächsten Anstiegen verschwanden die Köpfe dann in den Höhlen,
sobald sie die beiden zu Gesicht bekamen. Bis Mittag war bis auf die
Mischmaschine alles Material zu Bernhards Baustelle hoch geschafft. Die beiden
Recken gönnten sich im Schatten der eingestürzten Altbauten eine ausgiebige
Siesta, in der der Esel vom Geschirr befreit an eine schattige Mauer gelehnt
schlief und Bernhard mit einem Sandsteinquader als Kopfkissen in das Azur des
Himmels starrte und verzweifelt darüber nachdachte, wie er die Mischmaschine
herauf schaffen sollte.
Dann war auch er eingeschlafen. Als er erwachte, stand die Mischmaschine
an einem geeigneten Platz vor seinem bröckeligen Tor. Ganz kommentarlos hatten
die Alten ihm mit Ochsenkraft ihren Respekt gezollt. Na, nicht so ganz, denn
ein noch feuchter Ochsenfladen stank breit geplatscht von seiner Eingangsstufe
und beherbergte schon massenhaft dicke, grün schillernde Fliegen.
In diesem ersten Jahr als Ruinen- und Grundbesitzer in Italien konnte
Bernhard weder Italienisch noch hatte er einen Führerschein, der ihm eine
unabhängige Mobilität ermöglicht hätte. Zum Telefon, das nur mit Gettoni aus der Bar Tabacchi im Capo
luogo funktionierte und auf Fernamtvermittlung angewiesen war, musste er
fast tausend Stufen hinunter und wieder zurück. Für Behördengänge war er auf
den zweimal am Tag verkehrenden Bus angewiesen oder er klemmte sich zu einem
der Olivenbauern in die für ihn viel zu kleinen Führerstände der Ape; jene nach Zweitaktgemisch
stinkenden, dreirädrigen Lieferkarren, die bergab aus jeder Kurve zu fliegen
drohten und bergauf so langsam wurden, dass man am liebsten ausgestiegen wäre,
um zu schieben.
Was Bernhard mit Worten noch nicht erreichen konnte, schaffte er mit
seiner Hände Arbeit. Die einfachen Menschen im Appenin machten ja ohnehin nicht
viel Worte. Aber sie wussten handwerkliche Fähigkeiten über alle Maßen zu
schätzen. Es war dies ja eigentlich nur
als ein erster Urlaub zum Grunderwerb und zur Regelung möglicher notarieller
Angelegenheiten gedacht gewesen. Sein
Konzept sah vor, dass er künftig die saisonal bedingte Arbeitslosigkeit als
Maurer in Deutschland hier in Italien nutzte, um das in die Tat umzusetzen, was
ihm als Achtjähriger in Vorpommern während des gnadenlos kalten letzten
Kriegswinters geweissagt worden war und was er sich daraufhin selbst geschworen
hatte:
Ich will ein Schloss im Himmel, und nie wieder frieren müssen!
Bernhard war von einer zögerlichen, reservierten Gott-Gläubigkeit, die
keiner Religion anhing und beherzigte eine unumstößliche, persönliche Moral, so
dass ihn Freunde schon mal flapsig in Anspielung auf seine Tätigkeit den
"Freimaurer" nannten. Jedenfalls hatte er es als Fingerzeig des
Himmels empfunden, als er erstmals bei der Suche nach seiner südlichen
Traumimmobilie auf das Wehrdorf Castellinaria gestoßen war.
Zunächst hatte ihm etwas vorgeschwebt, was die Einheimischen einen Rustico nannten - ein
verlassenes Gemäuer auf einem ordentlichen Stück Land in Meernähe, auf dessen
Grundriss man neu bauen durfte. Aber dafür reichte das Geld nicht, das seine
Frau Traute und er zur Seite gelegt hatten, seit sie nach zwei Fehlgeburten
wussten, dass sie kinderlos bleiben würden. Das waren rund 6000 Mark - ein
halber Jahresverdienst. Aber was kostet schon ein Traum? Der Immobilien-Makler
hatte ihm im schlechten Deutsch beschieden, dass er sich für diese Summe schon
selbst auf die Suche begeben müsste, ihm
andererseits aber nachsichtig lächelnd den Tipp gegeben, sich in den weitgehend
verlassenen Wehrdörfern des Hinterlandes umzusehen.
Weil er ja im Urlaub war, hatte er sich sofort auf die Wanderung
begeben. Am ausgetrockneten Flussbett des Impero entlang war er im gleißenden
Licht in Richtung Berge marschiert. Kurz hinter der Römerbrücke von Pontedassio
blickte er zu den Dörfern hinauf, die wie Perlen an den Zacken einer Krone
hintereinander abgestuft und aufgereiht lagen, als seien sie von irdischen
Wesen uneinnehmbar. Leuchtende Kleinodien im changierenden Grün von Oliven- und
Eichenhainen, die auf Terrassen in den Himmel zu klettern schienen. Bernhard
atmete so tief ein, als wolle er diesen Augenblick nicht nur optisch
festhalten. Der heiße Duft von wild wachsendem Rosmarin, von Salbei, Lavendel
und Ginster drang in Nase und Lunge. Samt der vorauseilenden Erkenntnis, dass
er es gefunden hatte.
Da oben, im höchsten Ort würde er es
bauen und es würde kein Luftschloss sein, wie es der Ortsname verheißen mochte:
Castellinaria.
Etwas über eine Stunde später in voller Mittagshitze war er an der
steilen Ostflanke des um diese Zeit wie komplett ausgestorben wirkenden Ortes
angekommen und blickte durch die leeren Fensterhöhlen und die Breschen im alten
Gemäuer auf die Weinberge des tiefer gelegenen Nachbarortes, der in den
azurblauen Dunst des Luftlinie nur fünf Kilometer entfernten Mittelmeeres
ragte.
Hätte das Schicksal es anders mit ihm gemeint gehabt, Bernhard wäre
nicht nur ein Meister seines Faches und später ein umsichtiger Bauleiter
geworden. In diesem Moment wurde er nämlich von einer übermächtigen Vision
gepackt, wie dies alles aussehen könnte, wenn es denn seines und er auch sein
eigener Baumeister wäre.
"Si vende", sagte da eine Stimme hinter ihm.
"Si! - Quanto?", antwortete Bernhard ohne sich umzudrehen mit
einem von gut einem Dutzend italienischer Vokabeln, die er daheim von seinen
Gastarbeiter-Kumpeln aufgeschnappt hatte.
Doch so einfach war es zunächst nicht, um dann doch wieder viel
unkomplizierter zu sein als in Deutschland. Weil Bernhard kletternd umrissen hatte,
was er haben wollte, hatte er es auf einmal nicht allein mit dem ersten Mann zu
tun, der ihn angesprochen hatte, sondern mit dreien. Und weil er für seine Frau
Traute noch ein Stück Garten wollte, kam noch eine Witwe hinzu - und Fulvio,
dessen Sandsteinquader es ihm angetan hatten.
Bernhard hatte die ruhige Schönheit dieser Steine mit seinem geschulten
Blick sofort erkannt, obwohl sie wie Kraut und Rüben auf dem Nachbargrundstück
verstreut lagen und zum Teil schon dicht von Brombeerranken überwuchert wurden.
Auf seinen unfreiwilligen Wanderungen hatte er genug Gelegenheit gehabt, die
meisterliche Schicht-Technik ligurischer Trockenmauern zu studieren. Sie
stützten die Terrassen der historischen
Olivenhaine zum Teil seit vielen Jahrhunderten unverrückbar. Hier und da waren
sogar noch die Treppen aus massiven Trittsteinen zu sehen, auf denen die
Bauern die bisweilen zehn Meter hohen
Mauern erklommen; lange, schmale Quader, die hintereinander versetzt zur Hälfte
in der Mauer verklemmt waren und auch von gelegentlichen Erdbeben nicht
herausgeschüttelt wurden.
Man musste einen Blick für die Formen und Dimensionen der Steine haben,
um sich eine Vorstellung von den Möglichkeiten der Gestaltung machen zu können.
In den ersten Momenten seiner Visionen hatte Bernhard diese erkannt und daran
eine praktische Überlegung geknüpft: Irgend ein Steinmetz hatte sich vor
Jahrhunderten die Mühe gemacht, diese Sandstein-Quader zu brechen und zu
behauen und ein Maurer hatte sie sich so geordnet, dass daraus ohne Mörtel oder
sonstiges Füllmaterial ein solides Mauerwerk geschichtet werden konnte. Es ging
also lediglich darum, für die Grundmauern ein mittelalterliches Puzzle mit
modernen Materialien zusammen zu fügen, und Bernhard wusste, dass die
unverfälschte Struktur grandios aussehen würde. Dass die Puzzle-Teile nicht
selten bis zu einem halben Zentner schwer sein würden, focht ihn nicht an. Wozu
hatte er denn den guten alten Beppo?
Fulvio staunte nicht schlecht, als sich Bernhard bei ihm bis zum Winter
verabschiedete und ihm seinen Sarg großen "Zauberkasten", der per
Bahnfracht nachgekommen war, zur Aufbewahrung anvertraute. Mit einer Mischung
aus Hochachtung, Staunen und ein wenig
Missgunst betrachtete er die neuen Grundmauern, die der Deutsche in Rekordzeit
aus seinen "wertlosen" Steinen zusammengefügt hatte. Mit großen
Stahlwinkeln, Wasserwaagen und Richtschnüren aus der Kiste hatte er aus den
Vorgaben längst verblichener ligurischer Steinmetze ein Mauerwerk unerhörter
Ästhetik geschaffen. Selbst das fast noch zur Gänze erhaltene Castello aus dem
elften Jahrhundert im Zentrum des Dorfes wies nur an der Hauptfront eine derart
erhabene Struktur auf:
Je fünf ähnliche und doch nicht gleiche, sehr glatte Quader stützen
rechts und links vom Eingang einen fast zwei Meter breiten und fünfzig
Zentimeter hohen, leicht gewölbten Portalstein. Die zwei Fensterstöcke zur
Gasse links und rechts vom Eingang waren Miniaturen dieser Konstruktion. Wenn
die Mittagssonne der Länge nach in die Gasse schien, begannen diese
Einfassungen honiggelb aus dem ockerfarbenen Netz des übrigen, rauer behauenen
Mauerwerkes zu leuchten. Niemand konnte sich dieser archaischen Schönheit
verschließen, und in dem Maße, in dem Bernhard den alten Steinen zu neuem Glanz
verholfen hatte, schien auch die Fontana am Platz vor dem Castello plötzlich
das Wasser eines erquickenden Jungbrunnens zu spenden. Jedenfalls wehte
entfacht vom Tun des Deutschen ein neuer Wind durch die fast schon
ausgestorbenen Gassen. Das waren weder Scirocco noch Maestrale,
kein Libeccio und auch kein Tramontana - dieser Wind hieß
Hoffnung und Zukunft für ein verlassenes Dorf.
Der tedesco pazzo hatte sich
verblüffend schnell den nachbarschaftlichen Respekt als vicino Bernardo verschafft.
Später -gut vierzig Jahre lang - würden
sie ihn alle nur noch Don Bernardo
nennen.
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