Casellinaria Kapitel 3
Bernhard hatte den Sandsteinkegel am linken Pfeiler des Portals nicht
zementiert. Als er Mitte November als Anhalter von Kempen bei Köln innerhalb
zweier frostiger Tage nach Castellinaria zurückkehrte, erlebte er eine böse
Überraschung. Wie hatte er, der den Ort bisher nur bei staubiger Gluthitze kannte,
auch nur ahnen können, welche Unwetter über sein Luftschloss hinweg brechen würden
und welche Aufgabe dieser unscheinbare Kegel dann zu erfüllen gehabt hätte?
Wie so oft hatte der die Ligurer so depressiv machende Scirocco aus Südost
gegen Ende des Herbstes die Wende eingeleitet.
Er hatte dafür gesorgt, dass der Schönwetterwind Libeccio, der aus
Südwest mit seiner warmen, feuchten Luft über das Mittelmeer kam, gestoppt
wurde. Die Luftfeuchtigkeit staute sich an den Bergen oberhalb von Sanremo zu
gewaltigen, dunkelgrau drohenden Wolken-Türmen. Als der Libeccio sich
dann zurückzog, saugte er den eiskalten Maestrale
an, den D-Zug schnellen Fallwind der von Nordwest
aus den bereits dick beschneiten Gipfeln der Seealpen heran raste. Die warmen
Wolken, die jetzt wie überkochender Leim träge und schwer von Feuchtigkeit über
die Bergkämme in die Valle del
Olio
rannen, wirkten auf diesen schnellen Wind wie die Reibflächen der staatlich
regulierten Zündholzschachteln (die allerdings ebenso selten berechenbar
funktionierten). Im Nu waren Gewitter infernalischen Horrors entfacht. Der
Regen wurde mitunter waagerecht unter die Dächer gepeitscht, wandelte sich dann
in Sekunden zu Hagelstrichen und prasselte sogar durch die zur Vorsicht
verrammelten Schlagläden vor den Fenstern. In wenigen Augenblicken wurden
mitunter große Teile der Olivenernte vernichtet. Diese Kraftentfaltung der
Naturgewalten überraschte selbst die Alten immer wieder aufs Neue. Da wurden
Zentner schwere Amphoren umgerissen und segelten massive Vordächer davon. - Und
dann diese Wassermassen.
Oben in Castellinaria waren die drei parallelen Gassen auf dem
Felsgrat die Ablaufrinnen zwischen den maroden Häuserreihen. In Sekunden
verwandelten sie sich in reißende Wildwasser, auf denen Narren hätten Kajak
fahren können. Die bergseitig einzementierten Kegel an den Türpfosten und
Torpfeilern wirkten dabei wie kleine Wehre, die das Wasser in die Mitte der
Häuserschluchten zurücklenkten und dadurch daran hinderten, in die Wohnbereiche
einzudringen.
Der erste Wasserschwall hatte Bernhards nur hingestellten Kegel derart
verschoben, dass er seine provisorische Brettertür fortgerissen hatte und als
ungebetener Besucher in die nur aufgeschütteten Böden der beiden zukünftigen
Wohnzimmer gerauscht war. Da man Bernhards am Ortsrand klebendes Haus im
obersten Stockwerk betrat, raste die Flut die alten Stufen hinunter und
verschaffte sich zum Garten hin gewaltsam Ausgang, indem sie die historischen
Mauern unterspülte und die Sickergrube sprengte.
Als Bernhard seine ruinierte Ruine am Tag danach erreichte, stach die
Sonne wieder vom Himmel, als sei nichts gewesen. Der Wind war abgeflaut wie
Bernhards Enthusiasmus, aber dann kam auf einmal ein anderer mystischer Wind.
Er brachte das Blut in Wallung, weil er im stechenden Sonnenlicht bei 25 Grad
durch sein kühles Fächeln Beklemmung und Atemnot behob und auf eine tückische Art euphorisierend wirkte:
La brezza libecciata oder il libeccio
Die Einheimischen kannten sein trügerisches Spiel und waren deshalb gar nicht erst aus den Häusern gekommen, um
Bernhard zu warnen. Der nachgebesserte Zementsockel für den Sandsteinkegel war
gerade fest geworden, da brauste schon ein neues Gewitter heran.
Geistesgegenwärtig hatte der Ruinenbaumeister bei dem aufkommenden Sturm
Sandsäcke aus einer Felsenhöhle seiner Cantina geschafft, in der sie mit
allen anderen dort gelagerten Baustoffen das Unwetter wie durch ein Wunder
unbeschadet überstanden hatten. Der kleine Wall verhinderte, dass sich noch
einmal ein Sturzbach durch sein Haus ergießen konnte. Aber gegen die von oben
herein dreschenden Regenschauer half er natürlich nicht. Zwei Tage und Nächte
goss Petrus aus vollen Badewannen Schwall um Schwall in die zum Teil noch
unbedachte obere Etage. An arbeiten war nicht zu denken. Es galt, mit Eimern
das Wasser heraus zu schöpfen wie bei einem maroden Kahn. Und es wurde wieder
bitter kalt, weil durch die Feuchtigkeit die Kälte nach dem neuerlichen
Temperatursturz fast unerträglich unter die Haut drang.
Aber Bernhard wollte ja nie wieder frieren. Es zahlte sich aus, dass
seine noch nicht ganz feste Burg tatsächlich nicht auf Sand gebaut, sondern die
meisten Mauern auf Felsen verankert waren. In der Höhle, die er eher instinktiv
als Lagerplatz für die Materialien gewählt hatte, befand sich am Ende auch eine
gemauerte Esse, die vielleicht einmal als primitive Schmiede gedient hatte.
Er blies seine Luftmatratze auf, rollte dort seinen alten NVA-Rucksack
aus, stellte Camping-Kocher samt Geschirr sowie Tütensuppen daneben und schuf
sich so das perfekte Biwak. Wann immer es auch nur den Anflug von Kälte gab,
heizte er die Esse mit geborstenem Bauholz und schuf damit sogar eine Art
Hüttenromantik. So ritt er das Wetter sicher ab wie ein Bergprofi. Es spricht
für die Charaktereigenschaften dieses Mannes, dass er aus der primitiven
Gemütlichkeit, die Kraft gewann, nicht aufzugeben. Er schaffte es vielmehr, zu Raum und Zeit mit seiner Urkraft als
dritter Dimension innerhalb der verbleibenden fünf Wochen noch nahezu ein
Wunder zu vollbringen. Es entstand gewissermaßen aus dem Chaos.
Am 21. Dezember sollte seine
Frau, Traute, mit dem TEE (Trans Europ Express Mediolanum/Ligure) nachkommen,
um die Weihnachtsfeiertage und Neujahr in ihrem Himmelsschloss zu verbringen.
Da sollten Wohnküche, Bad und das Schlafzimmer doch bewohnbar sein. Sie hatten
ohnehin noch einmal einen zusätzlichen Kredit aufnehmen müssen. Wer weiß denn
schon wirklich, was so ein Luftschloss kostet?
Als Bernhard nach 48 Stunden völlig verrußt mit seinem Kulturbeutel
unterm Arm aus seiner Höhle kroch, um sich an der Fontana vor dem Castell zu
waschen, bahnte sich eine weitere Herausforderung gänzlich anderer Art für den
Deutschen an.
Hinter einem Vorhang im Haus auf der Südseite der Piazzetta beobachteten
zwei kenntnisreiche Augen, wie der wie ein Carbonaio anmutende Biondo
sich
unter dem Seifenschaum in einen Adonis verwandelte, der durchaus von einem
italienischen Renaissance-Bildhauer hätte modelliert sein können.
La Francesa war eine
Einheimische, die erst vor kurzem nach einem Leben voller legendärer
Vorkommnisse verwitwet in ihr Haus an der Piazza Castello zurückgekehrt war. Die ehelich
gebundene Weiblichkeit der Talschaft ward ob des männermordenden Rufes von
Tiziana Gandolfo bereits seit Wochen in Angst und Schrecken versetzt. Man
erzählte sich treppauf, treppab, sie habe für den Fürsten Rainier von Monaco
gekocht und nebenbei ein Vermögen in dessen Spielbank gewonnen. Sie wurde indes
auch nicht müde, selbst die
Gerüchteküche um sie herum anzuheizen, indem sie Männer aus der Nachbarschaft,
die ihr einen handwerklichen Gefallen erwiesen hatten, gelegentlich mit auf
Goldrandtellern dargereichten Leckereien belohnte.
Natürlich hatten sich die Geschichtchen um die Besonderheiten des
Deutschen auch bis zu Signora Gandolfo herumgesprochen, und weil sie einige
Jahre im Palace von Sankt
Moritz Sous Chef gewesen war, sprach sie auch ganz manierlich Deutsch. Bernhard
trocknete gerade seinen mehr als ansehnlichen, kaum behaarten Oberkörper, als
sie mit einer Goldrand-Tasse Kaffee auf ihn zu stöckelte:
"Schaden sehr groß?", fragte sie, indem sie ihm die Tasse
reichte.
Bernhard brauchte ein paar Sekunden, um zweierlei zu verarbeiten:
Einerseits, dass es im Dorf jemanden gab, der Deutsch sprach, und andererseits
sah diese Frau aus wie eine etwas jüngere, deutlich schlankere und wesentlich
elegantere Ausgabe der Muhme Alice... Bernhards pommersches Spökenkieker-Blut
nahm das als einen Fingerzeig.
"Nicht so groß, aber ich wollte fertig sein, bis meine Frau kommt!
Ich werde doch Hilfe brauchen."
Die Signora lupfte indigniert und amüsiert zugleich auf französische Art
ihre linke zu einem fadendünnen Strich gezupfte Augenbraue. Sie hatte, nun ja,
ihr bestimmtes Beuteschema, und wenn ein Kerl gleich im ersten Satz von seiner
Frau sprach, dann weckte das ihren Instinkt als Jägerin und Sammlerin.
"Ich habe junge, starke
Freunde - da ein paar! Gefallen mir. Non! Schulden mir Gefallen."
Was für eine Beziehung war das, die sich da ergab? Bernhard war sich
seiner Wirkung auf Frauen durchaus bewusst, aber eher sein unbewusster
Stoizismus als seine bewusste Moral ließen eine andere Frau als Traute in
seiner Gefühlswelt nicht zu. Er war jedoch Pragmatiker genug, der etwa
anderthalb Jahrzehnte älteren Frau das Gefühl zu geben, sie könne seine
mütterliche Beschützerin sein. Er nahm die mit einem gemütlichen Bett
ausgestattete Kammer an, die sie ihm anbot, damit er seine verausgabten Kräfte
mit gutem Schlaf regenerieren konnte. Er schleppte ihr die Einkäufe und machte
ihr quasi den Hausmeister, was beim nachbarschaftlichen Umfeld natürlich die
üblichen Verdächtigungen hervorrief. Andererseits hatte Frau Gandolfo einen
flotten, azurblauen Alfa Giulia Super, mit dem sie ihre Favoriten gerne
herumfuhr. Ein unbezahlbarer Vorzug für Bernhard, der immer noch keinen
Führerschein hatte. Und die Favoriten, die ragazzi oder
cipollini, wie Tiziana ihre Höflinge je nach Laune nannte, waren dann für
Bernhard das eigentliche Himmelsgeschenk:
Die vier Männer im Alter Bernhards waren in der Gegend geblieben, weil
sie einerseits vitelloni
(unverheiratete im Hotel Mama wohnende Müßiggänger) und andererseits gesuchte
Meister ihres Fachs waren. Gleich am zweiten Abend nach ihrer Begegnung am
Dorfbrunnen hatte die Signora sie in einer Bar an der Piazza von Pontedassio
zusammengebracht:
Franco, ein hageres, untersetztes Energiebündel mit einem bebrillten
Professoren-Kopf auf einem dürren Hals hatte eine ape. Er war Schreiner und kannte
sich auch mit Türen und Fenstern gut aus.
Sandro war Elektriker und Monteur bei der staatlichen Stromversorgung
und mischte unter seine offiziellen Aufträge in den Bergen manch privaten
Zusatzverdienst durch Installationen und Reparaturen. Er war von beängstigender
Schönheit, und die Gandolfo konnte Blicke der Begierde nur schwer unterdrücken.
Sandro allerdings hatte bei ihren gemeinsamen Treffen nur noch Augen für
Bernhard. Was dem wiederum nicht bewusst wurde.
Enzo war gelernter geometra - also
eigentlich Vermessungstechniker - aber im ländlichen Sprachgebrauch erhob ihn
das im ligurischen Hinterland zum Quasi-Architekten. Enzo hatte eine Stimme wie
Caruso und erledigte jede Arbeit mit einem Lied auf den Lippen. Er war am Bau
ein Alleskönner, wenn es jemandem gelang, seinen phlegmatischen Habitus zu
überwinden, den er mit einem pyknischen Körper und einer blauschwarz gefärbten
Schiebedachfrisur manifestierte.
Lucca, der jüngste und reichste von allen, war der schnellste und beste
Fliesenleger der Täler. Ein immens fleißiger Einmann-Unternehmer mit einer
angeborenen Kunstfertigkeit, die es ihm ermöglichte, Preise zu verlangen, die
ohne Diskussion bezahlt wurden. Lucca hatte einen eigenen 7,5 Tonner und lebte
tatsächlich noch unter der Fuchtel seiner Mutter; in einer herrlichen Villa auf
einem Hügel unweit des Meeres, der Anfang der sechziger Jahre von einer
mächtigen Autobahnbrücke der Autostrada
dei Fiori überspannt worden war. Jetzt hatte der Luxus - je nach Jahreszeit –
einen langen oder kurzen Mittagsschatten…
Wer den Ligurern Reserviertheit und Mangel an Kontaktfreudigkeit
nachsagt, wäre überrascht gewesen, wie schnell die Vier den Deutschen trotz der
Sprachbarriere in ihrer Mitte aufnahmen. Gut, am Anfang war es die Gründung der
Gefälligkeitsbank, der banca
di favore, die das Miteinander erleichterte. Ihnen hatte so ein kreativer,
zupackender Maurer, der vor altem Gemäuer nicht zurückschreckte, einfach noch
gefehlt. Hinzu kam, dass Bernhard durch seine Lehr- und Wanderjahre in den
Baukombinaten der DDR für diesen speziellen bargeldlosen Austausch von
Dienstleistungen ohne nähere Erläuterungen prädestiniert war. Ohne diese
"Nachbarschaftshilfe" war dort im Arbeiter- und Bauernparadies doch
privat gar nichts gegangen. Hier war sie allerdings Bestandteil einer
lukrativen steuerfreien Schattenwirtschaft.
Die Gefälligkeitsbank hatte keine Buchhalter und trotzdem waren ihre Konten,
nachdem die Vier in den Anfangsjahren so kräftig bei Bernhard eingezahlt
hatten, im Laufe der späteren Jahre stets ausgeglichen. Jeder hatte seine
speziellen Geschäftchen am Laufen, wo die anderen ihm von Nutzen sein konnten.
Orte wie Castellinaria wären in den 1970ern ohne solche socii vermutlich dem Verfall
ausgesetzt gewesen. Hier kam noch ein anderer Aspekt hinzu - eine sich aus der
Arbeit in den Ruinen langsam festigende, bedingungslose Freundschaft höchst
unterschiedlicher Männer.
Es sollte jedoch bis zur Beerdigung der Francesa im Herbst 1996
dauern, ehe sie sich gegenseitig beim Wein eines gestanden: Dass nämlich nicht
einer von ihnen jemals in die Venusfalle der mysteriösen Frau geraten war. Die
meisten in der Gemeinde betrachteten die Fünf dennoch für immer und ewig als
den männlichen Harem, il arem maschile, der Gandolfo.
Und diese Legenden geistern deshalb auch heute noch als erregtes Raunen durch
die Gassen von Castellinaria...
Am 19. Dezember 1968 zog Bernhard bei der Signora aus und in sein
eigenes Heim. Er machte sich keine Gedanken darüber, ob es seine Wirtin
verletzen könnte, als er sie bat, Traute mit ihm gemeinsam zwei Tage später im
Alfa vom Bahnhof in Porto Maurizio abzuholen. Er fragte einfach, und sie sagte
zu, ohne auch nur mit den Klebe-Wimpern zu klimpern.
Wie auch immer sich alle Beteiligten Bernhards Frau vorgestellt haben
mochten, sie entsprach keiner dieser Erwartungen. Die Langbeinige mit einem
Gardemaß von über 180 cm und der damals populären blonden Hippie-Mähne hätte ob
ihrer Schönheit allen Grund gehabt, wie ein Model oder eine Discoqueen aus dem
Zug zu steigen. Aber es war diese burschikose Natürlichkeit, mit der sie sich
von eilfertigen Reisebekanntschaften im Zug verabschiedete, um dann die viel
kleinere Patrizia Gandolfo herzlich zu umarmen. Sie dankte ihr für die
Fürsorge, die sie ihrem Bernhard in den vergangenen Wochen hatte angedeihen
lassen, als sei sie ihre Lieblingstante. Dass das zudem in einfachen
italienischen Redewendungen geschah, überraschte auch ihren Mann, der ja selbst
immer noch einzelne, gehörte italienische Worte mit deutschen mischte.
Mag sein, dass die Signora - was ruhig bezweifelt werden kann - die
Ankunft einer Rivalin erwartet hatte, aber als sie sich fast nicht aus der
Umarmung dieser weiblichen Naturgewalt lösen wollte, beschloss sie - die
Kinderlose - spontan eine blonde, deutsche Tochter zu haben, die sie um 25 Zentimeter
überragte.
Traute hatte soviel Ähnlichkeit mit Bernhard, dass man beide durchaus
auch für Geschwister hätte halten können. Dazu gehörte neben der rein
körperlichen auch Zähigkeit und immense mit ihrer Grazie kaschierte
Körperkräfte. Als die Gandolfo automatisch versuchte, Trautes Koffer in den
Kofferraum ihrer Giulia zu wuchten,
bekam sie das alte von Lederriemen an der Maulsperre gehinderte Ding, das
Traute sich wie ein Handtäschchen geschnappt hatte, nicht vom Boden. Tedeschi sonno titanici, dachte da die
Signora bei sich.
Bernhard, der es von seinen Baustellen gewohnt war, sich laut und auch
manchmal erzwungen rüpelhaft durchzusetzen, hatte in Traute eine stille,
intellektuelle Sicherheitsreserve. So war es typisch, dass seine Frau die Zeit
genutzt hatte, sich seit dem Sommer mit Hilfe einer italienischen
Arbeitskollegin nicht nur die Grundbegriffe der Sprache anzueignen, sondern
auch mit typisch italienischen Gepflogenheiten vertraut zu machen.
Nachdem Bernhard sie über die Schwelle ihres Luftschlosses getragen und
mit ihr die erste Führung gemacht hatte, ging sie alsbald allein durchs Dorf
und stellte sich bei allen, die ihr begegneten, artig vor. Sie erkundigte sich
nach Kindern, Gesundheit und der Oliven- oder Weinernte. Vor allem die älteren
Frauen sprachen anschließend von ihr, als hätten sie den leibhaftigen
Weihnachtsengel gesehen.
Bernhard und die ragazzi
della banca favore hatten ganze Arbeit geleistet. Das hatte sich im Ort
herumgesprochen, und beinahe jeder der Nachbarn war beiläufig mal vorbei
gekommen und hatte sich das werdende Wunder angeschaut:
Aus Schaden klug geworden, hatte Bernhard, nachdem er die zerfurchten
Schotter-Aufschüttungen wieder angeglichen hatte, sie mit einem Drahtgeflecht gesichert und
dann erst zementiert. Der Estrich war auf eine elastische Schicht aus Folien
und Teer aufgetragen worden und Lucca hatte obwohl er aus Kostengründen von
überall her zwar hochwertige Fliesen-Reste zusammengetragen hatte, ein
Meisterwerk an harmonisch abgestuften Ebenen gezaubert. Gerade weil nichts
absolut neu war, sah das renovierte Haus aus, als sei es immer schon so edel
gewesen.
Sandro hatte nämlich aus einem historischen öffentlichen Gebäude in Peve
di Teco, in dem er zu tun gehabt hatte, von Franco nach der Entkernung
Wandverkleidungen und Paneele aus uraltem Eichenholz mit dessen ape abholen lassen. Dazu kam noch
ein komplettes, dreiteiliges Halbrundfenster, das jetzt aus dem ligurischen
Schlafzimmer der Kleiners den grandiosen Blick übers Tal auf das Meer öffnete.
Eigens bestellt war in jenen Tagen die Sicht, denn Korsika lag so nah und klar am Horizont, als
könne man hinüber schwimmen...
Eine Nachbarin hatte Bernhard das komplette aus dem 19. Jahrhundert
stammende, geschnitzte Schlafzimmer samt Herrgottswinkel aus dem leer stehenden
Haus ihrer Großeltern für ganze 50 000 Lire überlassen.
Die Küche hatte natürlich keinen Einbau-Schick, aber sie war durchaus
funktionell und entwickelte mit ihren Wand
hoch und auch auf den Arbeitsflächen verarbeiteten, handbemalten Kacheln einen
recht gemütlichen Charme. Vorerst gab es ja außer den elektrischen
Durchlauferhitzern in Küche und Bad nur für den Herd Gas aus Flaschen. An
kalten Tagen musste also allein der großzügig bemessene Kamin in der
Wohnzimmerecke zur Balkonterrasse als Wärmequelle reichen.
Es war in den ersten Jahren wohl eine einfache Ferienwohnung - mehr nicht. Aber Berthold hatte etwas sehr
geschickt gemacht. Dort, wo weder Leitungen noch Armierungen unter Putz
kaschiert werden mussten, hatte er die Mauern auch innen so gelassen, wie er
sie errichtet hatte. Er ließ beispielsweise um den Kamin herum allein die
Struktur der großen Steine für Burg-Atmosphäre sorgen und dekorierte sie mit
alten Werkzeugen, Waffen und Gebrauchsgegenständen, die er bei seinen Arbeiten
und Wanderungen gefunden hatte.
Traute hatte ihn nach der ersten Besichtigung nur stumm an die Hand
genommen und mit feuchten Augen angeschaut. Dann war sie nicht korrigierend,
aber ergänzend auf ihre stille Art daran gegangen, dem Haus auch ein wenig
weibliche Note zu geben.
Natürlich war es auch Traute gewesen, die auf die Idee gekommen war, die
Nachbarn und alle, die bei dem Wunder mitgewirkt hatten, am Abend vor
Heiligabend zu einer typisch deutschen Weihnachtsfeier einzuladen. Sie hatte
mit ihrer schönen Handschrift auf ihrem persönlichen Briefpapier mit Hilfe von
Patrizia Gandolfo einen einfachen Einladungstext geschrieben und auch
persönlich verteilt. Aus aufgeklaubten Olivenzweigen hatte sie einen schönen
Adventskranz geflochten, und nun war auch klar geworden, wieso ihr Koffer dieses
Gewicht gehabt hatte. Denn er war voller altrheinischem Weihnachtskram und
Keksdosen gewesen. Es gab Stollen, Mutzemandeln, Nonnenfürzchen, dicke
Wachskerzen, Lametta, Kerzenhalter und dergleichen. Bernhard hatte in
Ermangelung eines Weihnachtsbaumes, der in jener Zeit in den Bergen Liguriens
noch nicht aufgestellt wurde, eine kleine Zypresse im Garten mit Schleifen und
Kerzen bestückt und - als die paar Glaskugeln nicht ausgereicht hatten -
einfach die schönsten Zitronen und Orangen frisch von den eigenen Bäumen an
Schleifen dazwischen gehängt.
Alle kamen, und alle brachten etwas mit, wie es im armen Ligurien der
Brauch war. Zwar hatte Traute im Waschtopf der Gandolfo ihre berühmte
Erbsensuppe mit Bauchfleisch, gebratenem Speck und Croutons gemacht, um alle
satt zu kriegen, aber das hätte für den heuschreckenartigen Heißhunger der Nachbarn
längst nicht gereicht. Der aus einem fragwürdig aufgelösten Klosterbestand von
Enzo ergatterte Refektoriumstisch vor dem Kamin geriet trotz der aus der
Nachbarschaft herbeigeholten Stühle an die Kapazitätsgrenze und bog sich unter
den Speisen: frische Laibe Bauernbrot, Flaschen mit mosto d'oro, der grasgrün
trüben Erstpressung des extra
vergine Olivenöls, Schinken und Sorpressa, Bauern-Taleggio, der so
unweihnachtlich duftete, dass er auf dem Balkon verbannt wurde, sowie diverse
Töpfe mit pesto (pistou),
peperonada und Hasenragout für Berge diverser, natürlich hausgemachter Pasta,
die bis in die späte Nacht nachgekocht werden mussten.
Erst als alles verputzt war und dampfende Tassen coretto
aufgetischt worden waren, kehrte mit dem durch Grappa "korrigierten"
Kaffee weihnachtliche Ruhe ein. Einer der Nachbarn auf Urlaub von der Arbeit in
Deutschland fragte, ob Traute und Bernhard nicht deutsche Weihnachtslieder
singen könnten, worauf die beiden in den Garten hinunterkletterten, die Kerzen
der Weihnachtszypresse anzündeten und - es war ja längst schon der 24. Dezember
- Stille Nacht, Heilige Nacht, O du Fröhliche und Süßer die Glocken nie klingen
zu den auf ihrer Terrasse versammelten Menschen hinauf sangen. Die ließen sich
nicht lumpen und stimmten dann
ihrerseits die mit durch Mark und Bein sowie zu Herzen gehenden Kopfstimmen
vorgetragenen, fremd anmutenden Choräle aus dem Appenin an. Was für eine
Bergweihnacht!
Als Traute und Bernhard nach dem Aufräumen endlich ins Bett gefunden
hatten, waren sie sich beide sicher, noch nie in ihrem Leben so glücklich
gewesen zu sein. Vor lauter Glück war an Schlaf gar nicht zu denken. Und so
passierte es: Andere Umgebung, kein Stress durch Sex nach Thermometer und
Kalender - nur ein Rausch der Sinne. Neun Monate später, nach einer diesmal
absolut komplikationslosen Schwangerschaft wurde den Kleiners ein Sohn geboren.
Obwohl beide eher agnostisch veranlagt waren, ließen sie ihn auf den Namen
Sebastian taufen. - In memoriam des Santuario
San Sebastiano, das in jener Liebesnacht so weihnachtlich feierlich vom
Tal in ihr Schlafzimmer herauf geleuchtet hatte...
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