Castellinaria Kapitel 7
Die, die nur nach dem Äußeren eines
Menschen gehen, machen es sich oft bei ihren Beurteilungen wissentlich zu
leicht. Das Vorurteil, eine Frau müsse nur gut genug aussehen, um Erfolg und
Glück im Leben zu haben, hält sich sogar bei intelligenteren Menschen. Traute
Körber war, bis sie sich endlich die Liebe ihres Lebens erarbeitet hatte, das
Opfer multipler Vorurteile:
Vorurteil 1: Wer einmal im Keller gehaust hat, bleibt meist auch ein
Kellerkind - also sozial unterste Schublade.
Als Familie Körber 1943 in Köln ausgebombt und ins Bergische Land auf einen Bauernhof umgesiedelt
worden war, musste die dreijährige Traute an der Hand ihrer älteren Schwester
Hannelore schon große Strecken auf eigenen Füßen zurücklegen. Die Mutter schob
den Kinderwagen mit den anderthalb jährigen Zwillingen Rolf und Renate und
einen Bauch vor sich her, aus dem in zwei Monaten Tochter Nummer vier schlüpfen
sollte: Vielleicht das Abschiedsgeschenk von Eddie Körber, der kurz nach seinem
finalen Zeugungsakt auf möglicher Weise nimmer Wiedersehen an die Ostfront
geschickt worden war.
Die Demütigungen, die die Stadtkinder bis ein Jahr nach Kriegsende dort
von der Landbevölkerung erfuhren, waren nichts gegen die Wohnverhältnisse und
den Hunger, den sie trotz fleißiger Erntearbeit zu erleiden hatten. Der Bauer
hatte ihnen eiligst den muffigfeuchten Unterbau einer Scheune frei geräumt.
Plumpsklo und Pumpe zum Waschen lagen auf der anderen Seite vom Hof.
Um die Versorgungsverhältnisse ihrer Kleinen bisweilen ein wenig zu
verbessern, ließ Mutter Körber es zu, dass der Bauer ihr gelegentlich im Stall
oder, in einem vermeintlich unbeobachteten Moment bei der Pause von der
Feldarbeit die Röcke über den Hintern hochschlug. Was er dann machte, kannten
die beiden großen Mädchen, die mehrfach spionierten, von Hengst und Stute auf
der Weide.
Durch eine Fehlmeldung kurz vor Weihnachten 1946 hieß es, sie könnten in
ihre alte Wohnung zurück. So hoffnungsfroh waren sie gewesen, von dem Bauernhof
fort zu kommen, dass sie eine Rückversicherung gar nicht in Erwägung zogen. Zu
sechst standen sie mit ihrer armseligen Habe und löchrigen Klamotten vor ihrem
einstigen Wohnhaus, das allerdings immer noch so aussah wie nach dem
Bomben-Einschlag. Ein Zahlenverdreher bei der Straßennummer hatte sie zum
zweiten Mal obdachlos gemacht.
Bis 1947 lebten sie folglich in einer zum Massenquartier
umfunktionierten Kaserne. Sie teilten die Stube mit einer Kriegswitwe, die zwei
kleine Buben hatte. Das Zusammenleben war ein Alptraum. Hygiene und
Privatsphäre konnten nur mit erheblichem Kraftaufwand bei der
Selbstdisziplinierung erreicht werden. Die beiden Frauen vermochten immerhin
jedoch im Wechsel einer bescheidenen Erwerbstätigkeit nachzugehen.
Mutter Körber hatte dabei Glück im Unglück – oder umgekehrt? Sie fand
Arbeit bei einer Änderungsschneiderei, die in einem ehemaligen Textil-Geschäft
von den Eigentümern im eigenen Haus betrieben wurde. Bei dem Haus war nur der
Dachstuhl zerstört. Weil sie sehr fleißig war und bei Überstunden nicht murrte,
machte ihr der Arbeitgeber den Vorschlag, es sich mit ihren Kindern und den
dort noch vorhandenen, nicht so ramponierten Möbeln, unter dem unbeschädigten Teil des Speichers
gratis häuslich einzurichten. Damit begann eine fünfjährige nahezu sklavische
Abhängigkeit der Körbers, in der das Textilgeschäft wieder auferstand und das Dach mit den Körbers drunter sowie Etage
um Etage wieder saniert wurde, ohne dass sich jedoch deren Lebensverhältnisse sonderlich
verbesserten. Dann erst flohen sie aus Verzweiflung in das Souterrain, aus dem
sie der Lenz dann „befreite“
Hannelore und Traute wurden trotz des Altersunterschiedes zusammen
eingeschult. Die britische Besatzungsmacht hatte sich alle Mühe gegeben, das
Deutsche Bildungssystem zu entnazifizieren und wieder auf ein gewisses Niveau
zu bringen. Damit die Schüler nicht gezwungen waren, wegen der permanenten
Nahrungssuche in diesen chaotischen Verhältnissen die Schule zu schwänzen,
wurden sie von den Tommys mit einem Mittagsessen – meist Suppe oder Brei – zum
Besuch des Unterrichts regelrecht angelockt. Damit Mutter Körber ungestört
durchschuften konnte, nahmen die beiden großen Mädchen die drei kleinen
Geschwister einfach mit in den Unterricht und Teilten den Inhalt aus den zwei
Kommissbüchsen durch fünf. Niemand erhob Einwand dagegen, obwohl die mangelhaft
ausgestatteten und kaum geheizten Klassenzimmer der Notschulen ohnehin
hoffnungslos überfüllt waren…
Vorurteil 2: Außergewöhnliche Intelligenz bahnt sich von selbst ihren
Weg.
Obwohl sich Traute im Gegensatz zu Hannelore mit ihren Leistungen aus
den unüberschaubaren Klassen stets nachhaltig heraus hob, reüssierte sie nicht.
Die Lehrer, die vor allem auch wegen der hohen sozialen Kompetenz, die Traute
von Beginn an entwickelt hatte, nicht müde wurden, Empfehlungen für das
Gymnasium und ein späteres Studium auszusprechen, fanden kein Gehör.
Hannelores frühe Hochzeit war ebenso kontraproduktiv wie die wenigen
Monate väterlicher erzieherischer Begleitung.
Eddie Körber hatte selbst am eigenen Leib verspürt, dass er durch die
Heirat seiner Töchter einen Status einnahm, den Leute aus seinen Kreisen sich
nie und nimmer hätten erarbeiten können. Warum sollte Traute dann unnütz die
Zeit auf der Schule verplempern?
1954 war Traute immer noch auf der Volksschule und alles hatte darauf
hingedeutet, dass sie dort auch ihren Abschluss gemacht hätte. Wenn es im Leben
des Lenz aus menschlicher Regung eine Handlung gegeben hat, die in der Folge zu
etwas Gutem führte, dann war es sein Beharren, Traute müsse zumindest die
Mittel- und danach eine Handelsschule besuchen. Die edle Tat wurde später
allerdings von Traute selbst als Akt der alternativen sexuellen Langzeitversorgung
enttarnt. Meesters Büro in Porz lag nur um die Ecke von den beiden avisierten
schulischen Einrichtungen, und er selbst bestand darauf, sich persönlich um
Trautes Fortkommen zu kümmern. Neben der Überwachung der Hausaufgaben sollte
sie so auch gleichzeitig in den Vorzug kommen, alle fürs Büro von der Pieke auf
zu lernen…
„Dat Jerda, dat Aas“, hatte natürlich den Braten als erste gerochen und
machte sich einen Spaß daraus, ein ums andere Mal ihrem Sex- und
Geschäftspartner auf die vor
vorfreudiger Geilheit bis auf den Boden feudelnde Zunge zu treten. Und
zwar so, dass es immer richtig weht tat.
Vorurteil 3: Schönheit muss nicht arbeiten.
Da war aus dem Gör, das langgliedrig und dürr
war wie eine Gottesanbeterin plötzlich mit gerade einmal sechzehn eine hoch
aufragende Schönheit geworden, die selbst angebetet wurde. Selbst der freche
kleine Bruder, der sich immer über ihre Länge lustig gemacht hatte, verstummte.
Gerade hatte er noch gemeint, wenn Traute jemals Männer abbekommen wolle, müsse
sie wohl zwei aufeinander stellen, da rannten die Kerle ihnen bereits die neue
Bude in Porz ein. Aber war Traute darüber glücklich?
Ein Freund vom Lenz, der es in den wenigen Jahren zum Besitzer mehrerer
großer Friseur-Salons gebracht hatte, spannte die überragende Traute gratis als
Modell und Repräsentantin seiner neuesten Haarkreationen ein. Was Traute noch
mehr zu einem Hingucker machte. Das wiederum blieb nicht ohne Folgen auf ihr
soziales Umfeld. War sie mit Freundinnen zum Tanztee, stürzten sich die Jungs
allein auf sie, was den anderen Mädchen unbeabsichtigt das Gefühl gab,
Mauerblümchen zu sein.
Was tat Traute in ihrer angeborenen sozialen Fürsorge? Sie wurde den
Galanen gegenüber unwirsch und abweisend, damit ihre Freundinnen besser zum
Zuge kamen. Sie selbst blieb von da an stoisch hocken, was wiederum als
unnahbare Arroganz ausgelegt wurde.
Intellektuell unterfordert, zu Höherem befähigt, aber nicht erkannt und
unnahbar schön glitt die Göttin in eine Isoliertheit ab, in der sie aber nach
indischem Vorbild sechs Arme benötigt hätte, um die flinken zielstrebigen Hände
von Schwager Lorenz Meester abzuwehren. Der Lenz hatte doch so gar nichts
frühlingshaftes, war er doch erkennbar nun schon ein Mann in den Fünfzigern.
Kaum aus der Handelsschule nahm Traute also eine Lehrstelle an, die sie,
so weit es ging, aus der Reichweite dieser Fänge brachte. In Königsdorf begann
sie eine Lehre als kaufmännische Gehilfin für Im- und Export. Paradoxer Weise
bekam sie die Stelle, weil sie im Büro vom Lenz so gut aufgepasst hatte,
dass sie gleich als vollwertige Kraft
eingesetzt werden konnte. Es brauchte ihr ja kaum jemand noch etwas
beizubringen …
Man
stelle sich die ersten Begegnungen zwischen Bernhard und Traute am besten
folgender Maßen vor:
Aus dem Meer der allmorgendlich zur Arbeit schwappenden Köpfe auf den
Bahnsteigen des Königsdorfer Bahnhofs ragten zwei Leuchttürme, die ihre
Strahlen über allem kreisen ließen: Stadteinwärts Bernhard mit seinen Attitüden
eines englischen Landjunkers und langem, sonnegebleichten Blondhaar sowie dem
gepflegten Oberlippenbart, der sein stets gebräuntes Gesicht markant kontrastierte.
Und auf dem gegenüberliegenden Perron ankommend schwebte die der Garbo so
ähnliche Gottheit mit wöchentlich wechselnden, tollkühnen Frisuren, wie man sie
nur von den Titelbildern der FÜR SIE oder der Constanze kannte.
Am Anfang streiften sich die Strahlen lediglich oder kreuzten sich
bestenfalls. Aber eines Morgens verhakten sie sich kurz, und von da an warteten
alle anderen vergebens, noch einmal von beider Glanz beschienen zu werden.
Erst zehn Sekunden, dann zwanzig und
schließlich eine volle Minute ertranken sie nun täglich - immer noch durch die
Bahngleise getrennt - gegenseitig in ihren Augen. Dann wechselte Bernhard
endlich mutig auf ihre Seite und
erwartete sie. Bewusst eine Verspätung in Kauf nehmend, artig unter Wahrung
aller Anstandsregeln, sie im Gespräch auch formell siezend, begleitete er
Traute erstmals zu ihrer Firma.
Obwohl der direkte Augenkontakt die Initialzündung war, ist das keine
Liebe auf den ersten Blick gewesen, die da zwischen Traute und Bernhard ihren
Lauf nahm. Sie gingen ins Kino, wo sie zunächst einmal zögerlich Händchen
hielten, aber sich noch nicht zu küssen wagten. Sie verabredeten sich am
Samstagabend zwar zum Tanzen und gingen beim Slow auch auf Tuchfühlung,
aber den ersten Kuss tauschten sie erst nach acht Wochen bei einem
Sonntagsspaziergang am Rheinufer. Es war der Kuss seines Lebens, behauptete der
71jährige Bernhard und dabei schwammen seine Augen immer in etwas mehr
Flüssigkeit als sonst.
An diesem Sonntag war Traute schon 22 und noch Jungfrau. Bernhard war 25
und verdrängte schlagartig die nun scheinbar schon so weit zurück liegenden
Exzesse mit seiner lesbischen DDR-Braut. Er wartete noch zwei Monate, bis er
Traute vorsichtig fragte, ob sie nach dem Tanzen noch zu ihm in sein
Appartement im „Bullenkloster“ käme…
Diese Behutsamkeit, manchmal sogar Langsamkeit, bei den gemeinsamen
Schritten, sollte ihr weiteres Leben prägen. Wieder einmal war Bernhard in
einem Zeittunnel autarker Wahrnehmungen unterwegs, und dass seine Partnerin
dies akzeptierte, gab ihm eine veränderte, aber noch stärkere Selbstsicherheit.
Traute fand Bernhard auch in seinen Maurerklamotten äußerst attraktiv,
aber den Kick versetzte ihr dieser Mann immer aufs Neue, wenn er in seinen
Maßanzügen vor ihr stand. Lag es nun an Bernhards DDR-Vergangenheit, die ihn
sichtlich reifer erscheinen ließ, oder auch an Trautes reservierter Schönheit,
dass die zwei die stürmischen 1960er in einem Kokon erlebten. Klar hörten sie
Beatles und Rolling Stones und manchmal twisteten sie sich auch die Seele aus
dem Leibe, aber sie waren doch eher die Cliff-Richard-oder Paul-Anka-Typen. Zu ihrer Lebenshymne wurde jedoch Percy Sledges
“When a Man Loves a Woman“. Sie wurde natürlich auch bei ihrer Hochzeit 1966 gespielt.
Was hatte die beiden abgehalten, schon früher zu heiraten? Sie waren
doch einander so sicher. - Die Welt war
es nicht. Da kam die Kuba-Krise. Dann wurde Kennedy ermordet. Aber gleichzeitig
erhob sich Köln immer noch nachhaltig aus seinen Trümmern. Banken,
Versicherungen und Spekulanten überboten sich im Hochziehen gigantischer
Verwaltungsgebäude. - Mittendrin der Lenz als eine Art Neunauge im Kölschen
Klüngel, der sich überall parasitär festsaugte und den Versuch nicht aufgab,
den „Beschäler von Traute“ (so nannte er Bernhard verächtlich vor Dritten) auf
die dunkle Seite hinüber zu ziehen. Aber da Bernhard nur wenig von seiner
Vergangenheit preisgegeben hatte, ahnte der Lenz nicht, dass Bernhard der
Umgang mit Dunkelmännern durchaus vertraut war. Zudem konnte es sich der permanent
sich selbst überhöhende Meester wohl nicht vorstellen, dass er die „Fünfte
Kolonne“ in den eigenen Reihen hatte. Mag sein, dass Gerda Janke zunächst aus
einer Art Eifersucht die Annäherung des Lenz an Traute immer wieder geschickt
sabotierte. Aber da die rasant verstreichenden Jahre ihre Kinderlosigkeit
besiegelten, wuchsen ihr Bernhard und Traute mehr und mehr ans Herz. - Wobei
ihr langer Blick auf Bernhards männliche Attribute recht häufig nicht unbedingt
etwas mit mütterlicher Zuneigung zu tun hatte.
In der Praxis sah das so aus: Wann immer der Lenz etwas ausgeheckt
hatte, um Bernhards Geradlinigkeit zu erschüttern oder ihn in Folge nicht ganz
koscherer Vorgehensweisen von sich abhängig zu machen, steckte Gerda das der
Traute.
Der Lenz musste lernen, dass es, jenseits seiner Ränkespiele, eine
unerschütterliche Aufrichtigkeit gab, gegen die ihm kein Mittel gegeben war.
Das gefiel ihm nicht. Und es gefiel ihm noch weniger, dass dieser, sein neuer
Schwager, immer nur einen kontrollierten Schritt davon entfernt war, seinem
durchaus vorhandenen Temperament wie einen Vulkan ausbrechen zu lassen.
Im Frühjahr 1967 überraschte er im Baubüro zu einer Großbaustelle am
Kaiser-Wilhelm-Ring seinen Schwager dabei, wie er gegenüber Gerda Janke in
einem Streit handgreiflich wurde. Er ahnte doch nicht, dass das einmal „part of
the Game“ war. Gewalt gegen Frauen aktivierte bei Bernhard ganz kurze
Reizleitungen. Dass hatte nichts damit zu tun, dass Gerda dem jungen Paar eine
echte Vertraute geworden war. Jede andere Frau in dieser Lage hätte die gleiche
ungebremste Reaktion bei Bernhard ausgelöst:
Er zerrte den Lenz an seinen Jackett-Aufschlägen aus der Baracke an den
Rand der Baugrube für die dreistöckige Tiefgarage. Eine falsche Bewegung, und
der Lenz wär fünfzehn Meter tief gefallen:
„Wie wär’s, wenn du dir mal einen gleich
starken Gegner suchtest? Ich schau mir das ja schon eine ganze Weile an und ich
weiß auch, dass du mich nur für einen rüber gemachten DDR-Trottel hältst. Aber
sollte ich noch einmal erleben – vor allem bei Gerda und Traute – dass du eine
unserer Damen nur berührst, dann hast du keinen Schwager mehr, der dich gerade
noch vor einem Fehltritt bewahrt. Dann hast du einen Unfall!“
Eine Stunde später lag Bernhards Kündigung auf dem Tisch, und irgendwie
war von da an auch klar, dass beide wohl keine echten Freunde mehr würden.
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