Castellinaria Kapitel 2
Als Bernhards Vater in den Krieg zog,
verspürte der Sechsjährige keine Trauer des Abschieds, sondern Erleichterung.
Erst als die Feldjäger keine neun Monate später die Meldung überbrachten, dass
sein Vater niemals mehr heimkommen würde, erinnerte er sich an diesen Moment
und sein grenzenlos egoistisches Gefühl des befreit Seins.
Seit er gerade laufen konnte, war Bernhard ein wildes raumgreifendes
Kind gewesen. Über den enormen Bedarf an Raum hatte sich ein Gefühl für Zeit
bei dem Jungen zunächst nicht entwickeln können. Selbst wenn er die Gänse dabei
hatte, ging es Kilometer weit an den Entwässerungsgräben entlang und über
Moorwiesen schier unendlicher Dimensionen, die den Rückweg vergessen ließen.
Doch für jede Unpünktlichkeit, unproduktive Tagträumerei oder Verspieltheit
setzte es vom Vater unbarmherzige Prügel - mal mit der bloßen Hand und bei
schwereren Verfehlungen auch mit dem steifen Bauerngürtel.
Die Kleiners waren Kleinbauern und stramme, bekennende Sozis in einem
Umfeld, das noch dem streng hierarchischen deutschen Landjunkertum nachhing.
Die zwei verwitweten Großväter, Vater und Mutter sowie er und sein zwei Jahre
jüngerer Bruder samt der bereits im Krieg geborenen Schwester waren zurechtgekommen
mit dem, was die kleine Landwirtschaft abwarf. Aber was würde jetzt werden, da
der Vater - wie es hieß - auf dem "Feld der Ehre" geblieben war?
Bernhard, der erst in die Schule kommen sollte, begriff den Unterschied
zwischen Ähre und Ehre akustisch nicht. Das war in den mecklenburgischen oder
pommerschen Idiomen dort im Grenzland zwischen Brandenburg und Pommern kaum zu
differenzieren. Er stellte sich vor, der tote Vater läge irgendwo in einem
dieser für einen Knaben unüberschaubaren Kornfelder seiner Heimat. Seine Leiche
würde vielleicht erst im Herbst bei der Mahd gefunden... Aber aus einem noch
größeren Missverständnis zwischen ihm und dem Vater war die nicht zu
schulternde Bürde geworden, die nun auf dem Knaben lastete:
Als hätte Carl Kleiner im traurig an seinem hageren Körper schlotternden
Feldgrau geahnt, dass es ein Abschied für immer von seiner Familie sein würde,
hatte er das "Schiffchen" des einfachen Gefreiten vom Kopf gezogen
und sich so vor seinen Ältesten hingekniet, dass er ihm mit ernsthaften Blick
direkt und unausweichlich in die Augen sehen konnte:
"Wenn ich nicht zurückkomme, bist du der Mann im Haus! Die Nazis
werden den Krieg verlieren. Du bist mir dafür verantwortlich, dass den Kleinen
nichts passiert. Du weichst Ihnen nicht von der Seite. Und Schluss mit dem Zeit
verbummeln!"
Dann hatte er ihm seine silberne Taschenuhr in die kleine Hand gelegt,
ihn fest umarmt und einen Kuss auf die Stirn gedrückt. Bernhard konnte sich an
eine ähnlich zärtliche Geste in seiner gesamten bisherigen Kindheit nicht
erinnern.
Weil aber diese einzigartige Wärme nun von der Erinnerung ein ums andere
Mal aufs Neue in seiner Seele entfacht wurde, war die daran geknüpfte
Aufgabenstellung zugleich auch stete Mahnung an sein Gewissen. Die einzige
väterliche Liebesbekundung geriet somit zur Bürgschaft.
Zum Raum hatte Bernhard also jetzt diese kostbare Zeit, die tief
verborgen in seiner Hosentasche bei jedem Schritt, den er fortan tat, an die
Innenseite seines rechten Oberschenkels schlug. Nicht, dass die väterliche Uhr
seine Räume kleiner gemacht hätte, aber sie gab Hin- und Rückweg eine Dimension
von garantierter Pünktlichkeit. Sie gab allen - auch den noch so kleinen
täglichen Tätigkeiten - eine von ihm selbst immer knapper bemessene Frist: zehn
Minuten Holz rein schleppen, drei Minuten Herd anfeuern, zwei Stunden Gänse
hüten, drei Stunden mit den Geschwistern spielen und sie beaufsichtigen,
fünfzehn Minuten Wäschekorb tragen und Mutter die Stücke zum Trocknen anreichen
- und so weiter, und so weiter.
Als er im Frühjahr 1944 in die einklassige Dorfschule kam, hatte das
"Meistern" der Zeit ihn bereits zu einer Diszipliniertheit reifen
lassen, die sogar seiner Lehrerin auffiel: Weil ihm die Zeit nie zu lang wurde,
und er im Rechnen bereits mühelos mit den Zweit- und Drittklässler-Jahrgängen
mithielt.
Weniger toll fanden es die beiden kleineren Geschwister. Im Windschatten
von Bernhards Lausbübereien hatten sie auf dem kleinen Hof bislang ein
Kinderdasein in fast absoluter Freiheit geführt. Nun erlebten sie einen Bruder,
der in den Stunden, in denen ihm die kleinen Kleiners anvertraut waren, einen
Gehorsam verlangte und ihnen eine Obhut auferlegte, die noch nicht einmal die
Erwachsenen verstanden. Aber er hatte ihnen auch nie von der Verantwortung
erzählt, die ihm der Vater beim Abschied aufgebürdet hatte.
So machte ihm auch der "Straßenkampf" mit den größeren Kindern
der Großbauern immer deutlicher, dass er nun zwar mit Raum und Zeit gut
zurechtkam. Es fehlte ihm jedoch noch die Kraft als dritte Dimension. Ja, er
war zäh, schlaksig und groß für sein Alter, aber dünn wie eine Bohnenstange. Seine
Ungeduld konnte gegen diese naturbedingten Vorgaben des Wachstums nun einmal
nichts ausrichten. Das wurmte ihn sehr. Also mutete er sich zur seelischen auch
manch physische Last zu, die ihn täglich erneut an den Rand der Erschöpfung
führte...
Die Bürde des Vaters, die Stimme des Vaters in seinem Bewusstsein, da
ist er sich heute sicher, hatte Bernhard auf geheime Weise vorbereitet. In
seinen unauslöschlichen Erinnerungen wurde ihm später auch deutlich, dass er in
seinem ersten Schuljahr zwischen zwei massiven Propaganda-Blöcken seiner
Naivität beraubt wurde. Während die Lehrerin, ein kurvenreiches Klischee von
einer BDM-Blondine, im Herbst 1944 immer noch nicht müde wurde, die sich in die
Kinderherzen einnistenden Ängste vor der nahenden Gewalt mit Erzählungen von
der Einzigartigkeit des Führers und der alles entscheidenden Wunderwaffe zu
zerstreuen, wurde daheim spekuliert. Der Vater der Mutter - im Herzen immer
noch KPD-Mitglied - und der Vater des Vaters - ein Anhänger der
Sozialdemokratie - stritten abends mit gedämpften Stimmen am Herdfeuer. Sie
diskutierten - mit gewissem tödlichem Risiko - ob wohl die unaufhaltsam
heranrückenden Russen den Bauern und Arbeitern im Nachkriegsdeutschland endlich
die so lang erhofften bessere Leben brächten.
Vielleicht war die Ergebnislosigkeit dessen der Grund gewesen, weshalb
sie immer noch am spärlichen Feuer saßen, als die anderen Nachbarn sich schon
den ersten von der Oder kommenden Flüchtlingen
und ihren Trecks angeschlossen hatten.
Nicht, dass Hitlers historische Fehleinschätzung über Schlagkraft und Taktik der Roten Armee irgendetwas
am Kollektivschicksal der Vertriebenen hätte verschlimmern können. Aber hier
ging es um individuelle Tragödien. Sechs Schicksale von etwa fünf Millionen
Menschen, die in jenen Tagen auf der Flucht waren. Wenn es schon für die
Nazi-Militärstrategen nicht vorstellbar gewesen war, wie sollten dann
Zivilisten mit diesem enormen Tempo gerechnet haben.
Ab Beginn der vierten Januarwoche 1945 rannte die Rote Armee -
ukrainische Verbände im Süden und weißrussische im Norden mit bis zu 80
Kilometern täglich bei ihrem Vormarsch auf Berlin auch über Teile Vorpommerns
hinweg. Und das bei Temperaturen von bis zu 25 Grad minus. Die Kleiners, die
auf ein Gerücht gehört hatten, in Greifswald und Stralsund würden
Flüchtlingsschiffe warten, kamen nur noch bis zur Peene. Dann waren sie quasi
von den Russen oben und unten überholt worden. Die eigenen Wehrmachtsverbände
jagten die Trecks bei ihrem rücksichtslos angeordneten Rückzug auch noch in die
Straßengräben.
Der Film der Erinnerung im Gedächtnis des bald achtjährigen Bernhard
Kleiner über diese Tage der Flucht - entwickelt, geschnitten und auf Lebenszeit
gespeichert im Hinterkopf - hat so gar nichts damit zu tun, was dem
Siebzigjährigen zu diesem Thema jüngst in Film und Fernsehen vorgeführt wurde.
Die dramatische Ästhetik des Kamerablicks von außen über weite Schneefelder und
grafisch angeordnete Alleen mit endlosen Menschen- und Wagenkolonnen bot sich
ja den Flüchtlingen in der öden Kolonnenmarschiererei nicht. Selbst auf den
sonst so heimeligen Nebenstraßen nicht, die die ortskundigen Kleiners gewählt
hatten, um dem Rückzug der deutschen Landser und dem weiteren Anblick von in
den Frostböden nicht zu beerdigenden Erfrierungs- und Erschöpfungstoten zu
entgehen.
Die Bilder, die im Alter auf einmal wieder häufiger in den Träumen
erschienen, waren von einer unbarmherzigen Tiefenschärfe, die auch durch die
spätere Kenntnis über historische Gesamtzusammenhänge nicht beeinflusst wurde.
Es sind Bilder in der richtigen Abfolge, aber isoliert und - trotz Bernhards
unkindlicher Disziplin unter diesem speziellen Aspekt - ohne Bezug zu Raum und
Zeit. War dieser viel zu späte und aussichtslose Fluchtversuch nur eine Frage
von ein paar Tagen oder gar von Wochen gewesen? Bernhard konnte es, da lange
verdrängt, nicht mehr rekonstruieren und er kann auch niemanden mehr fragen,
weil alle anderen Erwachsenen aus der damaligen Fluchtgemeinschaft nicht mehr
lebten. Es blieben quasi Momentaufnahmen oder Filmschnipsel:
Der Aufbruch war für die Kleiner-Knaben zu allererst ein Abenteuer. Er
war von der Mutter betrieben worden, nachdem Flüchtlinge in den Dörfern, durch
die sie kamen, immer schauriger über Massenvergewaltigungen von Frauen und
Kindern und Vertreibungen durch Rotarmisten berichteten.
Friede, die Belgier-Stute, war ihnen von den letzten verzweifelten
Requirierungen geblieben, weil sie trächtig war. Sie wurde vor einen
Kastenwagen gespannt, der dem russischen Panje-Wagen nicht unähnlich war. Die
Opas hatten zwei Heuraufen in Zeltform darauf festgezurrt und die Plane einer
Rübenmiete darüber gespannt. Das sah komisch aus, - wie ein rollendes
Indianer-Zelt - hielt aber die jeweiligen Insassen mit Stroh und Decken
einigermaßen warm, weil so der bisweilen schneidende Wind halbwegs abgehalten
wurde. Die Kleiners hatten außer dem Hausrat und ein paar persönlichen Sachen
nichts von Wert. So wurden eher Gläser mit Rübensirup, Gänseschmalz und
gefrorene Butter als Wegzehr unter das Stroh gepackt. Auch die auf Vorrat im
Ofenrohr gebackenen Brotlaibe waren gefroren. So hielten sie sich wenigstens und verschimmelten nicht.
Die zwei Opas sahen am ehesten so aus, als würden sie schnell schlapp
machen. Deshalb war klar, dass sie zur Stammbesatzung dieser merkwürdigen,
rollenden Arche gehören würden - ebenso wie der kleine Bruder und die Schwester
sowie ein betagter, auf einem Auge erblindeter Hahn und eine noch recht rüstige
Legehenne. Ein Ganter und eine Gans konnten ebenfalls von diversen Zugriffen in
Sicherheit gebracht und in Weidenkäfigen verladen werden. Blieb also nur noch
Platz für einen weiteren Passagier. Seine Mutter und Bernhard wollten sich
darin abwechseln, zu Fuß gehend, Friede am Halfter zu führen. Vorne ungeschützt
dem Wind ausgesetzt auf der Deichsel zu sitzen, daran war bei diesen
Temperaturen überhaupt nicht zu denken gewesen.
Das Abenteuer hielt die erste Zeit an. Nun erwies es sich als
Bestimmung, dass Bernhard nie ein Kind war, das vor längeren Märschen
zurückschreckte. Und so kamen sie trotz des trächtigen Zugpferdes recht gut
voran, indem sie sich halbstündig abwechselten. Mutter Kleiner hatte in weiser
Voraussicht für ihren Sohn ein Paar ihrer Arbeitsstiefel mit Filzgaloschen und
Stroh innen gegen die Kälte präpariert und das alte Außenleder mit Gänsefett
getränkt. Harte Winter waren in diesem flachen, küstennahen Land ja keine
Seltenheit und man wusste mit ihnen umzugehen. Aber die gnadenlos abstrafende
höhere Macht sorgte nun für Temperaturen, die das bislang Erlebte vor allem bei
Einbruch der Dunkelheit dramatisch unterbot.
Das Abenteuer war in dem Moment zu Ende, da der kleinersche Wagen eines
Abends in einen dieser Treck-Sammelpunkte rollte, die sich an den großen
Kreuzungen der Landstraßen quasi von selbst formierten. Da sie wegen des
geringeren Tempos stets spät dran waren, blieb meist nur ein Platz fern der
schützenden Häuser und nahe der wohlweißlich außerhalb errichteten Latrinen...
Wie viele Menschen waren da schon durchgekommen? An die dreißig Grad
minus nachts sorgten dafür, dass das, was aus den Körpern ausgeschieden wurde,
sofort gefror. In den Löchern der Donnerbalken bildeten sich so herausragende
Kot- und Urinpyramiden, die die zu spät Gekommenen bestraften. Der bestialische
Gestank und die evidente Gefahr, sich bei dieser mangelnden Hygiene
anzustecken, wurden aber in Kauf genommen. Sich irgendwo im Freien bei der
Verrichtung der Notdurft Erfrierungen zu holen, war weit aus gefährlicher.
Die Nächte unter diesen Bedingungen mit ihrer beengten körperlichen Nähe
boten zwar einerseits auf der Ladefläche des Wagens verhältnismäßig mehr Wärme,
aber sie zehrte auch an den Nerven. Die Opas drehten durch. Anfangs waren es
noch politisch motivierte Zänkereien, aber dann geriet das ganze zwischen den beiden aus den Fugen. Der etwas
jüngere KPD-Opa bekam aus unersichtlichem Grund vom SPD-Opa in immer
schnellerer Abfolge Kopfnüsse auf immer die gleiche Stelle. Begleitet wurde
diese Aktion von zusammenhanglosem Gebrabbel, so dass die kleinen Kleiners
zunehmend Angst bekamen und Bernhard aber auch seine Mutter befürchteten, beide
verlören komplett den Verstand. Zumal sich nach einem Tag - dort wo die
Kopfnüsse unterhalb des verbliebenen Haaransatzes landeten - eine heftige Beule
bildete, die sich wenig später blutunterlaufen auch noch entzündete und
aufbrach.
Aber da waren sie schon an der Peene. Bei Neukalen war aus der Richtung
Kummerower See im Süden und vom Stettiner Haff im Nordosten - wie das Grollen
und Wetterleuchten eines Gewitters - der
Krieg zu ahnen, ohne dass die Kleiners je direkt mit ihm in Berührung kommen
sollten. Die schlechten Nachrichten aus dem eingekesselten Ostpreußen, aus
Königsberg und Danzig überschlugen sich. Aber am erschütternsten waren die
Gerüchte über das Schicksal eines Flüchtlingsschiffes aus Gotenhafen. Hatten ja
auch sie die Illusion gehabt, per Schiff in den vermeintlich sichereren Westen
zu gelangen.
Der Weg nach Greifswald schien ohnehin bereits blockiert, und der eine
Opa hatte immer noch nichts Besseres zu tun, als auf den anderen Opa
einzuprügeln. Damit aber retteten sie ihrer Familie sogar möglicherweise
indirekt das Leben. Denn viele, die dann weiter zogen, erlebten das Ende des Winters
nicht. Die junge Witwe jedoch war vor
allem am Ende ihrer psychischen Kraft und entschied resigniert:
"Sterben können wir auch zu Hause!"
Am nächsten Morgen kehrten sie also um, und die Sonne sandte ihnen ein
Zeichen. Sie schien ihnen ins Gesicht und sorgte dafür, dass die Minus-
Temperaturen ein wenig erträglicher wurden. Es war wie das Schweben in einer
bunt schillernden Seifenblase. Unwirklich zogen sie gegen den Flüchtlingsstrom
auf Abwegen durch eine scheinbar heile Welt.
Deutschland ein Wintermärchen in all diesem Chaos? Mit jedem Kilometer,
den die Kleiners sich der Heimat näherten, normalisierte sich das Verhalten der
Opas, die zeitweilig sogar die Führung übernahmen, damit ihnen auf
Schleichwegen niemand entgegenkam, der unangenehme Fragen stellte oder gar noch
Schlimmeres tat. Es bleibt auf immer ein Rätsel wie sie unbehelligt nach Hause
kamen. Die kleinen Höfe in ihrem Zeilendorf Pangerow waren ausgestorben aber
offenbar unversehrt. Das eigene windschiefe Walmdachhaus, Fachwerk mit im
Schneelicht leuchtend roten Backsteinen, empfing sie, als seien sie nur kurz
fort gewesen. Ein paar Handgriffe nur, dann war das Leben fast wie vorher. Was
für ein Luxus war nun dessen einfache Behaglichkeit.
- Doch die war trügerisch. Denn eine unsichtbare Reisebegleiterin hatten
sie mitgebracht: Die Diphtherie. Das Hannele erkrankte als erste, dann
erwischte es den kleinen Robert und schließlich beide Opas. Nur Mutter Kleiner
und Bernhard, die sich eigentlich mit den eingefangenen Bakterien am längsten
in der eisigen Luft aufgehalten hatten, blieben verschont und unternahmen
verzweifelte Versuche, die in dieser Mangelversorgung tödliche Krankheit mit
primitivsten Mitteln zu bekämpfen. Natürlich gab es weit und breit keinen Arzt
mehr und so etwas wie frischen Zitronensaft erst recht nicht. Da die
unverkennbare Rachenbräune jedoch schon in den vergangenen Kriegsjahren hie und
da grassiert hatte, verfügte Martha Kleiner über Grundkenntnisse, sie zu
erkennen und was mit den Patienten zu
geschehen hatte, aber auch welche Schutzmaßnahmen die nicht Befallenen
ergreifen sollten. Martha und Bernhard zogen in den bis auf Friede leeren
Stall. Jeder Patient wurde in einem separaten Zimmer unter Quarantäne gestellt,
die Küche zur Desinfektionsstation mit permanent kochenden Wasserkesseln.
Noch immer waren die Russen nicht gekommen. Der unermüdliche Bernhard
klapperte die ganze Umgebung heldenhaft nach Hilfe ab. Aber wenn er dann schon
mal jemanden überraschend antraf, wurde er meist feindselig abgewiesen,
besonders dann, wenn er vom Diphtherie-Verdacht bei seinen Geschwistern und
Großvätern berichtete. Die verheerende Ansteckungsgefahr war in diesem Teil
Deutschlands in guter Erinnerung. Doch Bernhard gab nicht auf. Was er mit der Gewissensstimme seines Vaters im Kopf
leistete, war für ein Kind seines Alters übermenschlich. Aber auch seine
Eingebungen waren es.
Weil Kuhmilch nicht vorhanden war, probierte er, ob die hochträchtige
Friede bereits laktierte. Und siehe da, für eine Glasflasche täglich reichte
es. Seine Geschwister kamen aber nicht nur in deren heilenden Genuss. Bei
seinen Wanderungen mit den Gänsen hatte er oft eine mysteriöse Mecklenburgerin besucht, die in
einer Kate an einem kleinen Teich hauste und ihren Lebensunterhalt mit dem
Sammeln von Pilzen, Kräutern und allerlei Beeren bestritt. Sie war gelegentlich
auch mal Hebamme, aber in den vergangenen Jahren häufiger das Gegenteil, wenn
sich die Kriegsbräute zu allein gelassen
gefühlt und nicht aufgepasst hatten...
Auf Gutglück stapfte er einige eisige Kilometer über die entlegenen
Felder und nutzte des Öfteren den Schutz der vom Wind blank geputzten,
zugefrorenen Entwässerungsgräben. Was wären das für den dem Knabenalter so jäh
entrissenen Bernhard vor kurzer Zeit noch für tolle Glitschen gewesen. Doch
jetzt beschleunigten sie nur sein ernsthaft zielgerichtetes Fortkommen.
Nach etwa einer Stunde sah er das Hexenhäuschen unter Birken stehen.
Doch schon von Ferne bot die Kate einen verlassenen Eindruck. Unberührte
Schneeflächen rundherum machten deutlich: hier war seit dem Schneefall niemand
mehr gewesen. Bernhard wollte sich gerade umdrehen, als er sah, wie sich aus
dem Ofenrohr, das schwarz und schief aus den Holzschindeln ragte, leichter
weißer Rauch kräuselte.
Er hastete ohne nachzudenken direkt über das verharschte Feld auf die
Hütte zu. Ein ums andere Mal stolperte er und fiel hin. Die scharfen Kristalle
schnitten in seine löchrigen Fäustlinge und er machte dabei auch einen
schrecklichen Lärm. Aber er war ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht argwöhnisch.
"Muhme Alice. Muhme Alice!" Er trommelte gegen die verrammelte
Tür an der rückwärtigen Wand der Behausung. Es verging einige Zeit, dann hörte
er wie innen der schwere Riegel bewegt wurde.
"Bernhardchen? Bernhardchen!... Wat biste jroß jeworden. Wat
machste denn hier so janz alleine?" Dabei spähte sie misstrauisch in alle
Richtungen, als vermute sie ganz das Gegenteil.
Es sprudelte nur so aus ihm heraus. Von der Flucht, von der Rückkehr,
von der Diphtherie. Alice zog ihn darauf hin heftiger in die Hütte, als es
notwendig gewesen wäre. Drinnen in dem einzigen Raum war es wärmer, als es der
spärliche Rauch hätte vermuten lassen. Durch die frische, kristallene Luft, die
er über eine Stunde eingeatmet hatte, war ihm der strenge, weibliche
Körpergeruch heftiger und anders bewusst als durch die in jüngster Zeit erzwungene
Tuchfühlung zu seiner Mutter. Muhme Alice hatte nur ein grobleinenes Nachthemd
an und war barfuss.
Ohne dass er die aufkommenden Erinnerungen schon als erste sexuelle
Regungen zuordnen konnte, erinnerte er sich in diesem eher unpassenden Augenblick
daran, wie er die Muhme im vergangenen Herbst heimlich beim Baden in ihrem
Weiher beobachtet hatte. Die langen schwarzen, von weißen Strähnen durchzogenen
Haare, die sie normalerweise als strengen Dutt trug, hatten ihr tropfnass bis
ans Hinterteil gereicht, dass ihm fast so wuchtig erschienen war, wie das der
trächtigen Friede. Sie hatte sich zum Trocknen auf dem kleinen Steg mehrmals um
die ganze Körperachse gedreht, und Bernhard hatte voll innerer Unruhe aus
seinem Versteck unter den Birken die enormen Brüste und den bedrohlichen
Haarbusch zwischen ihren Schenkeln betrachtet. Wäre Bernhard ein paar Jährchen
älter gewesen, hätte er die Muhme Alice nicht als alt, sondern vermutlich als
attraktive, vollreife Schönheit wahrgenommen.
Oben auf der Schlafempore über dem Kanonenofen, knarzte die Bettstatt,
aber Bernhard tat so, als höre er das nicht. Die Muhme war nicht allein, und
Bernhard registrierte etwas im Unterbewusstsein, das ihm erst viel später
wieder in Erinnerung kommen sollte: An den Trockenstangen hingen Mantel und
Hose in Feldgrau und auf dem Boden standen mit Heu ausgestopfte
"Knobelbecher" wie sie auch der Vater bei seinem Abschied getragen
hatte.
Ob die Muhme merkte, dass Bernhard etwas gemerkt hatte? Eher nicht. Denn
sie ließ sich Zeit mit dem Überlegen, wie sie dem Kleinen wohl helfen könne.
Sie stellte ihm einen Hagebutten-Tee auf die Bank am Ofen und nahm heimlich
schmunzelnd zur Kenntnis, dass der Blick des Kleinen bisweilen etwas länger an
ihrer Oberweite hängen blieb als in dieser Altersklasse üblich.
Sie suchte diverse Dinge aus ihren duftenden Truhen: ein Beutel
getrocknete Kamillen mit Hagebutten, eine Flasche Sanddorn-Extrakt und
Eibenbeeren. Eibenbeeren? Bernhard wusste, dass Friede immer von den Eibenhecken
ferngehalten werden sollte, weil Eiben absolut tödlich für Pferde seien. - Das
sagte er der Muhme.
"Dummchen!. Dat is dat Fruchtfleisch der Beeren! Dat ist voller
Zauberkraft. Sag deiner Mutter, sie soll einen Esslöffel Beeren mit einem
Esslöffel heißem Wasser zerdrücken und den Kleinen in den Rachen pinseln. Die
Opas sollen damit jurgeln."
Als er alles im Brotbeutel verstaut hatte, wollte er gehen, aber die
Muhme hielt ihn noch einmal zurück:
"Lass mich deine Hände sehn Bernhardchen!"
Der Knabe streckte ihr unbedarft die Hände entgegen. Sie drehte die
Linke mit der Handfläche nach oben und fuhr die Linien nach. Dann schloss sie
die Augen:
"Du wirst dat überleben Bernhardchen! Und du wirst ein Held wider
Willen. Jroße, blonde Engel werden dich begleiten oder sojar beschützen. Und du
wirst’n Schloss im Himmel haben und nie mehr frieren müssen, wenn du alt
bist."
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