Castellinaria Kapitel 4
Es ist müßig, rechten zu wollen, wenn der
Krieg die Bestie Mensch aus den Käfigen der Zivilisation lässt. Sicher waren
die Menschen der Uckermark, die in jenen Jahren Opfer willkürlicher Gewaltakte
durch Angehörige der Roten Armee wurden, genauso unschuldig und am Krieg nicht
beteiligt, wie die ukrainischen Juden, die bis zur Kapitulation - und trotz
mangelnder Tonnage für die eigenen, ostpreußischen Flüchtlinge – von der SS über
die Ostsee zur Vernichtung verschifft worden waren. Aber Angst, Entsetzen,
Leid und Traumata sind dann ja
Privatsache. Und obwohl sich alle immer wieder geschworen hatten, dass so etwas
nie wieder passieren dürfe, geschehen die Gräueltaten bis heute, und ihre Opfer
werden immer noch alleine gelassen.
Bernhards Kindheit endete endgültig mit dem
Erscheinen der 'schwarzen Frau'.
Die
Diphtherie-Patienten der Familie Kleiner schienen gerade auf dem Weg der
Besserung, als sie in gellend hohen Tonlagen wehklagend ins Dorf gehastet kam.
Sie war derart traumatisiert, dass sie keine Rücksicht darauf nahm, ob das, was
sie zusammenhanglos hervorstieß, für Kinderohren geeignet war oder nicht:
Sie und die Muhme Alice seien von neun
Rotarmisten zwei Tage lang vergewaltigt worden. Die Muhme habe man dann mit
Bajonetten abgestochen, weil sie sich von Anfang an mit Beißen, Kratzen und
Treten gewehrt hätte. Sie selbst habe sich zunächst immer ohnmächtig gestellt,
was die Peiniger aber gar nicht abgehalten habe. Den auf dem Rückzug
desertierten Verlobten von der Muhme hätten sie nackt aus ihrer Hütte gezerrt
und bei lebendigem Leib unters Eis des Weihers gestoßen, bis er nicht mehr
aufgetaucht sei. Dabei wären die Russen an der Kate von der Alice schon beinahe
vorbei gewesen. Alle, die sie in diesen Wochen besucht hätten, seien ja immer
von hinten durch den Birkenhain zu ihr gekommen, damit man keine Spuren sähe.
Doch die Russen hätten eben eine einzelne
Spur gesehen, die über das Feld
führte und wieder zurück. Das hätte sie neugierig gemacht. 'Wo ist anders Frau?'
hätten sie deshalb auch immer wieder gefragt und alles in der Kate der Muhme
auseinander genommen.
Bernhard sah entsetzt zu den mit Filz und Stroh gestopften Stiefeln
seiner Mutter hinunter, die er ja immer noch gegen die Kälte trug. Sind es
seine Spuren gewesen, die der Muhme zum Verhängnis geworden waren? Das Blut
stieg ihm in den Kopf und gleichzeitig hatte er das Gefühl, er sei in eine
Zwinge geraten, die von einer höheren Macht unbarmherzig zugedrückt wurde.
Nach ihrem Schreikrampf verstummte die schwarze Frau, aß und trank
nichts mehr, wanderte bis zum Frühjahr nur noch stumm herum und schüttelte
dabei mit Pausen immer wieder heftig den Kopf, als wolle sie ein lästiges
Insekt abschütteln. Dann war sie eines Tages spurlos verschwunden.
So bald es die Temperaturen zuließen, verbrachte Mutter Kleiner
"die gefährlichen" Tages- und Nachtzeiten mit den Kindern in mehrere
Decken gehüllt auf dem Friedhof, weil jemand erzählt hatte, die Russen seien so
abergläubisch, dass sie – egal wie betrunken - auf einem Friedhof niemanden
vergewaltigten.
Dieser Unsinn kostete dem Hannele das Leben. Die Diphtherie hatte wohl
ihr kleines Herz geschädigt. Fraglich, ob sie daheim im Bett überlebt hätte.
Aber gegen die zehrende Kälte der Friedhofsnächte konnte sie keine Kräfte mehr
mobilisieren. Zu der Schuld, die er möglicher Weise mit Muhme Alice auf sich
geladen hatte, musste Bernhard nun dem toten Vater sein Versagen als Beschützer
der Kleinen eingestehen. Er war ganz allein mit seiner seelischen Last, denn
die Mutter war nach Hanneles Tod in eine tiefe Dauer-Depression versunken, aus
der sie mit überdrehter Kompensation bis zu ihrem viel zu frühen Tod 1952 nur
noch gelegentlich an sonnigen Frühlings- und Sommertagen auftauchte. Den beiden
Großvätern, denen es wieder erstaunlich gut ging, kam es hingegen nur noch aufs
eigene, tägliche Überleben an.
Als die Russen dann schließlich auch nach Pangerow gerieten, waren diese
weit weniger schrecklich als befürchtet. Offenbar war der Rausch der Gewalt
schon am Abklingen, oder es stimmt, was Bernhards damalige Wahrnehmung
mutmaßte. Dass nämlich von der kämpfenden Truppe weit weniger Gefahr ausging,
als von der ideologisch motivierten, zweiten Etappe mit den Polit-Offizieren
und den Beschaffungsbrigaden. Noch nachdem die
DDR schon gegründet war und die Rotarmisten quasi in den Stand der
Befreier erhoben worden waren, hielt sich der Hass der vorpommerschen
Bevölkerung auf diese spezielle Sorte Russen besonders hartnäckig. Auch
Bernhard hatte da schon seine spezifische Erfahrung gemacht.
Weil die Frühlingsboten nach dem strengen Winter doppelt stimulierend
wahrgenommen und die Zirbeldrüsen stärker reagierten, ließ auch das
unterbewusste Sicherheitsverhalten speziell der Kinder nach. Fast war der
ländliche Tagesablauf zur Normalität zurückgekehrt, nur dass Bernhard statt
dreißig, vierzig bloß noch ein paar registrierte Gänse zum Hüten hatte.
Verträumt saß er mit dem Rücken an
einer Kopfweide unweit des Bewässerungsgrabens, der zum Dorfteich führte. In
Momenten, da er sich unbeobachtet fühlte, holte er jetzt oft die silberne
Glashütten-Savonette seines Vaters hervor, ließ den Deckel aufspringen und
sprach zum Zifferblatt, wie er es im Angesicht seines Vaters nie getan hätte:
"Wieso konnte die Muhme mir aus der Hand, meine Zukunft sagen?
Wieso konnte sie aus ihren eigenen Händen nicht lesen, was ihr selbst
geschah?"
"Ich hab' doch für das Hannele alles getan. Sogar meine Ration
Sanddorn hat sie gekriegt. Bitte, bitte sei mir nicht mehr böse und lass Mammi
wieder lachen!"
Bernhard konnte nicht ahnen, dass der Deckel der Taschenuhr wie ein
Blendspiegel die Sonne direkt in die Augen eines russischen Straßenpostens
lenkte. Der fühlte sich provoziert und rannte auf den Knaben zu. Als er nah
genug heran war, schrie er:
"Uri, Uri! Davai, davai!"
Bernhard wollte aufspringen und davon rennen, aber da sah er, wie der
Posten bereits seinen Karabiner auf ihn anlegte:
"Uri, Uri! Davai, davai!", sagte der noch einmal sehr nachdrücklich
und streckte die Hand nach Bernhards Uhr.
"Das ist die Uhr von meinem Pappi!", schrie der Knabe, aber da
war sie schon in dessen Kasack
verschwunden. Bernhard war es egal, dass er die Gänse im Stich ließ. Er lief
neben dem untersetzten und krummbeinigen Kerl her, der ihm auf einmal trotz des
Gewehrs keine Angst mehr machte.
"Gib mir die Uhr zurück!"
Sie waren jetzt an dem Holzschott angelangt, das den Abfluss aus dem
Dorfteich regelte. Da steckte auch ein hölzerner Torfspaten im Modder. Ohne zu
überlegen, packte Bernhard den, riss ihn hoch und drosch mit aller Kraft, die
in seinem Knabenköper steckte, dem Russen auf den Rücken...
Die Gänse hörten auf zu schnattern, die Hunde bellten nicht mehr. Auf
einmal schien die ganze Welt verstummt. Gewalt gegen einen russischen Soldaten
- das bedeutete sofort zu vollstreckende Todesstrafe...
Bernhard blickte bestürzt auf das marode Holzteil in seinen Händen. Da
peitschten schon auf Russisch Kommandos über die Straße. Zwei Soldaten, die
ebenfalls am Ortseingang Wache schoben, packten den Knaben an den Armen und
zerrten ihn in die Mitte der Fahrspur. Alles ging so schnell und war so
unwirklich, weil es so gar nicht zur Heiterkeit des Frühlings passen wollte.
Doch noch immer war die Wut Bernhards größer als seine Angst. Die Empörung über
das Unrecht überwog die sichere Erkenntnis, dass er jetzt sterben müsse.
Der Rotarmist hob das Gewehr und zielte auf die Brust des Jungen.
Bernhard steckte in einem Wahrnehmungstunnel, sonst hätte er die Bremsen und
den Motor eines Fahrzeuges hinter ihm gehört.
"Stoi!"
Die helle, scharfe Kommando-Stimme registrierte er nur, weil der Mann,
der ihn erschießen wollte, plötzlich blass geworden, die Waffe sicherte und
ihren Lauf zu Boden senkte.
"Was ist hier los?" Ein großer blonder Offizier in Breeches
und Reitstiefeln blickte auf Bernhard herab und herrschte ihn in gutturalem
Deutsch an.
"Er hat mir die Uhr von meinem Vater weggenommen", sagte
Bernhard mit ersterbender Stimme und fing endlich an zu weinen, wie es einem
Kind seines Alters zustand.
Der große blonde Offizier hob Bernhard hoch und setzte ihn so auf seine
Unterarme, dass zwei ziemlich stattliche Brüste gegen seinen Bauch drückten:
"Wo ist dein Vater?"
"Er liegt auf dem Feld der Ehre", ahmte Bernhard den
Euphemismus der Erwachsenen nach, was seine Hilflosigkeit nur unterstrich.
"Du meinst tot. Als Soldat gefallen?"
"Ja!"
"Und das ist dein letztes Andenken?"
"Nein! Das ist wegen der Zeit. Damit ich sie nicht vergeude, weil
ich doch auf die Kleinen aufpassen muss. Und das Hannele ist ja schon tot und
die Muhme auch - obwohl ich alles versucht habe. Die Diphtherie." Es
sprudelte nur so aus Bernhard heraus, weil auf einmal erst die Todesangst
einsetzte.
"Muss ich jetzt sterben?"
Die mütterliche Fürsorge erhielt bei dem Wort Diphtherie einen spürbaren
Dämpfer, und der weibliche Offizier stellte den Knaben schnell wieder auf den
Boden.
"Nein! Das musst du wohl nicht."
Die Frau ging auf den Posten zu und stellte ihn offenbar mit knapper,
befehlsgewohnter Stimme zur Rede. Obwohl sie ihren Untergebenen ohnehin schon
überragte, schien jener noch zu schrumpfen, als er kleinlaut die Uhr
aushändigte, und von den anderen beiden davon geführt wurde.
"Besser, du spielst nicht mehr mit ihr herum!"
Und mit einem 'davai, davai!' schwang sie sich wieder in den Führerstand
des Armeelasters. Weder seinen verhinderten Henker noch seine Lebensretterin
sah Bernhard jemals wieder.
Die wenigen, noch verbleibenden Wochen eines Menschenlebens im Krieg
machten Bernhard wie viele Kinder jener Jahrgänge zu einem ernsten, jungen
Menschen. Introvertiert, wortkarg, aber von einer scharfen Aufmerksamkeit
geprägt, glitt der Bauernsohn in den Nachkriegsjahren mit wachsender
Körperkraft und zunehmender Körperlänge durch ein spezielles
Raum-Zeit-Kontinuum. Die ideologisch geschulten
Lehrkräfte des 'neuen Deutschlands', die sein striktes Verhalten als
besonderes, linientreues Bewusstsein missverstanden, betrachteten ihn als
pädagogisch wertvolles Vehikel für ihre eigene eifernde Beflissenheit. In
Wirklichkeit war es aber so, dass es Bernhard einfach keine Mühe machte, die
geforderten Standards einzuhalten. Ob im Klassenzimmer oder auf dem Sportplatz,
bei der FDJ oder bei den Ferien-Einsätzen - er war das Idealbild eines jungen
Pioniers und wurde mit Auszeichnungen überhäuft. Und was er bei all dem
tatsächlich dachte, vertraute er bis zu Pubertät über das Zifferblatt seiner
Uhr nur dem Geist des Vaters an.
Denn im selbsternannten Arbeiter- und Bauernparadies passierte es, dass
die Kleiners bei der ersten übereilten Bodenreform ihr Land zunächst zu- und
dann wieder abgesprochen bekamen. Denn nichts anderes war die zwangsweise
Eingliederung in die LPGs, die Landwirtschaftlichen
Produktions-Genossenschaften doch gewesen - als rigorose Enteignung. Irgendwann
gegen Ende der 1950er hatte er einmal im Kino-Vorprogramm einen dieser
unsäglichen Selbstlob-Propagandastreifen zu den LPGs gesehen. Da wurden der
Achtstunden-Tag und der pünktliche Feierabend für die Bauern als revolutionäre
Errungenschaft gefeiert. Aus der flackernd erhellten Dunkelheit erschall ein
einzelnes, herzhaftes Gelächter und Beifallklatschen. Das war Bernhards erste
und einzige politische Reaktion in zehn Jahren als Bürger der DDR. Hatte er
doch schon als kleines Kind gelernt und erfahren, dass die natürlichen Abläufe
den Stundenplan auf einem Hof prägten, und dass der Ertrag einzig und allein
vom Fleiß und persönlichen Einsatz des Bauern und seiner ganzen Familie abhing.
Die agronomische Planlosigkeit der sozialistischen Planwirtschaft hatten dann im Falle des Verzugs immer wieder - der
Leistungsbilanz wegen - die jungen Pioniere durch Ferienverzicht mit
freiwilligem Ernte-Einsatz ausbaden dürfen.
Aber zu diesem Zeitpunkt existierte ja die Bauernfamilie Kleiner schon
nicht mehr. Obwohl ihm alle offiziellen Stellen schon aus propagandistischem
Interesse die höhere Schule und ein Studium nahe gelegt hatten, begann Bernhard
nach dem frühen Tod der Mutter 1953 das Maurer-Handwerk zu erlernen. Er war
1950 mit der depressiven Mutter und dem weiterhin kränkelnden Bruder nach
Strausberg gezogen, wo der KPD-Opa, der inzwischen SED-Genosse geworden war,
Wohnung und Aufgabe gestellt bekommen hatte.
Der SPD-Opa hatte kurz davor die Erkenntnis nicht überlebt, dass die
Ostdeutschen von einem Faschismus in den nächsten geraten waren. Als bei einem
ländlichen Sportfest, an dem sein Enkel aussichtsreich teilnehmen sollte, vor
den Wettkämpfen riesige Plakate mit den Konterfeis von Otto Grotewohl (einem
ehemaligen SPD-Mann) und Walter Ulbricht auf den Sportplatz getragen worden
waren, hatte er sich dermaßen in Rage
und Sauerstoffmangel geredet, dass er noch auf der Tribüne einem Herzinfarkt
erlegen war.
Als Beherrscher seiner eigenen Zeit und Wahrer der privaten Räume in
einer gänzlich entprivatisierten Gesellschaft begann Bernhard in den
Folgejahren systematisch Kraft und Körper zu kultivieren. Das hatte fast schon
etwas Metaphysisches, denn die jungen Aspiranten wurden kaserniert,
drangsaliert und in einer Form ausgebeutet, wie es selbst der kapitalistische
deutsche Klassenfeind in diesem Stadium der zweigeteilten Geschichte, im
„Wirtschaftswunder“, bei Lehrlingen nicht mehr gewagt hätte. Bernhard überstand
diese ersten vierundzwanzig Monate seiner Lehre, weil er jeder einzelnen
Erfahrung an Demütigung und Kasteiung eine Bedeutung beimaß, die ans Rituelle
grenzte. Die Steine und 'die Spur der Steine' als Metapher wurden zu seiner
Bestimmung - seiner Lebenslinie.
Wenn er später nach der Wiedervereinigung den von den DDR-Bonzen so
geschmähten und 23 Jahre lang gebannten DEFA-Film von Frank Beyer mit Manfred
Krug aus dem Jahr 1963 immer und immer
wieder ansah, dann liefen dem harten Bernhard die Tränen herunter. So nah kam
die Handlung dieses Streifens seinen eigenen Erlebnissen.
Schon im dritten Jahr hatte er sich auf seine Weise einen Sonderstatus
erarbeitet. Als Lehrling bereits mehrfach für vorbildlichen Arbeitseinsatz
ausgezeichnet, wurde er nun unter den Erwachsenen schon mit 18 zum
"Arbeiter des Monats" gekürt. Die ihm in verschiedenen Brigaden und
Kombinaten vorgesetzten Poliere erkannten und förderten seine besondere Neigung
und Hinwendung zu historischem Mauerwerk. Sie verstanden eine seiner wenigen,
flapsig hingeworfenen Bemerkungen nur zu gut, auch wenn sie sich selbst nicht
trauten, dieser ideologisch zuzustimmen:
"Der Plattenbau macht die Maurer platt!"
Als sei er eine Art Reaktionsbeschleuniger gewesen, passierten
merkwürdige Dinge in den Brigaden und Kolonnen, denen sich Bernhard anschloss.
Sein konzentriertes Zupacken erhöhte schleichend das Arbeitstempo in seinem
Umfeld. Seine inneren – seit der Kindheit stetig präzisierten – Zeitvorgaben
wurden nun auf das Tagwerk eines Maurers ausgerichtet. Den Verantwortlichen in
den Kombinaten fiel das direkt erst auf, als die von Bernhards Arbeitseifer
betroffenen Genossen damit begonnen hatten, ihn auszugrenzen.
Und dann entpuppte er sich auch noch als Schlaumeier und widersprach
einem vorgesetzten Polier und KPD-Veteranen.
Es ging um einen kleinen Glockenturm an einem der historischen Gebäude
von Stralsund, der bei dem einzigen Bombenangriff im Oktober 1944 zunächst
unbemerkt in Mitleidenschaft gezogen worden war. Erst als eine parteinahe
Institution Anspruch wegen mangelnder Büroräume auf den gesamten Gebäudekomplex
angemeldet hatte, entdeckte man bei der allgemeinen Sanierung die feinen
netzartigen Risse und die dadurch bedingte Einsturzgefahr des Türmchens.
Besonders die Bedrohung durch die Tonnenschwere Glocke forderte eine radikale
Lösung, weil mit einem entsprechenden Kran durch die Enge nicht heranzukommen
war.
Denkmalschutz - noch dazu als Erinnerung an
das glorreiche kapitalistische Wirken der Hanse – war ja nicht gerade eine
Stärke der SED-Genossen. Also beschlossen sie, auf Vorschlag des Poliers eine
rasche gezielte Sprengung, von der die Bevölkerung erst hören würde, wenn es
bereits gekracht hätte.
Bernhard war ein noch nicht einmal zwanzigjähriger Geselle, als er
seinen Einwand wagte. Wieso man in einer Hafenstadt mit Werften und
Stahlverarbeitung sei, wenn man deren Wissen nicht anwendete? Bernhard konnte
unheimlich schnell und präzise zeichnen, und so entstand innerhalb von ein paar
Minuten, was ihm durch den Kopf geschossen war:
Er zeichnete dem Türmchen ein stählernes Rohr-Korsett, das zugleich
Stütze für die Schienen einer von einer Werft geliehenen Laufkatze sein sollte.
Die Laufkatze würde die Glocke in beinahe gleicher Höhe versetzt auf ein Podest
im bereits sanierten oberen Stock des Hauptgebäudes transportieren. Dort würde
sie für die Dauer der Maurerarbeiten im Inneren des Türmchen-Korsetts abgestellt.
Der Polier tippte sich, den Blick streng auf Bernhard gerichtet, mehrmals
hart an die Stirn:
„Und womit willste det allet bewejen, wenn wa noch nich ma nen Kran hia
rin bekommen.“
„Wie die Pharaonen - mit Muskelkraft und schiefen Ebenen!“
Der begleitende Architekt war nach statischen Berechnungen von Bernhards
Idee begeistert, und wenn es im real existierenden Sozialismus eine Tugend gab,
dann war es die durch Fehler der Planwirtschaft generierte
Improvisationsfähigkeit. Laufkatze, Rohre und Schienen zu beschaffen, erwies
sich dann als weitaus leichter, als das Überwinden der menschlichen Barrieren.
Die Bauarbeiter und Maurerkollegen sollten erst ohne Murren ihre Körperkräfte
einsetzen, als Bernhard den stärksten von Ihnen beim Ziehen der Laufkatze zum
Duell herausgefordert und den Zweizentner-Mann mit scheinbarer Mühelosigkeit
übertroffen hatte.
Die Arbeit erwies sich im wahrsten Sinne des Wortes als der Mühe wert,
weil sie nur eine Woche länger erforderte, als Sprengung, Abtransport des
Schutts und Schließen der Baulücke dies getan hätten. Die ganze Brigade bekam
zwei Tage Sonderurlaub. Polier und Architekt wurden eigens belobigt. Bernhard
jedoch wurde an seinem zwanzigsten Geburtstag das rote Bändchen mit dem
Silbernen Stern an die Brust geheftet, das ihn als „Held der Arbeit“
auszeichnete. Seine Jugend und die im Verhältnis dazu besonders hoch erscheinende Prämie von 10 000 Mark waren natürlich Anlass
die Propaganda-Trommel kräftig zu rühren und jede Menge Neider auf den Plan zu
rufen.
Fortan galt er natürlich als Muster-Genosse und Streber, was ihn noch
weiter isolierte. Der staatlich verordneten Gleichmacherei waren Neid und
Missgunst keinesfalls erlegen, und ein Kolonnenführer, dem man widerspricht,
vergisst zuletzt.
Im Sommer 1957 fand sich Bernhard in quasi einsamer Mission und mit dem
hinter seinem Rücken kreierten Spitznamen „Ruinen-Bernd“ auf der schönen Insel
Rügen wieder. Doch was insgeheim vielleicht von den lieben Genossen als Strafversetzung
ausgeheckt worden war, sollte der „Freimaurer“ rückblickend als die schönsten
Jahre in der DDR empfinden.
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