Mit la nostalgia, dieser
Sehnsucht nach nicht zu konkretisierenden Wunschzuständen des Lebens, ist das
so eine Sache: Der Nostalgiker muss schon etwas erlebt haben, um dieses Sehnen
und Wähnen wenigstens halbwegs ausrichten zu können. Immer jedoch bleibt das am
Ende ganz individuell. So hatten vermutlich, die die sich in den 1970ern und in
den folgenden Jahrzehnten aus dem Norden Europas in Castellinaria ansiedelten, anfänglich vorrangig durchaus die
„italienischen Momente“ im Sinn; die Sonne, das Meer, den Duft von Orangen und
Zitronen, die einzigartige Landschaft und die urwüchsige Küche. Aber im
detaillierten Spektrum der erlebten Realität traten dann schon die Eigenheiten
hervor.
Bernhard wollte bloß der Scholle nahe sein auf seinen Wanderungen am
Meer und in den Bergen, sowie möglichst nie wieder frieren müssen. Der Lenz
wollte – nachdem er alle wirtschaftlichen Ziele an der ligurischen Küste
fristgerecht erreicht hatte – mit einem Minimum an Aufwand das Maximum an Macht
auf seinen neuen Lebensraum ausüben. Traute lebte nur noch für ihren Sohn und
den einzigartigen Terrassengarten mit Klarblick auf Korsika. Frau Doktor (la dottoressa)
Dröse, Bernhards Nachbarin, wollte mit Lucca ewigen Sexurlaub von ihrem Mann. Aber
selbst der Frömmste kann nicht in Frieden leben, wenn es dem Nachbarn nicht gefällt.
Wenn das persönliche Etappenziel der Sehnsucht dort am Rande des Himmels
erreicht war, stellte sich bei den Pilgern und Emigranten nicht etwa ein
grenzenloses Gefühl der Zufriedenheit und des Wohlbefindens ein, sondern es
trat alsbald ein Mangelgefühl auf. Es fehlte ihnen derart zunehmend am
„Deutschen Wesen“– dass auch die wenigen Skandinavier und Holländer kurioser
Weise von diesem Vakuum teutonischer
Lebensart profitierten. In dem Maße, in dem die Deutschen im mittelalterlichen
Ligurien heimisch wurden, wollten sie natürlich auch, dass der Sindaco
und die Comune nach dem deutschen Reinheitsgebot funktionierten, wenn es
um Übertretungen von Bauvorschriften, vernachlässigter Wasserversorgung,
Müllabfuhr und elektrotechnische Nachrüstungen ging. Die armen Bürgermeister
und ihre an Gemächlichkeit gewöhnten Administratoren, begannen das „Deutsche
Wesen“ und seine Beharrlichkeit zu fürchten. Ganz besonders dann, wenn seine
Protagonisten wegen mangelnder Beschäftigung und Langeweile den Faktor Zeit
unbegrenzt ausspielten…
Da war - als ein typischer Vorreiter – der Polier Peter Häubel, dem Bernhard Kleiner im
Büro auf einer Baustelle in Portugal gegenüber gesessen hatte. Der Kahlkopf mit
rutschigem Gebiss und kurzen Beinen stammte aus einer sauerländischen Bauernfamilie.
Sein gedrungener Körper war zum Ausgleich mit endlos langen Armen ausgestattet,
die tüchtig zupacken konnten,
Als Bernhard ihm – dem bei der Hof-Erbfolge
daheim zu kurz Gekommenen - erzählte, dass in den Valle d’Olio für wenig
Geld viele landwirtschaftliche Nutzflächen (Fasce) zu erwerben seien,
konzentrierte sich die Sehnsucht des Schrats fortan darauf: Nämlich mit Leib
und Seele das zu werden, was ein Einheimischer dort seit dem Krieg partout
nicht mehr gerne sein wollte; - ein in der Hitze schuftender, vom Ertrag seiner
Scholle kaum leben könnender, ligurischer Bergbauer. Zu ersten Oliventerrassen gesellten
sich im Schweiße von Häubels Angesicht nach und nach ein Weinberg, Zitronen-
und Orangen-Haine sowie Gemüsegärten – alle natürlich mit bis dahin noch nie
erreichten Muster-Erträgen.
Häubel
schien im Erfolgsrausch seiner agricoltura die ganze Kommune auf einmal
umarmen zu wollen. Er war auch der erste, der die residenza und einen
Ausländerpass beantragte. Er trat als neuer „Ölbaron“ jedem Konsortium bei, das
ihn aufnahm, aber er war auch bei den legendären sagre, den
ausgelassenen Dorffesten mit Tanz und Völlerei, ein emsiger Mitorganisator.
Kurz, er bemühte sich – selbst in der Sprache - einheimischer zu sein als die
Einheimischen und merkte dabei nicht, wie jene ihn zwar gerne ausnützten, aber
keinesfalls in ihre Herzen ließen.
Unerwiderte Liebe geht gerne verschlungene Wege, und so ließ Häubel
seine Fürsorge verstärkt dem Zauberberg angedeihen, an dessen Aufgang er in
strategisch einflussreicher Position als selbsternannter Concierge vom Lenz ein
großes Haus mit Garten erworben hatte. Nur Eingeweihte entgingen seiner
Wachsamkeit, indem sie lieber die schwierige Straße zum oberen Ortsrand in Kauf
nahmen.
Kaum ein Neuansiedler oder Kaufinteressent, der seinen aufdringlichen
Belehrungen, Warnungen oder Ermahnungen entgehen konnte. Ja selbst völlig
arglose Touristen und Bergwanderer wurden oft ungefragt Opfer seiner
detaillierten Vorträge oder gar erzwungener Führungen. Sie kamen immer
häufiger, weil sie von Castellinaria (da
ein Autor vom anderen abschrieb) in vielen Reiseführern gelesen hatten und sich
das malerisch auferstandene Dörfchen nur ansehen wollten,
Da er zudem ein gläubiger und praktizierender Katholik war, schritt Häubel
auch gerne gut sichtbar in vorderster Reihe bei den mannigfaltigen
Bergprozessionen mit. Alsbald rief sich
der umtriebige Umgetriebene gewissermaßen selbst zum Erfinder und
Fremden-Bürgermeister von Castellinaria
aus. Da dauerte es natürlich nicht lange, bis der, der sich ebenfalls – bislang
unangetastet - in dieser Position sah, zu einem seiner leidenschaftlichsten und
hinterhältigsten Feinde wurde: Der Leibhaftige selbst, der listige Lenz.
Aber das transferierte Deutsche
Wesen gedieh auch noch auf dem Humus anderer, sich stetig anreichernder
Erkenntnisse. Eine davon: Luftschlösser taugen nicht zum Schaffen von
Dynastien, weil es Kronprinzen und-Prinzessinnen an vergleichbarer Nostalgie und Wahrnehmungsfähigkeit fehlt. In Castellinaria selbst wurden ja keine
Kinder mehr geboren. Die verbliebene einheimische Bevölkerung hatte ihren
abgewanderten, bevölkerungspolitischen Beitrag längst geleistet oder war schlichtweg zu alt,
um sich zeugend noch einmal ans Werk zu machen. Die nordeuropäischen Damen im
gebärfähigen Alter hingegen ließen ihre teutonischgermanischen Eizellen
vielleicht dort oben vom Ambiente stimuliert befruchten. Doch zur Niederkunft
suchten sie die Kreissäle daheim auf.
Sebastian Kleiner – wohl die unbestrittene Nummer Eins auf dieser besonderen
Zeugungsliste – kann als exemplarisch für diesen eigenartigen
Generationen-Konflikt dienen: Traute nutzte das Vorschulalter ihres Sohnes und die langen Aufenthalte
Bernhards bei Bauvorhaben auf der Iberischen Halbinsel, um Sebastian so viele
italienische Momente fürs Leben mitzugeben wie nur irgend möglich. Der Knabe
wuchs in diesem herrlich abenteuerlichen und autofreien Ambiente mit dem
Maximum an Sonne, Wärme und Sinnlichkeit auf, aber er hatte – außer wenn Sie
mit dem Bus ans Meer hinunter fuhren – keine gleichaltrigen und wenn dann nur
sporadische Spielgefährten. Der Vater fehlte ihm dabei gar nicht mal so sehr.
Denn sobald des Autofahrens mächtig, fuhr Bernhard in Barcelona auf die Fähre
nach Genua und war so vermutlich mehr verlängerte Wochenenden (durch den langen
Schlaf an Bord auch völlig entspannt) präsent, als ihm dies in Deutschland
möglich gewesen wäre.
Kaum waren die Kleiners zwecks Einschulung von Sebastian in eine Wohnung
bei Düren gezogen, passierte aber etwas Unerwartetes. Sebastian, braugebrannt
und randvoll mit italienischen Impulsen fuhr auf seine neues Umfeld total ab.
Durch sein annähernd perfektes Italienisch wuchs ihm eine besondere Rolle bei
der Integration der Gastarbeiter-Kinder in seiner Klasse zu, und er erfuhr,
dass es wichtiger als alles andere war, eine Horde gleichaltrigrer Freunde zu
haben, mit denen er selbst bei schlechtestem Wetter spielen konnte. Das war es!
Sehnsüchte, da gesättigt, mussten nicht länger befriedigt werden. Für Sebastian überwog – den Eltern
fast unverständlich – das Deutsche Wesen. Je älter er wurde, desto schwerer
wurde es für Traute und Bernhard, den Knaben dazu zu bewegen, sich mit ihnen in
den Schulferien immer wieder auf die lange Reise in den Süden zu begeben. Nach
der Pubertät kam es deswegen sogar einmal zu einer handgreiflichen
Auseinandersetzung, aber das Verhärtete die Fronten diesbezüglich nur.
In solchen Momenten fand er tröstenden Unterschlupf bei Mutter Körber,
die genau das richtige Rezept für derlei Missstimmungen hatte: Fernsehen bis
zum Einschlafen und Fastfood bis zum Abwinken. Traute und Bernhard, selbst immer
noch Aufsehen erregende statuarische Erscheinungen, übernahmen ihren
Hoffnungsträger nach jedem Aufenthalt bei seiner Oma einige Kilo schwerer. Als
er 1987 ein 1,0 Abitur hinlegte, war Sebastian bereits ein wachsbleicher 120Kilo-Schwabbel, dessen Leben sich – als
sei die Reife-Note Vorgabe – fortan nur noch um Einsen und Nullen drehte. Das Programmieren und Entwickeln von
Computern war dem Junior derart zum Lebensinhalt geworden, dass seine
gramgebeugten Erzeuger befürchteten, die grüne Schrift jener Screens hätte für
immer seine Haut verfärbt.
Sebastian war das, was die Szene bald einen „Nerd“ nennen sollte. Er schaffte es aber dennoch, seine Eltern
irgendwie stolz zu machen. Nicht nur, dass er sein Studium autark, selbst
finanziert und ohne Umweg über die Bundeswehr in Rekordzeit durchzog. Er war,
als er seinen Doktor magna cum laude machte, auch sonst schon ein gemachter
Mann. Anhand eines deutsch-italienischen Übersetzungsprogramms, das er als
Semester-Arbeit eingereicht hatte, war ihm die Idee zu grundsätzlicher Software
auf dem Gebiet der Spracherkennung gekommen. Sein Vater indes sprach – nach bald
dreißig Jahren „residenza“ immer
noch kaum mehr als sein Baustellen- und Menükarten-Italienisch
Sebastians äußere Langsamkeit stand im krassen Gegensatz zu der rasenden
Geschwindigkeit seiner Gedanken und Ideen im Cyberspace. Wer so wollte, konnte
das Wesen Castellinarias und damit
seine Abneigung als das genaue Paradoxon zu dieser Konstellation sehen.
Bernhard hingegen, der den Zauberberg immer noch zwecks Broterwerb
verlassen musste, hatte gerade deshalb die notwendige Perspektive, genau in
diesem Wandel mit Weile die Magie Castellinarias
zu erkennen: Er sah, wie sich zwar das Umfeld rapide nach jeder Abwesenheit
verändert hatte. Er erkannte aber auch, dass hier das Wahre immer noch das
Virtuelle ausstechen konnte.
Der Blick vom Tal hinauf mochte im Vergleich
zu seiner allerersten Momentaufnahme noch unverändert geblieben sein, wie die
unmittelbare Atmosphäre in den engen Gassen. Doch Castellinaria
war auf wundersame Weise errettet worden. Einmal abgesehen davon, dass alles
neu gepflastert worden war und das Ambiente sich harmonisiert hatte. Die prägenden
Häuserzeilen waren nun alle saniert und zum teil recht niedlich hergerichtet worden.
Aber dadurch, dass die Autos fehlten und die Logistik noch nach Körperkraft
verlangte, schien die Zeit immer noch langsamer zu vergehen als unten am Meer.
- Der Zauberberg trog, wie Zauberberge dies nun einmal zu tun pflegen.
Die fiktiven „mannschen Protagonisten“ konnten noch isoliert mit
intellektueller Egozentrik in Parabeln dräuende „Zeitläufte“ reflektieren. Die
realen „Luftschlosser“ von Castellinaria
erlebten hingegen die Serpentinen vom und ins Tal tatsächlich wie das Zeittor
bei „Stargate“. Und wenn sie von ihren Terrassen den Blick nicht nur auf das
Meer schweifen ließen, sondern senkrecht hinunter richteten, konnten sie ihn
auch nicht mehr vor den Veränderungen verschließen.
In dem Maße wie das „grüne Gold“, das unverschnittene Olio extra
vergine aus den Valle d’Olio,
quasi ohne EU-Subventionen unbezahlbar
wurde, krochen die Industriezonen Werksgelände um Werksgelände flankiert von
gigantischen Einkaufszentren das Impero-Tal hinauf. Namhafte
Olivenöl-Weltmarken, die am alten Hafen von Oneglia
Jahrhunderte produziert hatten, verschwanden oder beugten sich nach und nach
den billigen Verschnitt-Diktaten durch Granulat-Importe aus Nordafrika. Neue EU-Richtlinien
machten das möglich. Die Ernte-Handarbeit auf den historischen Terrassen mit
unter den Bäumen ausgelegten Netzen und den Klöppelstangen, sowie der
mühevollen und auch gefährlichen Schlepperei von vollen Körben über steile Terrassen-Trittsteine
blieb die alte. An bezahlte Erntehelfer war längst nicht mehr zu denken, und
Ende des Jahrtausends konnte dieses Weltkulturerbe der UNESCO auch nur noch vor
dem Überwuchern bewahrt werden, weil die Europäische Gemeinschaft
Beschnitt-Prämien auslobte.
Aber damit noch nicht genug der kuriosen Paradoxen: Je mehr die
Bergbauern oben wirtschaftlich am Stock gingen, suggerierten unten im Tal
clevere Geschäftsleute ursprünglichen Gaumengenuss auf Konserve, indem sie die
vermeintliche Romantik eben jenes Berufsstandes auf Flaschen und Gläser zogen.
Aziende Agricole schossen wie die berühmten ligurischen Steinpilze, die nun
immer häufiger aus Rumänien importiert werden mussten, aus den aufgelassenen zu
Bauland mutierten Ölterrassen. Für den Export ins sehnsüchtige Nordeuropa gab
es Pesto im Minigläschen, Peperoncini mit Ricotta gefüllt
und marinierte Funghi Porcini zu Preisen pro Einheit, mit denen eine
ligurische Bauersfrau ihre ganze Riesensippe auf gleiche aber besser und frisch
zubereitete Weise ein ganzes Jahr versorgt hätte. Schlaumeier zogen von einem
dörflichen Ölmüller (frantoio) zum anderen, kauften den Mosto
billig auf und füllten ihn im Rahmen der Richtlinien gestreckt in mit
Goldfolien kaschierte und fantasievoll
etikettierte homöopathische Fläschchen. Natürlich zu entsprechenden Preisen,
die bis zu 500 Prozent Gewinn ermöglichten.
Wo so eine Gewinnspanne lockte, durfte natürlich einer beim Mitmischen
nicht fehlen: Lorenz Meester war einer der Ersten, der die Nordlichter mit
selbst erfundenen „original
altligurischen“ Fantasieprodukten küchennostalgisch versorgte. Wobei die
Marke, die er schuf, von seinem bösartigen Humor zeugte. Die hieß angelehnt an
das Lateinische - die Metapher doppeldeutig abwandelnd - „tavola rasa“, was
natürlich im Italienischen nicht wirklich Sinn machte. Ihm jedoch gefiel seine
Assoziation:
Denn wenn die Leute zwischen Garmisch und
Großenbrode nach telefonischer Akquise und Postversand seine Genussmittel auf
ihren Tisch stellten, hatte der Lenz sie wirklich im übertragenen Sinn
ordentlich rasiert: Normal eingelegte Zwiebeln, Pilze, Schoten, Wildschweinstücke
und dergleichen – noch nicht einmal von besonderem Geschmack – unterschieden
sich von den gängigen Industrie-Produkten in den Regalen der großen Supermärkte
nur durch ein Stück nostalgisch bedrucktes Kunstleinen, das von einem
grünweißroten Band auf den Deckeln festgezurrt war; – und natürlich einem Preis
der um die Hälfte höher war…
Ganz seinem Stil treu bleibend, rührte der Lenz jedoch weder Koch- oder
Öltöpfe noch den kleinsten Finger. Er stellte eine seiner fasce für die
Ansiedlung des Betriebes zur Verfügung. Der eilfertige Bürgermeister einer
Gemeinde im benachbarten Tal hatte sie in freudiger Erwartung neuer
Arbeitsplätze zur Bebauung frei gegeben. Die übernahm gegen Beteiligung ein
kleiner ortsansässiger Bauunternehmer (Impresario), der endlich einmal
etwas Großes bauen wollte. Die Herstellung und Logistik für Marke und Produkte
gingen gegen Tantieme zu Gunsten Meesters an eine Agrar-Genossenschaft. Die
Perspektiven entwickelten sich prächtig und der Lenz hatte wieder einmal ohne
großen Kraftaufwand eine Geldquelle, die ordentlich sprudelte. Zumindest so lange
bis die erste rege Nachfrage die dem Lenz sattsam bekannte Gier beflügelte.
Seit einigen Jahren kann man diesen makellosen Musterbetrieb nun auf
einer Serpentine mit prachtvoller Aussicht bei gleichzeitiger Einsicht umfahren.
Drinnen sieht alles aus wie bei Dornröschen: Allerdings ohne Personal im
Tiefschlaf. Ansonsten scheint alles mitten im Produktionsprozess zum Stillstand
gekommen zu sein. In Momentaufnahme erstarrt steht ein einst ultra moderner
Betrieb seit bald einem Jahrzehnt unter Konkurs-Kartell und Gläubiger-Schutz.
Seine früheren Partner glaubten immer noch an eine altersbedingte
Hinfälligkeit, wenn der Lenz angesichts dieses Themas einen unbändigen
Hustenanfall bekommt. Sie ahnten nicht, dass er sich tatsächlich ins Fäustchen
lachte. Der Hauptgläubiger war natürlich er – ohne jemals jedoch selbst eine
Lira oder einen Euro riskiert zu haben. Der bald Hundertjährige wähnte da immer
noch den Faktor Zeit auf seiner Seite…
In dem Maße, in dem beim Lenz die sexuelle Gier als Triebfeder seines
Schaffens nachließ – was sowieso unverschämt spät der Fall war – gewann der
pure Spaß an der Macht-Ausübung die Oberhand. Die Puppen an ihren Fäden nach
seiner Facon zappelnd agieren zu lassen, war ihm als Genuss auf seine alten
Tage bald wichtiger als das Studium seiner Konto-Auszüge.
Man könnte rückblickend meinen, gerade
das fortschreitende Alter hätte ihn gegen diverse Ängste zusätzlich resistent
gemacht, aber so war das nicht.
Bernhard hatte aus anerkennendem Respekt und
Toleranz eine Allianz mit Häubel geschlossen, ohne ihm allerdings jemals
freundschaftlich verbunden zu sein. Aber allein dieser Umstand offenbarte ihm,
dass der Lenz trotz ihres gestörten Verhältnisses so etwas wie Eifersucht auf ihn,
den eigentlich ungeliebten Schwager, projizierte. Das ging so weit, dass
Meester, um auch ein wenig schön Wetter bei Traute zu machen, Bernhard
zunehmend um großzügig belohnte Hilfestellung bei bautechnischen Aufgaben oder
der Verwaltung seiner Liegenschaften bat.
Bernhard Kleiner war ein großer Charakter. Er konnte Mitleid mit dem
Alten empfinden, ohne die in seinem Hinterkopf gespeicherte Wut der
Vergangenheit ad acta zu legen. Rachegefühle hegte er keine, aber er hatte sich
vorgenommen, seinen Schwager irgendwann auf elegante Weise in die gleiche
hilflose Ohnmacht zu versetzen, wie er sie hatte erleiden müssen. Er konnte
nicht ahnen, dass ihm dies auf recht heftige Weise abgenommen werden würde.
Er war zwar im Rang als Bauleiter die Treppe weit hinauf geklettert,
aber das hatte ihn nicht unabhängiger gemacht. Seit Sebastian in Aachen
studierte, waren seine Auslandseinsätze weniger, aber die Verantwortung auf den
Großbaustellen im Rheinland belastender geworden. Er schaffte die zusätzliche
Schufterei beim Urlaub in Castellinaria
einfach nicht mehr.
Auch der gleichaltrige Häubel hatte noch genug neben seiner Landwirtschaft
zu tun.
Aber beide wollten die Eisen auch schmieden,
so lange die noch heiß waren. Sollte heißen, die letzten aussichtsreichen
Ruinen noch zu sanieren, um daraus Ferien-Appartements zwecks späterer Rentenaufbesserung
zu gestalten.
Häubel und er hatten sehr gute Erfahrungen mit zwei albanischen Brüdern
gemacht, die nach ihrer Flucht ein kleines Bau-Unternehmen bei Garlenda
gegründet hatten. Sie waren ehrlich, fleißig, in einem gewissen Maß
zuverlässiger als ihre ligurische Konkurrenz und vor allem nannten sie einen
Preis, und dabei blieb es dann. Selbst Bernhards Freund Lucca hatte sich im
Laufe der Jahre dieses nervende, scheibchenweise Nachfordern bei Baufortschritt
angewöhnt.
Die beiden deutschen Poliere bündelten also ihre Vorhaben mit den
restlichen vom Lenz zu einem guten halben Jahr Vollbeschäftigung für die „albanesi“.
Bernhard unterrichtete seinen Schwager der Fairness halber.
Lorenz Meester residierte ja bekanntlich zu diesem Zeitpunkt schon in seiner
Villa auf dem Capo Berta, wie man sie nur aus Hochglanz-Magazinen kennt. Zwei
Hektar mediterraner Botanik in Hanglage über dem Meer, mit einem großen
Pförtnerhaus oben und einem Renaissancebauten-Ensemble mit Pool-Terrasse über
der steilen Klippe unten.
Das vordere Haus war lukrativ vermietet, Autos verschwanden in einer in
den Fels gesprengten Tiefgarage, und die mit einem Golfcart befahrbaren Parkwege
waren elektronisch gesichert und wurden von Videokameras überwacht.
Bernhard hatte schnell aufgehört, sich von diesem Ambiente einschüchtern
zu lassen. Er genoss vielmehr die angenehmen Seiten seiner „Altenpflege“, die
ihm zunehmend Freiräume im Anwesen seines Schwagers einräumte, ohne sich für
die gewaltigen Unterhaltskosten interessieren zu müssen.
Meester war überraschend schnell einverstanden gewesen mit der
Beauftragung der Albaner, so dass sich Bernhard anschließend in dem Riesenpool
einem ausgiebigen Schwimmtraining hingeben konnte. Der Pool war auf einer Ebene
mit Überläufen angelegt. Seine bis zum Rand
reichende Wasserfläche spiegelte vor, man schwämme im Süßwasser aufs offene
Meer hinaus. Noch einmal ordentlich Frieden und Ambiente tanken, dachte
Bernhard, bevor es am nächsten Tag mit dem Flieger wieder von Nizza nach
Köln/Bonn ginge…
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