Die im Borgo verbliebenen Alten wurden in der Regel sehr alt. Die Geschwister Basalto - fünf an der Zahl, von denen nur die jüngste Schwester verheiratet war - brachten es zusammen auf annähernd 500 Jahre. Eine sprang dement mit weit über 90 aus dem Fenster, aber bei den restlichen Vieren bekam man schon ein wenig das Gefühl von Unsterblichkeit. Sie waren nicht nur völlig klar im Kopf, sondern schufteten sich auch noch täglich in den Oliven oder im Gemüsegarten am steilen oberen Dorfrand ab. Hatten sie trotz ihrer Gläubigkeit daher den Frieden in Dankbarkeit für ein erfülltes Leben mit Gott gemacht?
Nein. Was sie zusammen und am Leben hielt, war ihre latente Boshaftigkeit. In sofern war dafür gesorgt, dass das Deutsche Wesen in ihrer Gerüchte- und Hexenküche ein ums andere Mal weich gekocht wurde. Hatten sie selbst mal einen Schlüssel verlegt, waren es natürlich tedesci oder albanesi, die sie versteckt hatten. Mit Staatsschauspieler-Talent wurde dann in dräuender Gestik gen Himmel gezeigt und auf den Signor verwiesen, der alles sähe. Oder die Hand zum cornito geformt zeigte gleich mit einer Verfluchung zur Hölle. Mauro, 90, der einzige Bruder und ein zähes Gerippe, packte bei Falschparkern schon mal in der Dunkelheit einen Stichel aus und zerkratzte rundum den Lack jener Fahrzeuge, die den kleinen Grenzstein mit der Aufschrift proprieta privata übersehen hatten. Bei minder schweren Verstößen verklebte er lediglich die Türschlösser mit Sofortkleber.
Wer als Ausländer und residente im Konsortium war, gab bei den Sitzungen schnell auf. Nicht weil es wegen der im Ligurischen laut ausgetragenen Streitereien der Burggeister untereinander wenig zu verstehen gab, sondern weil das menschliche Verständnis der Einheimischen dort oben in all den Jahrhunderten so drastisch gelitten hatte. Ein früherer Bürgermeister mit beträchtlichem Besitz im Luftschloss verließ einmal so eine Sitzung mit dem Schwur, den Borgo nie wieder zu betreten. Er hielt sich dran.
Auch die Gebrüder Besnik waren nur schwer zu
verstehen. Das lag einerseits daran, dass Sali und Milan so gut wie nicht
redeten. Wenn sie aber mit anderen redeten, dann geschah das in dem mit
zischelnden S- und gaumigen Umlauten fast wie Albanisch klingenden
urligurischen Dialekt. In dem hieß das Feuer zum Beispiel nicht fuoco
sondern fögü. Es gehört zu den ungeklärten Mirakeln der europäischen
Wohlstandsvölkerwanderung, wieso die über die Adria geflohenen albanischen
Boat-People sich schon früh im ligurischen Appenin ansiedelten und mit
unfassbarer Geschwindigkeit dessen Dialekt, aber auch leidlich das Italienische
assimilierten. Lag es daran, dass die Ligurer unter den italienischen
Landsmannschaften die gleiche Außenseiter-Rolle spielten wie die Albaner auf
dem Balkan?
Der deutsche Autor Johannes Goerz, der in Castellinaria das Haus der „Francesa“
gegenüber vom Schloss nach der Jahrtausend-Wende gekauft hatte und die beiden Albaner vorübergehend
beschäftigte, sollte noch weit Wundersameres über die zwei mit ihrer kleinen
Baufirma herausfinden. Um zu verstehen, was in Castellinaria 1996 ablief, muss
jedoch auf dessen erst später erworbenen Erkenntnisse vorgegriffen werden:
Die Annahme, dass die Besniks Brüder waren, rührte lediglich vom
Firmennamen her: Besnik Fratelli Imprese Edile nannte sich die. Dass sie
völlig unterschiedlich aussahen, wurde dadurch nie in Frage gestellt. Milan war
feingliedrig, klein und so dunkel, dass er auch als Palestinenser durchgegangen
wäre. Sali, dem sie auf den Baustellen den Beinamen „Il Mulo“ – das Maultier –
nachriefen, hätte gut und gerne mit wenig Maske Rübezahl oder Quasimodo darstellen
können. Er gab den zotteligen roten Riesen in gebückt schlurfender Haltung
unter Entfaltung gigantischer Körperkräfte derart überzeugend, dass ihm ein
anderes Signalement überhaupt nicht zuzutrauen gewesen wäre.
Tatsächlich aber waren die beiden so „ungleichen Brüder“ Cousins. Der
jüngere Milan war mit Sali in der Obhut dessen daheim zur traurigen Legende
gewordenen Mutter aufgezogen worden, bis er alt genug sein sollte, um als
letzter Überlebender seiner Sippe die Blutrache gegen eine andere Familie
fortzuführen. Sali wurde, um die „Schuld“ seiner Mutter abzutragen, von
albanischen Exil-Politikern erpresst, die die Spur vom Alt-Kommunismus
schnurstracks in die modern organisierte, grenzenlose Verbrechenswelt der EU
gewechselt hatten. So wie sich Sali am Bau auf die groben und Milan ergänzend
auf die feinen Arbeiten konzentrierte, so waren sie auch bei ihrer gut
getarnten Nebenbeschäftigung spezialisiert – nur umgekehrt. Milan war als
„Auftragsmörder“ für die groben, nassen Hits zuständig, während Sali nicht
einmal selbst Hand anlegte, denn er arrangierte gezielte Todesfälle aus
Alltagssituationen mit versteckten Risiken. Je nachdem, ob und welche Botschaft
die Auftraggeber mit ihren Morden übermitteln
wollten, wählten sie einen der Besniks. Und zwar so oft, dass das Baugeschäft
doch wohl mehr oder weniger Hobby oder Tarnung war.
Bernhard Kleiner und Peter Häubel waren wie alle ahnungslos, als sie sich für die anerkannte
Zuverlässigkeit der Beiden bei ihrem gemeinsamen Bauvorhaben entschieden. Und
der alte Lenz frohlockte, weil er sich irgendwie vorstellte, er könne die
albernen Albaner – wenn die deutschen Poliere erst einmal wieder daheim im
Einsatz waren – besser zu seinem Vorteil
herumscheuchen als die individualistischen Italiener.
Da nie ruchbar wurde, was in jenem Herbst tatsächlich passiert war,
bauen die Hintergründe auf einer Hypothese auf, was später tatsächlich den nachhaltigen
Wandel im „Prinzip Lenz“ bewirkt haben könnte:
Dessen Prinzip beruhte ja in der Vergangenheit darauf, dass die
Marionetten, deren Fäden er in der Hand hielt, willig in die Richtung
zappelten, die er vorgab. Sein Prinzip sah nicht vor, dass die Puppen ein
Eigenleben führten, die Fäden selbst verhedderten und am Ende gar noch abschnitten.
Der verschlagene, aber eigentlich im Sinne der körperlichen Auseinandersetzung stets
gewaltfrei operierende Lenz war noch nicht einmal ansatzweise in seinem
bisherigen Leben auf die Idee gekommen,
jemand könnte ihm Paroli bieten und seine schon rücksichtslose
Vorgehensweise dann auch noch mit unverhohlener Gewaltbereitschaft überbieten…
Sali und Milan hatten ungefähr vier Wochen von Sonnenauf- bis
Sonnenuntergang auf beiden Baustellen geschuftet, um die ständigen
Sonderwünsche zu erfüllen, mit denen der Lenz das Projekt Kleiner/Häubel bis zur Schlechtwetter-Periode im November
ins Hintertreffen bringen und somit torpedieren wollte.
„Il Mulo“ machte seinem Spitznamen alle Ehre. Selbst nach viermaligem
Umsetzen zweier nicht tragender, rund drei Zentner schwerer Ziersäulen und dreimaligem
Umgestalten des dazu gehörigen Treppenaufgangs mit massiven historischen
Trittsteinen fuhr er noch immer nicht aus der Haut. Den immer dreisteren
Anweisungen Meesters kam er äußerlich derart stoisch und stur nach, dass der
Deutsche dann bei der massiven Reaktion der beiden aus allen Wolken fiel.
Der Unfall, der dem Lenz eines Abends widerfuhr, erzeugte – kausal für
Dritte kaum in Zusammenhang zu bringen - einen deutlichen Klimawandel in Castellinaria.
Der Schreiberling erzählte Bernhard Kleiner erst nach dem gewaltsamen Tod Salis 2004 den Ablauf dieser Begebenheit. Die perfide Wirkungsweise
des „Arrangierens“ wird an diesem nicht tödlichen Beispiel exemplarisch
veranschaulicht. Er wunderte sich nur, dass Kleiner sich überhaupt nicht
empörte, sondern sardonisch lächelte. Aber Goerz kannte ja den Lenz weder
persönlich noch wusste er, dass jener der nicht gerade geliebte Schwager
seines neuen Freundes war.
Gerade waren die Besniks also in diesem Spätherbst 1996 nach der Arbeit
in der Abenddämmerung mit ihrem alten Kipplaster auf die lange abschüssige
Gerade der Konsortiumsstraße zum Capoluogo hinunter eingebogen, als sich
auch der Lenz mit seinem schicken Mercedes-Geländewagen talwärts begeben
wollte. Milan, der am Steuer saß, winkte und bedeutete Meester, dass er ihm
noch einmal etwas zu sagen habe. Er bremste, stellte bei laufendem Motor die
Handbremse fest und stieg mit einer Blaupause aus dem Führerhaus. Da das Licht
zu deren Studium nicht mehr ausreichte, forderte er den Alten auf, nach vorne
ins Scheinwerferlicht des Lasters zu treten. Während er nahezu unverständlich irgendein Problem schilderte,
war Sali auf der anderen Seite mit einer
Flasche eines speziellen Kriechöls in den Schatten geschlüpft und besprühte die
vier Bremsen des Benz mit einer auf Erfahrung beruhenden Menge.
Als Milan seine Blaupause wieder zusammen gefaltet hatte, war der abgelenkte
Lenz, der von allem nicht das Geringste verstanden und mitbekommen hatte, bereits leicht gestresst. Der Laster setzte
sich zügig in Bewegung und war schon fast an der ersten Spitzkehre, als der Alte
mit mehr PS als seiner Reaktionsfähigkeit gut tat, den schnell schrumpfenden
Abstand fast schon zu gefahren hatte. Er sah noch, wie die durch Baustaub beinahe blinden Bremslichter des Lasters kurz
aufleuchteten und dann sah er nichts mehr. Denn trotz ABS griffen die Bremsen -
für eben diesen einen, ausreichenden Moment verzögert - nicht. Der schwere „G“
krachte auf der abschüssigen Strecke weiter beschleunigend in die massive
Hinterachse, und die Kipplade des Lasters zerschlug die Frontscheibe. Der
Airbag öffnete sich Hundertstel von Sekunden vor dem einsetzenden Glashagel mit
lautem Knall. Für eine Minute war der Lenz geistig so alt und verwirrt, wie ihm
das eigentlich an Lebensjahren zugestanden hätte. Dann hatte er sich wieder
gesammelt und kochte vor Wut.
Doch die beiden Albaner riefen ungerührt, den eingeklemmten Greis
beobachtend mit dem Handy die Polizei und die Ambulanz aus Pontedassio. Beide
Bereitschaftswagen waren überraschend schnell mit Blaulicht und Martinshorn vom
Tal heraufgeprescht. Alles sollte doch seine Ordnung haben.
Der Alte wurde gegen seine Einlassungen und
Proteste zur Beobachtung nach Imperia in die Klinik gebracht. Das
Unfallfahrzeug konnte nur noch als Totalschaden sichergestellt werden (und
landete auf Vermittlung der Besniks wundersam wieder wie neu Wochen später auf einer Fähre Richtung Osten).
An den Aussagen der Albaner, die dem
Hergang nach und dem Augenschein gemäß protokolliert wurden, gab es keinerlei
Zweifel.
Natürlich hätte eine kriminaltechnische Untersuchung zumindest eine
kleine Merkwürdigkeit auf den Bremsscheiben und
-Backen des nahezu fabrikneuen Fahrzeugs erbracht. Aber da bei Lorenz
Meester nach mehreren kräftigen Schlucken Grappa, die er sich zuvor gewohnheitsmäßig
gegen die abendliche Kühle auf der Baustelle aus seinem Flachmann genehmigt
hatte, ein zu hoher Alkoholwert im Blut festgestellt wurde, lag der Fall auch
so klar. Wer wollte da noch hören, wie der Lenz von irgendwie verzögert
funktionierenden Bremsen schwadronierte?
Die Albaner ließen dem Lenz gegenüber in der Folge keine weiteren
Zweifel mehr an den geänderten Machtverhältnissen aufkommen. Als ihr
Auftragsgeber wieder einmal in alte Verhaltensmuster zurück fallen und weitere
unsinnige Anweisungen geben wollte, griff ihm „Sali Rübezahl“ fürsorglich unter
beide Achseln hob ihn wie ein ungezogenes Kind vor sich auf Augenhöhe und
sprach:
„Memento mori, alter Mann! Das nächste Mal fährst du in den Tod.“
Womit er nicht nur Bildung offenbarte, sondern
auch die Tatsache, dass er mit für Sekundenbruchteile nicht blöde verstellten
Gesichtszügen in der Lage war, fließend Deutsch zu sprechen.
Dass der wieselflinke, geschmeidige Milan in den Folgejahren immer
wieder einmal im memento mori an allen Überwachungssystemen und
Alarmanlagen vorbei nachts das Schlafzimmer von Meester aufsuchte, beruht auf Hörensagen. Dass er
dann - zärtlich den Schalldämpfer seiner Beretta streichelnd - am Bett des
Deutschen saß, soll ihre weiterhin blühenden Geschäftsbeziehungen noch
gesteigert haben. Jedenfalls ließ sich der Lenz –auf einmal sein Alter
vorschützend – kaum noch in Castellinaria sehen.
Die
Bauarbeiten waren so pünktlich und tadellos fertig, dass genug Folgeaufträge
für die Besniks hereinkamen. Erstaunlicher Weise für Außenstehende wuchs die
kleine Firma der Albaner trotz ihrer stets manifestierten Tüchtigkeit nicht.
Was ihrem Kalkül entsprach. Da sie nicht gierig waren, wurden sie eben auch von
der heimischen Konkurrenz respektiert und niemand sah sich veranlasst, hinter
die Kulissen zu blicken
In jenem Herbst erinnerte die dem Luftschloss „übergeordnete Instanz“,
die ja von den meisten seiner Bewohner als ihr Gott dem dort so nahen Himmel zugeordnet
wurde, sehr nachhaltig daran, dass alle Menschen sterblich sind:
„La Francesa“ hatte einen zu spät erkannten Tumor in ihrer Gebärmutter. Doktor
Dröse der sich selbst nie an Verbote gehalten hatte, die er seinen Patienten
gerne auferlegte, starb während der Sprechstunde. Dicke Zigarren und Cognac
nach zu fettem Essen hatten seinem ersten, gleich tödlichen Herzinfarkt durch arrogantes Ignorieren rechtzeitig und deutlich an sich selbst zu diagnostizierenden Signale den Weg
bereitet. Überraschender Weise trauerte seine sich immer noch jung fühlende
Witwe derart heftig, dass sie Lucca nicht mehr in ihr Bett lassen und eine
lange Auszeit von Castellinaria nehmen wollte. Um Dinge daheim zu regeln.
Deshalb verkaufte sie ihr Haus, ohne dass die Sache mit dem „geraubten Stück Flur“
zuvor bereinigt worden wäre.
Peter Häubel, ansonsten absolut schwindelfrei, kam auf dem Dach eines
Hochhauses in Bonn ins Schwanken und konnte gerade noch von seinem Bauherrn
daran gehindert werden, ohnmächtig in die Tiefe zu stürzen. Überraschend bei
seiner Umtriebigkeit und gänzlich unbemerkt war er schwer an Diabetes mellitus
erkrankt. Bernhard Kleiner, der kurz vor seinem Sechzigsten stand, hatte Stress
bedingt zwei schwere Autounfälle, die er nur durch Glück überlebte. Normaler
Weise sagt man ja jenen, die erst spät
den Führerschein gemacht haben, ein ruhigere und umsichtigere Fahrweise nach. Im
Prinzip war das auch bei Bernhard so. Aber vier Bauvorhaben in drei Städten mit
immerhin dreihundert Wohneinheiten
mussten koordiniert und beaufsichtig werden. Er, der sein Leben lang körperlich in Bewegung gewesen war, hatte seit
der Wiedervereinigung meist nur noch im Auto oder im Baubüro gesessen. Das nahm
sein Kreislauf natürlich übel, und die Blutdruck-Werte rauschten in abnorme
Höhen.
Aber das Handtuch warf er, weil die Büros der
Baufirma komplett international vernetzt auf Computer umgestellt werden
sollten. Ausgerechnet sein Sohn Sebastian hatte diesen ungemein lukrativen
Auftrag ergattert. Es lag auf der Hand, dass „Jerda, dat Aas“ – die Tante
ehrenhalber quasi - dabei ihre Hände im Spiel hatte. Sie schmiss den Baukonzern
mittlerweile nahezu alleine, weil ihr
Göttergatte nur noch zum Golfen ging; angeblich zwecks Geschäftsanbahnungen
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