Und
dann galt ab 1. Januar 2002 der Euro und sorgte für einen Wertewandel sowie
höchst unterschiedliche Wahrnehmungen bezüglich seiner wirtschaftlichen
Wirkung. Das traf sicher überall in Europa zu, war aber auf dem Zauberberg von
Castellinaria mit seinem verlangsamten Raum-Zeit-Kontinuum und den höchst
persönlichen Perspektiven seiner Bewohner geradezu exemplarisch. Durch den
Nationen-Mix war hier quasi ein Musterzoo oder besser ein Reservat für
unterschiedlichste Wirtschaftswesen europäischer Herkunft entstanden. Je
nachdem in welchen Biotopen sie aufgewachsen waren, gediehen sie jubelnd oder verkümmerten
seelisch; jedwedes aber eigentlich ohne ersichtlichen Grund:
Bernhard Kleiner war bedingt durch seinen Lebenslauf Vertreter einer
raren, gegen diese Anwandlungen immunen Spezies. Das galt auch für die
steinalten, immer schon hier angesiedelten „Gewächse“, die sich
landwirtschaftlich selbst versorgten. Sie suchten höchsten bei schwersten
Krankheitsfällen niedere Gefilde auf oder wurden meist erst nach weit über 80
Jahren harten Lebens im Sarg auf den Friedhof ins Tal gebracht.
Die Gogels hatten zwar noch das Haus mit Garten gekauft, es aber sofort,
nachdem sie es wieder in bewährter Manier dekoriert hatten, an eine Agentur zur
Vermietung weiter gegeben. Im Übrigen aber waren sie gleich über die nur noch
in den Köpfen vorhandene Grenze nach Frankreich entwischt und hatten von den
Gewinnen in Castellinaria eine Villa auf dem Cap d’Ail zwischen Monaco und Nizza erstanden. Bevor der
Rest der Welt begriff, dass der Euro bald nicht mehr heimlich in Gedanken
umgerechnet zu werden brauchte, kauften sie diese von verängstigten Amerikanern
in Dollar auf der Basis von Franc-Umrechnung. 2007 sollten sie (wieder einmal
fristgerecht und hübsch dekoriert) die Villa in Euro zur gleichen Summe verkaufen
und das taten sie dann auch gleichermaßen bei dem Haus in Castellinaria.
Natürlich bekam Johannes Goerz seine vermeintlichen Nachbarn niemals
mehr zu Gesicht, um ihnen zumindest einmal die Meinung zu sagen. Der ehemalige Journalist
gehörte also schon wegen seines baufälligen Domizils und der Tatsache, dass er nun
weitgehend vom „Eingemachten“ leben musste, ganz sicher zu denen, die Gefahr
laufen würden, zu verkümmern. Er entwickelte jedoch für das Phänomen des
Euro-Wertwandels ein Ursachenschema, mit dem sich außer ihm auch andere
Europa-Depressive gedanklich aus dem schwarzen Loch hätten hieven können: Das
Pizza-Theorem.
Das Pizza-Theorem zeigte einerseits die Machtlosigkeit des Individuums,
machte ihm andererseits aber auch deutlich, dass es zumindest nicht allein von
den Wirtschaftsmächten verarscht wurde – dass das Volk als Volkswirtschaft
demnach immer noch die Chance gehabt
hätte, zurück zu schlagen:
Der Euro war im März/April 2002 für die Italiener immer noch so
ungewohnt, dass die Kaufhäuser und Laden-Ketten die Waren (zum Teil bis heute)
auch noch mit Lire auszeichneten. Restaurants gestalteten ihre Menükarten nach
diesem Vorbild, um zu suggerieren: Schaut her, nichts hat sich durch die neue
Währung geändert. Aber der Euro war für den kleinen Mann eben ein schleichendes
Gift. Drehbuchschreiber von Verschwörungsthrillern könnten rückblickend
vielleicht einen Zusammenhang zwischen der Euro-Einführung, „Nine Eleven“, Börsen-Crash, „America at War“ und dem damit
verbundenen Angriff auf den Irak konstruieren. Tatsache war, dass das beidermaßen
in Friedenskundgebungen und Kriegshandlungen engagierte Berlusconi-Italien mehr
damit zu tun hatte, die regenbogenfarbenen „Peace“-Flaggen auf die Balkons zu
hängen, als Preise zu kontrollieren.
Der kleine Riss im Damm gegen den
„Teuro“ wurde durch eine Pizza-Kette verursacht. Die Schallgrenzen für Pizze
lagen 2001 zwischen 6000 und 9000 Lire (etwa sechs bis neun Mark). Heimlich
hatte sich im April der Euro-Preis für die „Margherita“, die nur mit
Mozzarella, Tomaten und Basilikum belegte in der Regel billigste Version, mit
3,90 Euro von der alten Einstiegsmarke entfernt. Als sie erstmals die
Vier-Euro-Grenze überschritt, schlugen die Italienischen Verbraucherschützer
angesichts der Preissteigerung um 25 Prozent innerhalb dreier Monate erstmals
Alarm und riefen zum landesweiten Boykott von Pizzerien, Pizza-Bäckereien und -Lieferanten auf.
Das funktionierte. Ein Wochenende lang aß Italien nur selbst gemachte
oder tiefgekühlte Teigfladen. Es rutschte jedoch nur die Margherita unter die
frühere Marke zurück. Die nicht so leicht typologisch zuzuordnenden übrigen Pizza-Kreationen
mogelten sich weiter auf die Neun Euro zu oder schlichen sich im Jahr darauf
gar schon darüber. Im Frühjahr 2008 kostete die Durchschnittspizza bei gleichem
Lohn-Niveau und EU-weit geringeren
landwirtschaftlichen Erzeuger-Preisen mit Neun Euro nach nur fünf Jahren um
jedenfalls 100 Prozent mehr.
Das Theorem hätte übrigens ohne weiteres auch auf Deutschland als
Schweinsbraten- oder in Österreich als Kaffeehaus-Theorem angewendet werden
können… Der 1000Lire-Steh-Espresso war auf wundersame zwei Euro geklettert,
aber da hatte dieses Genussraucher-Volk auch schon ohne jeglichen Widerstand
und vor allen anderen EU-Mitgliedsstaaten die härtesten Restriktionen gegen
Tabakqualm akzeptiert…
Bernhard Kleiner wusste zunächst mit Johannes Goez, dem neuen,
streitbaren Bewohner Castellinarias nichts anzufangen. Ihm fiel auf, dass dieser
sich jedoch sehr schnell in seinem Umfeld zurechtfand, weil er ungeachtet
seiner geringen Sprachkenntnisse auf die Einheimischen zuging und ihnen
sichtlich bemüht zuhörte - wie ein Therapeut oder Seelsorger. Goerz signalisierte
ihnen – anders als der beflissene Peter Häubel - dass er mit ihnen leben, aber nicht um jeden
Peis dazu gehören wollte. Man zollte ihm wohl gerade deshalb schnell Respekt.
Dieser wuchs auch, weil der Autor für Dienstleistungen und Reparaturen
sein Geld strikt im inneren Zirkel der Gemeinde ausgab, selbst wenn er sich
dafür manche Unzuverlässigkeit (zunächst durchaus bewusst) einhandelte. Aber
irgendwann erträgt auch der dickste Nacken keine weiteren Schläge mehr.
Der von ihm engagierte Baumeister war mitten
im totalen Sanierungs- und Umbau-Chaos in Folge eines Herzinfarktes von der
Leiter gepurzelt. Dadurch geriet dessen „banca di favore“, die
Gefälligkeitsbank, in Schieflage. Mit den Lebensgeistern des „impresarios“
waren nämlich auch 15 000 per Handschlag a conto übergebene Euro entfleucht.
Und unmittelbar darauf stellte sich heraus, dass die Baugenehmigung für eine
Säulenreihe, die eine marode Mauer an der Dachterrasse nach Maßgabe des
Verstorbenen ersetzen sollte, beim „Sindaco“ nicht eingeholt worden war. Das bedingte eine Anzeige wegen Verstoßes
gegen den mittlerweile sehr strengen Denkmalschutz. Eine neue, kostenpflichtige Vermessung für das
Katasteramt zuzüglich eines stattlichen Bußgeldes wurde fällig.
Bernhard Kleiner war ein harter Mann, und nichts von dem, was seinem Landsmann
widerfuhr, hätte ihn jemals emotional tangiert. Doch als er den Fleischberg
eines Morgens heulend und zusammen gesunken durch die offene Haustür an seinem
Küchentisch sitzen sah, trat er ungefragt und auch besorgt von der Piazza in
dessen Haus.
Goerz wischte sich verschämt die geröteten Augen und versuchte sich an
einem Grinsen:
„Ich gebe auf. Dieses Haus schafft mich. Das ist eine Sparbüchse ohne
Boden. Und jetzt das!“
Er wies auf die vor kurzem frisch gestrichene Küchendecke. Dort breitete
sich zügig ein pechrabenschwarzer Fleck aus. Irgendwie war das ablaufende
Wasser aus der Wanne des darüber liegenden Bades seit Jahren unbemerkt in einen
stillgelegten, zu zementierten und total verrußten Kaminabzug geraten.
Jahrhunderte Olivenholz-Befeuerung mussten sich in ihm abgelagert haben. Jetzt
hatte sich das seit wohl geraumer Zeit zusickernde, sehr kalkhaltige Wasser
einen Weg durch die Hohlräume der Mauern gebrochen und diese Melange war zusätzlich
rabenschwarz oxidiert.
Dies also war der Moment, in dem der legendäre „Ruinen-Bernd“ seine
Wiedergeburt feierte, und es war auch der Beginn einer eigentümlichen
Männerfreundschaft. Zwei vom Leben unterschiedlich geschundene Alpha-Wesen
gingen zunächst eine Symbiose ein, die sicherlich keiner von beiden noch ein
paar Jahre zuvor für möglich gehalten hätte. Der eher Manuelle und der ans
Dominieren gewöhnte Delegierer – konnte das gut gehen?
Instinktiv spürte Goerz die einfach strukturierte Kompetenz und den unerschütterlichen
Mut zum Anpacken bei dem zehn Jahre Älteren und lieferte sich erstmals in
seinem Erwachsenen-Leben einem anderen Menschen vorbehaltlos aus.
Dank Euros Gnaden sollte dies eine der besten Entscheidungen seines
Lebens werden. Mit „castorpschem“ (nach dem Zauberberg-Held entlehnte Charaktereigenschaft)
, naivem Staunen nahm er in den kommenden Monaten die Urkraft wahr, die von
diesem Zauberberg ausgehen konnte, wenn man sich nur bewusst auf ihn einließ. Es
schien auch, als wolle jener seine Bewohner erst prüfen, ehe er sie dauerhaft
als Residenten duldete.
Schutthalden, Trümmer im Haus, Deckenkonstruktionen,
die nicht hielten, was sie versprachen – das alles hätte den alten Johannes an
den Rande eines Nervenzusammenbruches geführt. Jetzt war es ihm wurscht, wenn
er sich einen Abend mal staubverkrustet und stinkend zum Schlafen niederlegte,
weil das Wasser abgestellt bleiben musste. Jetzt war ihm auch egal, dass sein
ramponiertes Vermögen stetig schrumpfte wie die von Signora Edda auf blitzenden
Blechen zum Ausdörren auf dem Dach gegenüber ausgelegten Tomaten. Jeden Morgen trat er mit breiter Brust auf die Piazza oder seine
über allem schwebende Terrasse, umarmte das einzigartige Panorama und sog die
vom Meer aromatisierte, frische Bergluft wie befreit in seine Lungen. Sein
Leben hatte als Ruinen-Bauherr einen neuen Orientierungspunkt, und diese
Zielsetzung riss sein Umfeld mit.
Milan Besnik war der erste, der Johannes Goerz in einer Mischung aus
Respekt und Baustellen-Kumpanei mit seinem zukünftigen Spitznamen „Don
Giovanni“ ansprach. Kleiner hatte die beiden Albaner in kleiner Nachbarschaftshilfe
engagiert, weil diese neben ihrer erwiesenen und erprobten Zuverlässigkeit als
einzige nicht mit dem Euro ihre Preise eins zu eins angehoben hatten. Er ahnte
ja nicht, was Johannes Goerz bald erfahren sollte, aber seiner Verschwiegenheitspflicht gehorchend, noch Jahre für sich behalten musste:
Die „Sterbenachhilfe“ in Euroland war bei
zunehmender Zwielichtigkeit derart gefragt, dass die zwei das Schuften am Bau,
schlicht als einen, die Nerven
beruhigenden Ausgleichssport
betrachteten. Den meist ausländischen Bauherren fielen dabei die immer häufigeren
partiellen Abwesenheiten des einen oder anderen Besnik nicht wirklich auf. Dass
auf einmal Sali Besnik häufig allein auf seiner Baustelle schuftete, führte
beispielsweise Johannes Goerz darauf zurück, dass nur der titanische Rotschopf
so mühelos dazu in der Lage war, die Tonnen von Schutt durch das winkelige
Anwesen nach draußen zu schaffen.
Als auch „Il Mulo“ ihn zum ersten Mal mit „Don
Giovanni“ ansprach, fühlte sich der Schreiberling gruselig amüsiert an die
Szene in „Der Pate I“ erinnert. Die, in der der Killer Clemenza Don Corleone
seine Aufwartung macht und in gutturalem Dialog seine tödlichen Anweisungen
empfängt. Wie sollte „Don Giovanni“ da schon ahnen, wie treffend diese
Assoziation noch werden würde?
Und dann hatte Goerz beim gemeinsamen Schleppen einer schweren Säule in
Folge von Pressatmung eben diesen bereits beschriebenen, kurzen Herzstillstand,
der den Exil-Albaner aus seiner zementierten Rolle zwang.
Ausgerechnet beim Lebensretten hatte Sali Besnik seine Tarnung
aufgegeben. Das Schicksal schreibt wirklich die besten Sketche!
Johannes Goerz hielt die gesamten Hintergründe für einen geplanten Roman
lange unter Verschluss. Was womöglich auch damit zusammen hing, dass Sali
einige Wochen, nachdem die Renovierung von Goerzens Haus endlich abgeschlossen war, auf die beschriebenen Weise zu Tode kam. Kurze Zeit darauf war dann übrigens auch Milan samt dem kleinen Bauhof bei
Garlenda verschwunden.
Bernhard Kleiner waren die stimmungsmäßigen Veränderungen seines neuen
Bekannten nach dem euphorischen Zwischenhoch durchaus nicht verborgen geblieben,
aber so sicher war er sich, dass Goerz ihm eines Tages erklären würde, was
geschehen war, dass er nicht neugierig war. Noch waren sie beim Umgang
miteinander zur Sicherheit distanziert beim Sie geblieben.
Kleiner
hatte Goerz genauestens studiert, ehe er langsam begann, ihm zu vertrauen. Ihm war aufgefallen, dass dessen
augenscheinliche Interesselosigkeit im näheren Umfeld in erster Linie den
deutschen Landsleuten auf dem Zauberberg galt. Bei den Italienern war das
anders. Lucca, Enzo und die anderen mit Bernhard in die Jahre gekommenen Spießgesellen
der ersten Zeit in Castellinaria hatten
„Il Rullo“, die Dampfwalze, sofort in ihr Herz geschlossen. Sie nannten
Goerz wegen seiner bisweilen plattmachenden Herzlichkeit ihnen gegenüber und
natürlich auch wegen seiner Figur so. Bernhard beschrieb Traute die Art, wie
Goerz, sich so schnell auf neue Bekannte oder alte Antipathien einstellte, als
sie einmal an der Kasse im Supermarkt standen:
Die Kassiererin zog Produkt um Produkt stoisch über das Scannerfenster.
Erst wenn eines keinen Signalton von sich gab, widmete sie ihre Aufmerksamkeit
ganz individuell dieser Ware. Dann tippte sie die Zahlen des Strichcodes ein
und schickte sie auf dem Laufband hinterher. Manche Produkte - meist selten
ausgewählte aber auch besonders neue wurden dann per Aufruf durchs Mikrofon
ausgezeichnet an die Kasse nachgeliefert. Die nicht derart standardisierten
Stücke gingen in einen besonderen Korb. Bernhard wies auf das Scan-Fenster:
„Ich glaube der Goerz macht das mit Menschen genauso. Er scant sie und
bevorzugt die, die nicht gleich per Strichcode ihren Euro-Preis zu erkennen
geben. Wir sind wohl bei ihm in diesem Sonderkorb gelandet. Anders wäre das bei
unserer Unterschiedlichkeit ja kaum zu erklären.“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen