War der Lenz durch sein Unwesen doch so etwas wie ein Katalysator für
Castellinaria gewesen – oder eher eine Art Reaktionsbeschleuniger?
Indem er sich nicht ganz freiwillig von
dem Burgberg zurückzog, öffnete er den Wegelagerern, die an den Geldflüssen des
neuen Europas lauerten, jedenfalls ein weiteres Feld. Eine zweite, diesmal viel
breitere Invasionswelle von Spekulanten rollte nun auf die höher gelegenen
Bergdörfer Liguriens zu. Sie erfasste vor allen auch das durch die neue
Schnellstraße im Tal dem Meer näher gerückte Castellinaria
Das Jahrzehnt der Habgier hatte zur Jahrtausendwende und bis zum
Anschlag auf die Twintowers des World Trade Centers einen sich selbst
erhöhenden Menschenschlag von Gewinnlern, Spekulanten und Raffern in die
schönsten Regionen des alten Europas geschwemmt. Sie nutzten vor allem die Gier
der Neureichen, die ihr langes kommunistisches Darben hinter dem Eisernen
Vorhang mit einer Art Hochgeschwindigkeitskapitalismus wett zu machen hofften.
Über Nacht waren die in der Lage, jeden Preis für aufgestaute mediterrane
Träume zu bezahlen.
Das westliche Ligurien, das nach den beiden Weltkriegen irgendwie im
Windschatten diverser Wirtschaftswunder weitgehend unbeschadet ausgeharrt
hatte, geriet nun auf einmal auf die Landkarte spekulativer Begehrlichkeiten.
Die Toskana war zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend abgegrast. Die Cote D’Azur
- vor allem zwischen Nizza und Menton –
durchbrach bereits die ökologisch vertretbare Bebauungsdichte, also schwappte
das Geld nun ins Hinterland von Bordighera und Sanremo und begann den
küstennahen Blumen- und Gemüsegürtel in Richtung Imperia zu verdrängen.
Der große Rahmen der Veränderung war beispielhaft am alten Hafen von Imperias Ortsteil Oneglia fest zu machen:
Im Jahr 2000 vermittelte er noch den morbiden Charme des
Industrie-Zeitalters. Wie Urzeittiere standen die auf Schienen beweglichen
Riesenkräne an den Kais und die Gleise des Güterverkehrs führten noch direkt zu
ihnen hin. Gebraucht aber wurden beide kaum noch. Große Frachter legten schon
längst nicht mehr an. Den kleinen Kümos, die Oliven-Schrot zum Verschneiden des
ligurischen Öls aus Nordafrika herüber
brachten, reichten die zwei restlichen Kräne…
2007 lagen bereits die ersten Millionen-Jachten Bug voraus am Pier.
Angedockt an ultra modernen
Versorgungseinheiten und mit unmittelbarem Blick auf die renovierte und in
vielen neuen Farben erstrahlende historische Häuserfront, in der die
einfacheren Appartements nun ab 300 000 Euro aufwärts kosteten. Eine
wunderschöne „zona divertimento“ war
aus dem alten Hafen geworden und veränderte das vergnügliche Leben in dieser
Stadt, die bis dahin eher das hässliche Entlein im Reigen der ligurischen
Küstenorte war.
Der kleinere Rahmen der Veränderung wurde 600 Meter höher rund ums Kastell
von Castellinaria gezogen: Allerdings vollzog sich der Wandel der Zeit dort mit
mehr Zeit beim Wandeln. Denn je länger es dauerte, desto mehr Gewinn versprach
bei den rasant steigenden Preisen unten das umsichtige Engagement oben. Auch die restlich
verbliebenen Ruinen des Ortes erfuhren daher nun nach und nach ihre
Wiederauferstehung als kapriziöse Wohnobjekte. Wobei gar nicht mehr zählte, ob
die Gemäuer einst jemals als Wohnraum für Menschen gedacht gewesen waren.
Ehemalige Tierställe, Speicherräume für die Olivennetze und die leeren Glasflakons
avancierten über Nacht zu romantisch rustikalen Ferienwohnungen. Ja sogar der
örtliche Ölmüller, der Frantoio, gab sein verwinkeltes, mittelalterliches
Bogengewölbe auf, um einem aufstrebenden Künstler stilvoll und preislich
absolut überzogen Wohnung und Atelier zu bieten.
Gegen die neuen Bauherren hatte vergleichsweise sogar der Lenz noch
einen gewissen Ethos bei der Renovierung gehabt. Die Devise der neuen
Spekulaten war es, schnell zahlungsbereiten Sonnen-Sehnsüchtigen eine Art
potemkinsches Dorf vorzugaukeln. Wie sehr sich die Geschichte im zaristisch russischen
Sinne wiederholte, sollte das vorläufige Ende dieser Geschichte noch zeigen.
Eines Tages war nach Jahren der Abwesenheit „la Dottoressa“, die Dröse
also, wieder mit einem schicken Mann an der Hand zur Piazza hinauf gestöckelt. Sie
hieß jetzt allerdings nicht mehr Dröse,
sondern Gogel. Aber der Spitzname „la dottoressa“ blieb ihr noch eine Zeit
lang, obwohl sie nie eine Uni von innen und „akademische Grade“ allenfalls auf
diversen Liebeslagern beim Ausüben seltener Körperstellungen erworben hatte. Das
alte Prinzip „was du dir erheiratest, musst du dir nicht erarbeiten“ hatte sie jedenfalls
erneut mit zusätzlichem, krisenfestem Wohlstand versorgt. Zu dem trug nämlich
ihr neuer, fast ein Jahrzehnt jüngerer Prinzgemahl mit der Kaltschnäuzigkeit
einer just beendeten internationalen Banker-Karriere bei.
Patrik Gogel sah die Piazza und das hufeisenförmige Ensemble rund um die
Fontana, und sein Midas-Blick verwandelte es vor seinem geistigen Auge in pures
Gold: die Rudimente vom Castell mit dem gegenüber liegenden Haus der
„Francesa“, die Metzgerei aus dem vorvorigen Jahrhundert samt Zerwirkgewölbe
und die dazwischen gequetschte Kapelle. Innerhalb von Sekunden hatte er die
Summe im Kopf, die er noch herausschlagen würde, selbst wenn er seiner Königin
quasi als Abfallprodukt auch wieder eine neue, hochherrschaftliche Residenz – diesmal
aber am Meer - kaufen würde.
Die ehemalige „dottoressa sesso“ jedenfalls war nun voller
Inbrunst und Leidenschaft Bankiersgattin Gogel. In Erkenntnis eigener
fortschreitender Reife hatte sie sich, um den Altersunterschied auszugleichen, in
diesen Jahren einen gewagten Farb-Code verschrieben. Eine Vorliebe für den
Farbton Purple sollte visuell das anregen oder erregen, was die unsichtbaren
und immer noch reichlich verschütteten Botenstoffe nun nicht mehr so hergaben.
Obwohl sie dazu auch noch signalisierte, vollen Körper-Einsatz leisten zu
wollen, blieb allen außer Patrik Gogel nicht verborgen, dass das ganze immer
mehr zu einer Parodie auf Laszivität geriet.
Halt, das stimmt nicht ganz. Johannes Goerz, der sie ja nicht von früher
kannte und - gleich alt – die Tragik nachlassender sexueller Attraktivität am
eigenen Leib nachvollziehen konnte, fuhr vom ersten Blick voll auf sie ab. Er
nannte sie unpassend My Purple Heart,
schenkte ihr CDs von Deep Purple und ein Video von „Jimmy plays Monterey“ auf
dem Hendrix die lange Version von Purple Haze zum Besten gab. Die purplefarbene
Gel-Frisur, die langen, künstlichen Finger- und Fußkrallen sowie dazu passend
Lippenstift und hauchzarte Jeans aus Satin oder Saffian im gleichen Farbton
lösten bei dem Schreiberling auch noch ganz andere vorpubertäre Reaktionen aus.
Gogel, der Goerz aus gemeinsamer beruflicher Vergangenheit kannte, boten
diese jedenfalls die Initialzündung für
ein Bomben-Geschäft. Er nutzte das Überreizen seiner welkenden Venusfalle,
indem er sie noch einmal zu voller Blüte anstachelte. Obendrein hatte Frau
Gogel aber nicht nur ein Händchen, oberflächliche Verschönerungen an der
eigenen Person vor zu nehmen. Was sie mit wenigen Tricks aus dem Haus der „Francesa“
bis zum Ablauf der Spekulationsfrist gemacht hatte, war innenarchitektonische
Bauernfängerei vom feinsten. Goerz, der die Trennung von seiner Familie gerade
hinter sich hatte und dessen offene Wunden eines über Nacht von Geschäfts- und
Vertragspartnern brutal herbei geführten Buyouts nicht verheilen wollten, war
zudem ein willfähriges Opfer.
Er war einen Sommer lang von Port Bou an der spanisch-französischen
Grenze nach Porto Venere am Ende der Cinque Terre entlang des Mittelmeers gereist, um sich in selbstmitleidiger
Larmoyanz einen Platz zu suchen, an dem er sterben wollte. Als ihn Gogel am
Handy erreichte, war er schon dabei, unverrichteter Dinge in eine Heimat ohne
Heim zurückkehren:
„Suchen Sie immer noch ein Haus im Süden?“
„Ja. Allerdings wollte ich gerade aufgeben.“
„Wo sind Sie denn im Moment?“
„In Porto Venere am Hafen. Preise haben die hier!“
„Was wollten Sie denn anlegen?“
„Na ja, maximal 300 000 Mark. -
Renovierung und Umbauten inklusive!“
„Bei unserem Haus könnten Sie ohne weiteres sofort einziehen.“
„Wieso wollen Sie denn verkaufen?“
„Meine Frau will unbedingt einen Garten. Ein älterer Herr verkauft sein
Haus hier am Ortsrand - eine Gasse weiter. Wir wären Nachbarn. Schauen Sie
sich’s an! In weniger als drei Stunden könnten wir hier auf unserer Terrasse
bei einem eiskalten Vermentino den Sonnenuntergang genießen. Mit dem
Preis werden wir uns dabei sicher einig.“
„Wo sind Sie denn?“
„In Castellinaria oberhalb von Imperia. Mitten in einem Kastell umgeben
von endlosen Olivenhainen. Es wird Ihnen die Sprache verschlagen.“
„Castellinaria? Heißt das nicht sinngemäß Luftschloss? – Wenn das mal
kein böses Omen ist…“, lachte Goerz mit
überzogener Heiterkeit.
Gogels Kalkül ging auf. Die spektakuläre Aussicht von seiner Terrasse
über vier Täler und ein Dutzend noch
tiefer gelegene Bergnester knockte Johannes Goerz an. Der Anblick von
Frau Gogel jedoch schickte ihn sinnbildlich auf die Bretter. Diese
kaschierende Verplankung der Terrasse hatte die Purple Lady eigenhändig frisch
schwarzbraun lackiert, um davon abzulenken, wie marode der Freisitz in
Wirklichkeit war. Das Schwarzbraun kontrastierte obendrein genial ihre
Purple-Aura.
Anfang September saßen sie schon zu Dritt beim Notar, wo 150 000 Mark –
der verbriefte und später ermittelte, tatsächliche
Wert – in Form von registrierten Bankschecks über den Schreibtisch gingen. Als
der Notar kurz mal auf Toilette ging, ließ Gogel weitere 140 Tausender in seinem
Aktenkoffer verschwinden. Goerz hatte sie ihm, in der Auffassung ein gutes
Geschäft gemacht zu haben, nach tolerierter, alter italienischer Steuer-Sitte bar - und für
Gogel natürlich schwarz - mitgebracht.
Am 11. September flogen die
Flugzeuge ins World Trade Center. Am 12. November kam ein Kälte-Einbruch und es
begann zu regnen; vier Tage wie aus Eimern. Die angeblich neue Gasheizung gab
ihren Geist auf. Wasser brach über die Terrasse und das Treppenhaus ins
Esszimmer und riss die halbe Decke samt der Verschleierung aus billigem Samt
mit sich. Ein Wasservolumen von einem Dutzend randvoller Badewannen musste aus
dem Stockwerk geschöpft werden. Von den ungezählten Litern, die in die neunzig
Zentimeter dicken Trockenmauern eingedrungen waren ganz zu schweigen. Aber
dabei konnte Johannes Goerz auch entdecken, dass die dekorativ gebogenen und
ziselierten, schmiedeisernen Vorhangstangen unter den Saal hohen Decken in
Wirklichkeit an den Enden gold lackierte, schwarz angemalte Armiereisen waren.
Zu Weihnachten gab es passend auch noch ein sakrales Erlebnis. Als der
Autor im Rundgewölbe seines Arbeitszimmers ein Regal aufhängen wollte,
brach eine Teller große, vielschichtige Scholle Putz aus der Wand. Dahinter
trat deutlich ein altes Fresko mit christlichen Motiven ans Tageslicht. Goerz war kein Experte, wie alt und wichtig es sein mochte. Aber italienische
Denkmalschützer, die seine mittelalterliche Bruchbude nach geltendem Recht auf
seine Kosten okkupieren konnten, bis die Provenienz gesichert war, wollte er sicher
nicht konsultieren. Der Hand eines heiligen Mannes folgten unter seinen
wütenden Hammerschlägen ein Stück Heiligenschein, der Turm einer brennenden
Kirche, sowie ein Fluss mit Kähnen drauf. Und von der Gewölbedecke fielen einige Engel aus
einem überputzten, blauen Himmel oder ließen brüchig Federn. War das in den
Anfangsjahren des Gemäuers vielleicht die Hauskapelle gewesen? Ein vermutlich
unwiederbringlicher Schatz ging da Schlag auf Schlag verloren. Selbst den
erklärten Agnostiker Johannes Goerz
überkam bei seinem Tun und aller Wut auf die Gogels massiv das schlechte
Gewissen.
Und dann galt ab 1. Januar 2002 der Euro…
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