Spitznamen können
schrecklich sein. Manchmal sind sie auch noch schrecklich zutreffend. Um den
Mann, den sie Mulo, Muli oder das Maultier nannten, rankten sich viele
Legenden. Die ehrabschneiderischste war
die, die sich an der Zoologie anlehnte: Mulos Vater sei eben der "geile
kleine Esel" gewesen, der die schönste und größte Pferde-Stute im Dorf geschwängert
habe. Die ehrfürchtigste wurde über seinen Weg in den Westen verbreitet:
Als die Guardia Costiera den mit albanischen
Flüchtlingen überladenen Fischerkahn in einer stürmischen Winternacht vor
Brindisi aufgebracht hatte, habe sich das Maultier in einem unbeobachteten
Moment mit einem hufeisenförmigen Rettungsring über Bord gestohlen. Der Ring
sei noch nicht einmal groß genug gewesen, um über Mulos Nacken zu passen, damit
sein Kopf nicht unter Wasser geriet. Er habe nur seinen Hinterkopf drauflegen
können, hätte seine überlangen Arme zur Toter-Mann-Lage ausgebreitet und sei
auf diese Weise die ganze Nacht im kalten Wasser herumgetrieben, bis ihn eine
gnädige Welle an Land gespült habe. Das sei bei Bari gewesen. Neun Monate hätte
er sich tagelöhnernd von Ort zu Ort immer dort verdingt, wo seine gewaltigen
Körperkräfte von Nöten gewesen seien. Eines Tages sei er dann gar nicht
überraschend bei einem legal als Maurer an der Ponente lebenden Vetter
aufgetaucht, hätte ihm das unterwegs verdiente Geld wortlos in die Hand
gedrückt, und es sei genug gewesen, um die kleine Baufirma bei Albenga zu
gründen, die sie nun seit einigen Jahren gemeinsam betrieben.
Die
furchterregendste Version der Maultier-Legende war jedoch die: Mulo sei ein
kosovarischer Killer, und seine Existenz als Bauarbeiter nur eine Tarnung für
seinen Blutjob. Den Spitznamen Mulo hätte er von seinen Auftraggebern bekommen.
Wegen der sturen, unbeirrbaren und ausdauernden Weise, mit der er seine Hits zu
arrangieren pflegte.
Zwar gab Mulo den
Gerüchten keine weitere Nahrung, aber Legenden haben eben ihr Eigenleben, und
das wurde durch den Umstand noch angeregt, dass sich der Albaner auf den
Baustellen mit selten mehr als einem Dutzend Worten pro Tag aus einem
ligurisch-albanischen Vokabular artikulierte.
Als der Autor Johannes
Goerz den legendären Mann zum ersten Mal sah, stand dieser gerade ungesichert
in 13 Meter Höhe auf der Terrassenmauer in einem Teil des mittelalterlichen Hauses,
das sich der Deutsche zu seiner Ruhestandsresidenz umbauen ließ. Das Maultier
wuchtete Hand über Hand eine Palette Bodenfliesen aus der Gasse hoch, obwohl es
in Armlänge von ihm einen Flaschenzug gab, der ihm die Arbeit hätte erleichtern
sollen. Als Goerz zu ihm auf die Terrasse kam, sah er das Malheur. Das
angeblich strecksichere Bau-Seil, das er in den Zug eingelegt hatte, hing
überstreckt zwischen den Blöcken und ringelte sich wie Schillerlocken die Wand
hoch. Der Schrat musste es mit einer Tonne oder mehr belastet haben... In dem
Moment, in dem er die Palette über die Mauerkrone schwang, als handele sich um
ein Geschenkpaket, blinzelte Mulo Johannes aus einem Auge seines schräg
gestellten Kopfes zu und gab einen grinsenden Grunzlaut von sich. Die
Ideal-Besetzung für einen Quasimodo, schoss es Johannes Goerz durch den Kopf, aber
er sollte sich gründlich irren.
Wenige Wochen vor
dieser denkwürdigen Begegnung war der Autor, der bis dahin selbst gern die
Muskeln hatte spielen lassen, von irreparablen
Herzrhythmusstörungen heimgesucht worden und knapp an seinem ersten
Schlaganfall vorbei geschrammt. Unter starken Medikamenten versuchte er, sich
in die Nähe seiner alten Form zu bringen, aber für die richtig harten Sachen
brachte sich eben von nun an ohne viel Worte das Maultier ein. Mitunter kam er
allein von einer anderen Baustelle, um zu helfen oder etwas fertig zu machen,
und dann ergab es sich, dass die beiden
so unterschiedlichen Männer bei einem Bier in der Abendsonne saßen oder
schweigend gemeinsam eine Pasta-Mahlzeit spachtelten, die Johannes ihnen zubereitet
hatte. Da der Blick des Urwesens immer freundlicher und offener wurde, fasste
Johannes eines Abends den Mut, eine Art Konversation zu beginnen: In seinem
einfachen Italienisch machte er seinem Gegenüber klar, dass für Deutsche der
Spitzname Maultier oder Muli eher eine Beleidigung darstelle. Er wollte ihn bei
seinem richtigen Namen nennen. Nein, Johannes hatte nie den Eindruck, es mit
einem Debilen zu tun zu haben, aber er war doch einigermaßen überrascht, als
sich in das Gesicht seines Gegenübers beim Zuhören ein aufgewecktes Lächeln
schlich. Er heiße Sali Besnik, und es sei ihm eine Ehre, meinte der Mann, den
sie Mulo nannten. Das war der erste ganze Satz ihrer Kameradschaft, die sich
dennoch zunächst einmal nur stillschweigend weiter entwickelte.
Eines Tages musste der
körperliche Arbeit nicht sonderlich Gewohnte bei einer Säule mit anpacken, die
über eine enge Treppe hinauf sollte. Und obwohl Sali als Untermann den
Löwenanteil des Gewichtes auf sich nahm, geriet Johannes durch das Tragen vor der
Brust und die erzwungene Pressatmung offenbar in eine Art Sauerstoff-Defizit.
Genau das, wovor ihn die Ärzte nachdrücklich gewarnt hatten. Es gelang ihm
gerade noch, die Säule abzusetzen, ehe er in eine kurze Ohnmacht fiel. Als er
aufwachte, spürte er den Kopf des Albaners auf seiner Brust. Er horchte in Ihn
hinein und schaute dann mit einem eindeutig geschulten Blick in die benommenen
Augen von Johannes.
"Du bist ein
Arzt! Sali?"
"Das Problem
sind nicht die Arhythmien, mit denen könntest du hundert Jahre werden. Das
Problem ist dein hektisches Atmen. Das bringt dir den Sekunden-Tod, wenn du dir
nicht eine Atemkontrolle
antrainierst."
Goerz war zwar noch konfus, aber nicht so sehr, dass er nicht
gemerkt hätte, dass der Mann - mit einem guturalen Akzent zwar - Deutsch
gesprochen hatte.
"Wer bist
du?"
"Ich war mal Dr.
Sali Besnik. Jetzt bin ich il Mulo. Ich weiß, du bist ein Geschichten-Erzähler,
aber die Geschichte, die ich dir erzählen könnte, würde keiner glauben. Also
lassen wir es besser."
Für eine Weile sahen
sich die beiden nach diesem Outing nicht mehr.
Aber auch der ehemalige Reporter
erzählte aus einer Eingebung heraus - quasi im Hinblick auf einen nicht
vereinbarten Quellenschutz - niemandem von
dem Erlebten. Er hatte aber im Internet gestöbert. Mit diversen Suchbegriffen
hatte er versucht, einen Zeit- und Ereignisraster zu konstruieren, denn schon
bald war ihm klar geworden, dass es zwar diverse Sali Besniks gab, aber keinen,
der annähernd deckungsgleich mit dem Signalement des Mulis war. Auch indem er
die Legenden, die sich um Mulo rankten, in Suchbegriffe zerlegte, landete er
keinen Treffer. Der Mann war zwar deutlich jünger als er selbst, aber er war
alt genug, dass er noch unter der finstersten kommunistischen Regierung Europas
studiert haben musste. Das Deutsch hatte er vermutlich bei Gastsemestern oder
als Assistenzarzt in der ehemaligen DDR gelernt.
Dann hatte auf
einmal alle Spekulation ein Ende, weil Mulo eines Abends vor der Tür stand.
Eine Flasche Grappa und eine Tüte frische Focaccia
unterm Arm:
"Irgendjemand
muss ich es ja mal erzählen. Sie sind schon hinter mir her, um mich
umzubringen. Meine Leute sind ja alle tot,
aber mein Vetter mit seiner Familie hängt noch mit drin. Aber du wirst
wissen, wie du mit dem Wissen umgehst. - Du könntest meine Geschichte eines
Tags vielleicht verwenden. Ich würde nicht umsonst gestorben sein und ein paar
bekämen dann vielleicht mal selber
Angst. Ich war ein..."
An jeder Legende
haftet ein Teil der Wahrheit. Diese Erkenntnis gewann Johannes in jener Nacht.
Der Vater vom Muli war zwar klein gewesen, aber längst kein Esel. Er war
Bibliothekar und trotz aller Repressalien hatte er als orthodoxer Christ
gelebt. Seine Furchtlosigkeit hatte ihn zum Ankerplatz einer intellektuellen
Opposition gemacht, und da viele Kinder
aus Familien der Nomenklatura Tiranas sich darin gefallen hatten, Ilja
Ehrenburgs "Tauwetter" oder Boris Pasternaks "Dr. Schiwago"
zu diskutieren, waren diese Kreise relativ unbehelligt geblieben. Gefährlich
war es erst geworden, als eine üppige hoch aufgeschossene, honigblonde
Kosovarin regelmäßig zu den Treffen gekommen war. Wie viele körperlich kleine
Männer war der Bibliothekar urinstinktiv den ausladend einladenden Reizen der Studentin
erlegen und er träumte fortan geradezu besessen davon, sein Denkerhaupt auf
immer zwischen diesen gewaltigen Brüsten zur Ruhe zu betten. Doch die
Rubensschönheit, die ihn nicht nur um Haupteslänge überragt hatte, sondern auch
Muslima war, wurde von eigenen Tugendwächtern, nämlich ihren vier äußerst
aggressiven und gnadenlosen Brüdern observiert... Furchtlosigkeit - vor allem,
wenn man körperlich nichts zuzusetzen hat - zehrt aus. Der Muli sollte nie
erfahren, wie es sein Vater angestellt hatte, alle Hindernisse aus dem Weg zu
schaffen, um seine Mutter nicht nur zu heiraten, sondern ihn auch noch zu
zeugen. Denn der Beginn seiner Wahrnehmungsfähigkeit war mit dem Verfall jenes
kleinen, Brille tragenden Männchens zusammen gefallen, den er wohl mit den ersten
Worten Papa genannt hatte, der aber noch vor seinem dritten Geburtstag seinem Leberkrebs
erlag.
Es war nach dem Tod
seines Vaters nicht zu der tragischen Kindheit gekommen, die gemeinhin zu
erwarten gewesen wäre. Ljuba, seine Mutter, hatte seinen Vater so geliebt, dass
sie nie wieder heiraten sollte. Aber sie hatte die Männer gut genug studiert, um mit dem Fetisch ihres
Körpers auf die meist kleinwüchsigen Machtneurotiker ihres Landes Einfluss zu nehmen.
Als in Deutschland die Mauer fiel, war sie gerade die Lebensgefährtin des
albanischen Botschafters in „Berlin, der Hauptstadt der Deutschen
Demokratischen Republik". Ihr Sohn stand in Jena kurz vor dem Facharzt für
Kardiologie.
Wie schnell das
damals gegangen war: Die Genossen waren im wieder vereinten Deutschland über
Nacht zu unbequemen Gästen geworden. Gerade noch politisch hofiert, war ihnen
unmissverständlich nahe gelegt worden, in ihre trotz freier Wahlen noch zwei
weitere Jahre im Kaderkommunismus verharrende Republik zurück zu kehren.
Il Mulo hatte das
getan, was er bei Veränderungen am liebsten tat. Er stellte sich stur und
konzentrierte sich auf seine Berufung als Arzt. Ljuba war ebenfalls beim
bewährten Rezept geblieben und leistete erneut vollen Körpereinsatz.
Gleichzeitig mit der ersten demokratischen Regierung Albaniens hatte sie es
wieder einmal an die Spitze geschafft. Man nannte sie nur noch die
"Prinzessin der Pyramiden". Damit waren nicht die von Ägypten
gemeint, sondern jene Kapitalanlage-Modelle, die den gerade mal aufkeimenden
Wohlstand in der albanischen Bevölkerung durch unsaubere Machenschaften auf
nimmer Wiedersehen abschöpften. Am zweiten Tag des so genannten
"Lotterie-Aufstands" drangen aufgebrachte Menschen im Morgengrauen in
die Strandvilla eines der verantwortlichen Bankiers und erschlugen ihn in
seinem Bett. Ljuba, die neben ihm lag, wurde auf die Straße gezerrt und
schließlich auf obszöne Weise vor den Augen aller geschändet. Sie erlag ihren
inneren Verletzungen ausgerechnet in dem Krankenhaus, in dem ihr Sohn als
Stationsarzt Bereitschaftsdienst hatte.
Der nicht mehr
einzudämmende Wortschwall, mit dem Il Mulo Johannes sein Leben geschildert
hatte, endete mit Tränen, die dieses Urtier von einem Mann geradezu grotesk erscheinen
ließen.
"Ich habe so
große Schuld auf mich geladen. Statt Leben zu retten und zu bewahren, habe ich
Leben ausgelöscht. Ich dachte, die harte körperliche Arbeit könnte mich
läutern. Mein Gewissen abstumpfen. Aber ich wollte so gerne wieder einmal
Deutsch reden, und dann kam dein Schwächeanfall. Plötzlich war er wieder da,
der Arzt - verstehst du? Und damit das Grauen.“
Es vergingen nach
dem ergänzenden Bekenntnis, erneut viele Tage, in denen Johannes wieder nichts
vom Maultier hörte. Und dann kam es - von den meisten kaum beachtet - in den RAIregionale-Nachrichten.
Ein Fischer hatte
mit seinen Stellnetzen vor dem Capo Berta einen Mann aus dem Meer gezogen. Der
Mann sah so entspannt und zufrieden aus, dass die Behörden an einen betrunkenen
Bade-Unfall geglaubt hatten. Die Obduktion bestätigte zwar, dass der Mann
ertrunken war, aber eben an flüssigem Marmorkleber. Es war der Mann, den
sie il Mulo genannt hatten...
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