Castellinaria Kapitel 6
Bernhards wunderbare Jahre auf Rügen
waren auch die Zeit des Aufstiegs eines Mannes zum ganz großen Sportstar der
DDR. Gustav-Adolf Schur, genannt „Täve“, war durch seine Leistungen auf dem
Rennrad zu einem Vorreiter der kommenden Sport-Supermacht geworden und als
erster noch aktiver Weltmeister 1959 in die Volkskammer eingezogen.
Bernhard wurde nicht „Täves“ ultimativer Fan wegen der vielen Siege und
dessen tadelloser Haltung als Sportsmann, die später im Exil der Schriftsteller
Uwe Johnson (Mutmaßungen über Jakob) literarisch manifestiert hatte. Vielmehr
entdeckte er in der Geradlinigkeit des
politischen Athleten sehr viel von seiner eigenen Einstellung zum selbst
ernannten Arbeiter- und Bauernparadies:
Wenn einer an einer Sache grundsätzlich mitarbeiten will, auch wenn
einem da Auswüchse sauer aufstoßen, dann muss er dort, wo er anpackt, das Maul
aufmachen. Das tat der „Täve“ (übrigens auch noch als er nach der
Wiedervereinigung bis 2002 als sportpolitischer Sprecher für die PDS im
Bundestag saß), und deshalb schwang sich Bernhard quasi solidarisch aufs
Rennrad.
Man hatte den „Ruinen-Bernd“ als Einzelkämpfer mit der Maurerkelle
überall auf der Insel zu aufgelassenen Herrenhäusern und Villen geschickt. Die
SED und ihre diversen Unterorganisationen hatten auf einmal auch einen enormen
Bedarf an Schulungszentren sowie Sport- und Erholungsheimen. Zum Teil waren die
so entlegen, dass er bei Eiseskälte und ohne bereits wieder funktionierende
Installationen regelrecht in ihnen kampieren musste.
– Er war also mit seinen verqueren politischen
Ansichten erst einmal aus dem Weg. Denn ohne fahrbaren Untersatz war er
deutlich isoliert von Kollegen, die seine Ansichten hätten teilen können. Aber
als Held der Arbeit mit 10 000 Mark in der Tasche kam er trotzdem schneller an
so einen Renner – wie ihn der „Täve“ fuhr - als der Rest der Bevölkerung. Der musste
bei den nun durch die spontane Nachfrage provozierten Engpässen der
VEB-Fahrradproduktion zum Teil erst einmal Bezugsscheine für einfachste
Drahtesel erwerben. Bernhard jedoch erhielt sein Velo, das bis ins Detail dem
seines Idols entsprach, direkt von der elitären Sportgeräte-Schmiede im Umfeld
der Leipziger Sportfakultät und war mit ihm wieder zurück in der
Polit-Agitation.
Von da an sah ihn die Inselbevölkerung egal ob bei Gluthitze, bei steifem Wind oder splittrigem Frost zu
diversen Baustellen über das kupierte Gelände Rügens düsen. 30 Kilometer nach
dem Frühstück von seiner nun festen Unterkunft in Gustow zur Arbeit und abends auf Umwegen über die Genossen zurück
waren keine Seltenheit. Aber jetzt war ihm zu Raum und Zeit auch die Kraft
gegeben. Und die wuchs noch mit jedem geradelten Kilometer.
Dem Streckenschwimmen, seiner zweiten Leidenschaft, frönte er, so bald
die Wassertemperatur der Ostsee im Sund über 16 Grad lag. – Auch da
interessierten ihn die übrigen Wetterbedingungen dann nur beiläufig.
Er war zu einer testosteronträchtigen, nahtlos gebräunten Augenweide für
Freunde der Körperkultur mutiert, als er sich für den Juli 1960 zum
Sundschwimmen anmeldete. Das älteste deutsche Langstrecken-Schwimmen über 2,3
Kilometer von Rügen über den Strelasund nach Stralsund hinüber schien ihm der
richtige Test für sein neues, ganz persönliches Kontinuum zu sein. Er hatte
sich lediglich vorgenommen, die Strecke in etwa dreißig Minuten zu schaffen.
Wie er dann unter den tausend Mitschwimmern abschnitt, war ihm eigentlich egal,
denn er war ja kein registrierter Wettkampfschwimmer – eher ein
Gentleman-Sportler.
Für ihn wurde dann nach einem mühelosen Schwimmspaß über die
spiegelglatte Meerenge tatsächlich eine Zeit von 30 Minuten 22 Sekunden
registriert, was ihn vor allem wegen seiner richtigen Selbsteinschätzung durchaus befriedigte. Er konnte nicht ahnen,
dass ihn seine sportliche Leistung nach der Urkundenverteilung bei der
abendlichen Tanzveranstaltung in eine neue, gänzlich andere Dimension seines
Lebens stoßen würde.
Bernhard hatte – kaum zu erstem Geld gekommen – in dem spießigen Umfeld
des DDR-Alltags begonnen, ein besonderes Augenmerk auf gute und Stil sichere
Kleidung zu legen. Ausgerechnet der KPD-Opa war hierfür die Initialzündung
gewesen, denn der organisierte von Strausberg aus auf höhere Anweisung Reisen
zwecks Meinungs- und Gedankenaustausch im Sinne der Sozialistischen
Internationalen. Es lief im Wesentlichen darauf hinaus, dass ausgewählte und
verdiente deutsche KP-Veteranen auf Einladung nach Italien oder Frankreich verbracht
wurden, um sich vor Ort einen Eindruck davon zu verschaffen, wie die Genossen
unter den kapitalistischen Bedingungen – beispielsweise denen des italienischen
Wirtschaftswunders - ihre Ziele verfolgten. Auf Gegeneinladung sollten die
italienische Socii und die französischen Copains sich dann
propagandaträchtig darüber vergewissern, wie viel toller dies unter den
Paradigmen des real existierenden DDR-Sozialismus funktionierte – oder auch
nicht.
Die Berichte des Großvaters über den „Spaghetti-Kommunismus“ eines
Palmiro Togliatti oder über den sozialistischen Jungstar Enrico Berlinguer
hatten bei Bernhard wohl erstmals die (häufig wohl auch genetisch veranlagte)
Sehnsucht nach dieser Leichtigkeit des Lebens im Süden aktiviert; die Sehnsucht im goethischen
Sinne nach „dem Land, wo die Zitronen blühen“ war es jedenfalls nicht. Die
abgebildeten Genossen der PCI in ihrem Parteiblatt „L’Unita“, das dem KPD-Opa
wegen der Berichte über seine Reisegruppen gelegentlich geschickt wurde,
machten einen so gänzlich anderen Eindruck als die stets verknöcherte Riege der
DDR-Führung. Berlinguer wurde in seinem Charisma eindeutig von der lässigen
Eleganz seiner Kleidung gestützt, was selbst im miesen Druckraster zu erkennen war.
Kleider machen Leute. Dieser alte deutsche Spruch hatte in der DDR völlig
an Bedeutung verloren. Selbst die halbstarke und aufmüpfige DDR-Jugend, die sich in „Röhrenhosen“
genannte VEB-Jeans zwängte und sich Haartollen im Elvis-Stil kämmte, wirkte
irgendwie hilflos uniform. Das wollte Bernhard nicht. Er fand, Sozialismus und
Schick mussten sich nicht ausschließen, und sein Handwerk sollte ihn erst recht
nicht daran hindern, schnieke auszusehen.
Ein Freund von der Berufsschule hatte sich in Strausberg als Schneider „selbständig“
gemacht. Zu dem ging er und zeigte ihm die Fotos aus dem italienischen
Parteiorgan. Der „baute“ zuzüglich eigener Ideen die Anzüge, Hosen und Jacken
der italienischen Genossen nach und
wurde dadurch, dass die intellektuelleren Führungskreise später bei ihm
schneidern ließen, einer der wenigen erfolgreichen „privaten Unternehmer“ der
DDR…
Mag sein, dass Bernhard mit seinem Auftritt bei der Siegerehrung und
dem, was diesem folgte, so eine Art Anschub-Marketing für den Freund geleistet
hatte: Jedenfalls sprang er bei der Siegerehrung mit einem federnden Satz blond
und braun gebrannt in einem stahlblauen, zu seinen Augen passenden Maßanzug, auf
die Bühne. Es war die zweite Begegnung mit Otto Dudenhove.
Dudenhove war nicht nur Volkskammer-Abgeordneter, sondern er war als so
eine Art „Capo di tuti Capi“ für alle Bau-Kombinate in Mecklenburg zuständig.
Und der zu diesem Zeitpunkt natürlich
dort noch unbekannte Mafia-Ausdruck, der Bernhard später so geläufig werden
sollte, passt in der Nacherzählung wahrlich am besten, weil Dudenhove seinen
geplanten Aufstieg ins Politbüro durchaus mit den Mitteln eines Paten bestritt.
Charakterlich ein echter Eisbär mit entsprechendem Raubtier-Instinkt
schaffte es sein oberflächlicher Charme immer wieder, dass es seine Opfer erst
vor Angst fror, wenn er sie schon auf einer Eisscholle zum Verspeisen isoliert
hatte. Bernhard sollte es genau so ergehen. Die Eisscholle für Bernhard im übertragenen
Sinne des Wortes war Dudenhoves Töchterchen Käthe, die an diesem Abend Medaillen, Urkunden und Küsschen verteilte.
So lange war es noch nicht her, dass Bernhard „Held der Arbeit“ geworden
war, und die Tatsache, dass er zeitlich als bester nicht organisierter Schwimmer an die Spezialisten
heran geschwommen war, bot daher dem Politiker Gelegenheit zum Schwadronieren.
- Käthe und Otto wussten, wann sie Klasse vor sich hatten, die sie für ihre
Ziele nutzen konnten.
Während Otto also mehr blumige Worte zu Bernhard Kleiners
sozialistischer Vorbildfunktion fand, als für die Leistung der eigentlichen
Sieger des Sundschwimmens, winkte er die Fotografen herbei. Die schossen ein
Foto von den sich freundschaftlich umarmenden Männern, an die sich Käthe
drückte, als seien die Drei da schon diese spontan von ihr geplante DDR- Vorzeigefamilie:
Der verwitwete Spitzenfunktionär, seine Tochter als Studentin in einem
Männerberuf und der potenzielle Schwiegersohn, ein Maurer bäuerlicher Herkunft
mit dem Stern eines Helden der Arbeit dekoriert – und ein Schwimmstar wider
Willen.
Bis dahin hatte Bernhard – einmal abgesehen von ein paar
Maurer-Jungen-Abenteuern mit Mädchen, denen man im natürlich
prostitutionsfreien Sozialismus als Gegenleistung Gefälligkeiten erweisen
musste - keine Ruhe gehabt, um Frauen
kennen zu lernen. Sich an einem Ort länger als nötig aufzuhalten, um einer Frau den Hof zu machen,
wäre ihm niemals in den Sinn gekommen. Das sollte sich jetzt durch dieses Mädchen
ändern, denn Käthe war fest entschlossen, dem sozialistischen Muster-Mannsbild
Bernhard ein Kind zu machen.
Da Bernhard keine Ahnung von Frauen hatte und dem Phänomen der wahren
Liebe noch nicht begegnet war, hatte er natürlich auch erst recht keine Ahnung,
dass es zu deren edlem Ideal-Bild auch Varianten gab, die von Machtinstinkten
gesteuert wurden. Als ihm Käthe offen Avancen machte, war es um ihn geschehen.
Er verliebte sich in das mittelgroße Mädchen mit den streichholzlang
geschnittenen braunen Haaren, obwohl ihm der burschikose, knabenhafte Typ
eigentlich nicht so lag.
Käthe studierte Bau-Ingenieur in Rostock, und so wie Bernhard ein
Ideal-Mann nach DDR-Muster war, so entsprach Käthe der Vorstellung, wie Frau in
dem Arbeiter- und Bauernstaat zu sein hatte, wenn sie eine intellektuell
gesteuerte Führungsposition einnehmen wollte: eine linientreue Kaderideologin,
die keiner Aufgabe auswich, bei jeder Parteisitzung das Wort ergriff und sich
gerade soviel weiblichen Charme zugestand, dass sie auf Knopfdruck begrenzte
Begierde bei Kollegen auslösen konnte. Das geschah aber ausschließlich, damit sie ihre Ziele
leichter erreichen konnte.
Beim ersten Knutschen mit Bernhard dachte sie, um in Fahrt zu kommen, an
die Rundungen der etwas übergewichtigen Kommilitonin mit dem kantig slawischen
Gesicht, die das Zimmer im Studentenheim mit ihr teilte. Natürlich besaß sie
soviel Selbstkontrolle, dass sie dieser speziellen aber sicher
karrierefeindlichen Neigung niemals nachgegeben hätte. Es ist aber denkbar,
dass sie gerade deshalb sexuell so funktionell und offensiv bei Bernhard
vorgehen konnte, weil sie sinnlich eigentlich nicht bei der Sache war.
Bernhard merkte davon zunächst vor allem deshalb nichts, weil er umgarnt
und umsorgt wurde wie seit dem Tod seiner Mutter nicht mehr. Und auch die
Tatsache, dass ein so wichtiger Mann wie Otto Dudenhove ihn nicht nur wegen der
Liaison mit seiner Tochter wichtig nahm, gab ihm ein gutes Gefühl.
Dass der Funktionär ihn wieder nach Stralsund holte, weil er den jungen
Mann um sich haben wollte, ihn zudem in „seine Kreise“ einführte, schmeichelte beider
Eitelkeit. Bernhard stellte sich nicht einen Moment die Frage, wieso ihm
Dudenhove, in dessen Macht es ja gestanden hätte, nicht gleich Arbeit und Quartier im nur hundert Kilometer
entfernten Rostock vermittelt hatte. War es doch so offenkundig gewesen, dass
Käthe und er ein Paar waren und schon bald auch ans Heiraten dachten…
Aber dann war eben wieder „politischer“ Alltag. Die Tageszeitungen mit
den Aufmachern über den schwimmenden Helden der Arbeit waren beim Altpapier und
drohten in Vergessenheit zu geraten. Das konnte der Propaganda-Profi Dudenhove
natürlich nicht zulassen. Er sorgte also dafür, dass sein Schwiegersohn in spe
als „Fachberater“ kaum noch von seiner Seite wich. Er spielte dabei bewusst mit
dem Kontrast zwischen dem zivilen und dem handwerklichen Erscheinungsbild
seines Protegées und verschaffte sich mit diesem Trick selbst Kompetenz. Denn
tatsächlich hatte Dudenhove von den meisten Dingen am Bau keine Ahnung.
So wie Bernhards Fixstern der „Täve“ war, so hatte sich Otto Dudenhove
einen Mann als Orientierung für seine Karriereplanung erwählt, der etwa gleich
alt und noch smarter bei der Auslotung und Erschließung persönlicher
Geldquellen im real existierenden Sozialismus war als er selbst. Sie hatten
Berührungspunkte, weil der Mann als Vertreter des Außenhandels auch in einer
übergreifenden Baukommission saß: Alexander Schalck-Golodkowski.
Der aalglatte Karrierist, dessen Doppelspiel zwischen beiden deutschen
Staaten auch nach der Wiedervereinigung (wohl auf höhere Beeinflussung) bis
heute nie vollständig ausgelotet werden konnte, war eindeutig charismatisch,
kleidete sich da aber eher noch unvorteilhaft. Dudenhove, der sich von Bernhard
bald die Adresse des Strausberger Schneidermeisters hatte geben lassen, reichte
die flugs an sein Idol Schalck weiter, und es darf angenommen werden, dass die
beiden darauf hin eine Art geschäftliches Interesse aneinander pflegten. Jedenfalls
häuften sich in persönlichen Gesprächen mit Bernhard Sätze wie: Der Genosse
Schalck-Golodkowski hat das gesagt. Der Alex meint dies. Der Golo glaubt das…
Derweil radelte Bernhard an jedem freien Wochenende die hundert
Kilometer zu Käthe nach Rostock. Anfangs noch mit einem Rucksack, in dem die
„Ausgehkleidung“ verstaut wurde. Aber nachdem der KPD-Opa begonnen hatte, von
seinem Taschengeld aus Italien Felgen, Reifen, Naben, Zahnkränze und
Übersetzungen solcher Edelmarken wie Colnago und Campagnolo für seinen
radnärrischen Enkel mitzubringen, war Bernhard die Idee zu seiner „Zauberkiste“
gekommen.
Noch heute rätselt er, ob ihn schon da eine gewisse Ahnung dazu
getrieben hatte, die fehlerhafte rundeckige Aluwanne, die er bei einem
Zulieferbetrieb abgestaubt hatte, wasserdicht zu machen. Jedenfalls schuf der
Schrauber und Bastler Bernhard mit den zwei ausrangierten Rädern Leipziger
Bauart und einem zurechtgebogenen Lochblech-Profil als Deichsel einen
ultraleichten Radanhänger, der mit einer Persenning komplett abgedeckt werden
konnte. Die Konstruktion lief so leicht und verteilte den Druck trotz Zuladung
derart gut, dass es in der Ebene kaum zur Verlangsamung des Fahrtempos kam.
Bernhard hätte mit so einem „Buggy“ im Westen ein Vermögen machen können, zumal er bis zum Frühjahr 1961 noch diverse
Verbesserungen an seiner Erfindung vorgenommen hatte. Dann aber sollte die „Zauberkiste“
über Nacht eine gänzlich andere Bedeutung bekommen.
Schlag auf Schlag hämmerte das Schicksal Bernhard da einen anderen Kurs ein.
Es begann damit, dass Käthe sich Ende April schwanger fühlte und, was das
Heiraten anging, aufs Tempo drückte. Doch die Euphorie, die Bernhard durch
diese Verkündigung beseelte, erhielt einen Dämpfer durch ein denkwürdiges Besäufnis
mit seinem Schwiegervater in spe.
Am Abend des 1.Mai nach diversen Feierlichkeiten am Tag der Arbeit
hatten die zwei nicht aufhören können und waren noch mit einer Flasche Wodka auf
Bernhards Bude versackt.
Es ist keine besondere Erkenntnis, dass sich nüchterne Charaktere im Stadium der
Trunkenheit anders offenbaren. Während Bernhard zu den Typen gehört, die ruhig
und bedächtig werden, löste das Feuerwasser bei Otto Dudenhove einen
unerwarteten Hang zu einer ansonsten gnadenlos kontrollierten Extrovertiertheit.
Nie hätte er sich das gestattet, wenn er sich seines Schwiegersohns nicht schon
so sicher gewesen wäre. Auf einmal verfiel er nämlich genial in die nasale
Fistelstimme Walter Ulbrichts und hielt eine Ansprache, die bewusst und
deutlich konspirativ nur für die Ohren Bernhards bestimmt war:
„Maurer! Genossen in den Bau-Kombinaten! Es wartet eine große
vaterländische Aufgabe auf Euch. Die Partei, das Zentralkomitee und ich haben
gemeinsam mit unseren Genossen aus der glorreichen SU beschlossen, einen
Schutzwall gegen die permanenten US-imperialistischen Übergriffe zu errichten,
die sich vom Staatsgebiet der BRD aus auf die Souveränität unserer Deutschen
Demokratischen Republik richten.“
Hätte er die Augen geschlossen gehabt, Bernhard hätte die Sätze für eine
Original-Ansprache gehalten. So aber hatte er sie vor Schreck weit aufgerissen,
und lachen konnte er über diese perfekte Parodie auch nicht.
Zumal Dudenhove jetzt mit schwerer
Zunge zwar, todernst in seine eigene Sprache zurück fiel:
„Die Frontarbeit werden die Pioniere der NVA mit den russischen Genossen
leisten. Von uns im Hintergrund erwartet man, dass wir die Logistik
vorbereiten. Wenn du dich da mit einbringst, wirst du am Ende mehr sein als nur
ein Held der Arbeit. Du musst mir helfen, große Mengen Material von unseren
größeren Baustellen hier in Richtung Lübecker Bucht umzulenken. Ich brauche
dafür einen verlässlichen Genossen, der den Deckel möglichst lang auf dem Topf
halten kann und sich nach geeigneten Gebäuden umschaut, die mit wenig
Umbauarbeiten als Quartiere für das aufgestockte Grenzpersonal geeignet sind.“
Bernhard nickte versonnen, doch was der andere als kadertreue Zustimmung
interpretierte, war das Bejahen einer schlagartig nüchternen persönlichen Entscheidung,
die der „Freimaurer“ in Sekunden getroffen hatte. Er würde nicht helfen, die
Spur der Steine zu verändern. Er würde sich selber verändern – räumlich!
Am darauf folgenden Wochenende
versetzte er Käthe ohne Nachricht und kurbelte die etwa 270 Kilometer Landstraße
von Stralsund nach Strausberg zu Großvater und Bruder in knapp sieben Stunden
herunter. – Dabei hatte er bereits die gewisse, von allgegenwärtiger
Staatssicherheit gespeiste Paranoia als „schwere Last“ im Rucksack seines
schlechten Gewissens. Was, wenn Käthe nun tatsächlich schwanger war?
Seine beiden letzten direkten Verwandten waren nicht wenig überrascht,
ihn so unvermittelt mit dem Rad auftauchen zu sehen. Und sie waren besorgt, als
er nach der gerade überstandenen Strapaze darum bat, sie mögen doch am Straussee
einen schönen Abendspaziergang machen.
Während sie zum Fischerkietz hinunterschlenderten, fiel Bernhard mit der
Tür ins Haus:
„Der Ulbricht will einen sozialistischen Menschenzoo aus uns machen. Er
will uns einmauern und einzäunen – angeblich um uns vor US-imperialistischen
Übergriffen zu schützen. Ich weiß nur nicht, wann und wo es losgeht. Ich bin aber
für Juli wohl schon diesbezüglich an die Lübecker Bucht abgestellt.“
Der linientreue SED-Opa machte einen weit weniger überraschten oder gar
abweisenden Eindruck als Bernhard erwartet hatte. Sein Bruder Robert allerdings
brach das kurze Schweigen als erster. Er, der nach dem 17. Juli 1953 und dem
Aufstand der intellektuelle Jugend 1956 trotz Jugendweihe und FDJ-Zugehörigkeit
nicht nur aufgrund seiner gesundheitsbedingten Zurückhaltung bei Aktivitäten
manch Demütigung zu schlucken gehabt hatte, war längst ideologisch von der
Linie abgerückt:
„Das ist Verrat an der Idee. Da siehst du Opi, was du immer nicht
wahrhaben wolltest. Wir leben im tiefsten Faschismus.“
Bernhards Großvater machte einen gelassenen Eindruck und reagierte gar
nicht empört auf den Angriff seines jüngeren Enkels:
„Ich nehme an, es geht noch diesen Sommer los, denn ich habe dieser Tage
die Mitteilung bekommen, dass es ab Juli keine Reisen mehr zu oder gar
Einladungen für ausländische Genossen aus dem Westen geben soll. Für Juni steht
noch eine Reise nach Mestre an, die venezianischen Genossen werden vierzehn
Tage später zum Gegenbesuch erwartet. Dann soll auf höhere Weisung erst einmal
Schluss sein mit unserer Beteiligung an Treffen der Sozialistischen
Internationale außerhalb des Warschauer Paktes.“
„Dann müsst ihr raus!“
Bernhard wusste, dass sein Großvater, der nach dem Tod der Mutter ihr Vormund
gewesen war, seinen kleinen Bruder schon einige Male als Unterstützung auf die
Reisen hatte mitnehmen dürfen, wenn Schule und später das Studium dies
zuließen.
„Ich weiß nicht. In meinem Alter alles aufgeben?“
„Denk an Robert und sein krankes Herz. Was hat der als Bruder eines
Republikflüchtlings zu erwarten. Noch dazu, wenn der ein Held der Arbeit
war?...“
„Das heißt, du willst hier auf alle Fälle weg, wo du es dir doch gerade so
gut eingerichtet hast?“
„Ich habe mir geschworen, dass ich nie wieder frieren will und momentan
ist mir ganz eisig kalt ums Herz.“
Es gab eine Schwester des verstorbenen SPD-Opas in Kerpen bei Köln.
Bernhard empfahl ihnen, sich da hin zu wenden und drückte dem Großvater 4000 Mark
von seiner Prämie in die Hand. Dann tranken sie noch ein paar wehmütige Gläser
Bier in einer traditionellen Fischerkneipe, deren Gemütlichkeit der Resopal-
und Plaste-und-Elaste-Sozialismus noch nichts hatte anhaben können.
Im Morgengrauen war er ohne Abschied, aber mit der Hoffnung zurück
geradelt, die beiden im anderen Deutschland wohlbehalten wieder zu treffen –
mit oder ohne Käthe.
Mitte Juni bekam Bernhard eine in Strausberg abgestempelte Postkarte.
Auf einer persönlich unterschriebenen Autogramm-Karte von Berlinguer, die der
Großvater wohl in einem Anfall von Galgenhumor umfunktioniert hatte, stand in
der krakeligen, nur von nahen Verwandten zu entziffernden Schrift:
„ Vinceriamo! Wegen des bevorstehenden Feiertages erwarten wir auch
viele unserer westdeutschen Genossen. Salve Enrico.“
Das war das vereinbarte Zeichen, dass der Großvater und Robert dazu
entschlossen waren, sich am 16. Juni von ihrer Reisegruppe abzusetzen. Das
bedeutete auch, dass Bernhard an diesem Tag, beziehungsweise in der Nacht zum
„Tag der Deutschen Einheit“ seine bis ins Detail geplante „Ausbürgerung“
antreten würde.
Und zwar ohne schlechtes Gewissen. In einigen vorsichtig und taktisch
klug geführten Gesprächen mit Käthe hatte er erfolgreich ausgelotet, dass die
fanatische Beziehung seiner Freundin zur DDR die vermeintliche Liebe zu ihm
erheblich überwog – nein, eigentlich klar ausschloss. Diese bittere Erkenntnis ging einher mit Käthes Geständnis, dass sie
zwischenzeitlich längst wieder ihre Regel gehabt hätte. Anfang Juni war die
Gefühlskälte zwischen ihnen spürbar so groß geworden, dass Bernhard einen
bewusst mit Käthe herbei geführten Streit als inszenierten Abgang und Ausrede
geplant hatte, - falls er bei seiner Republikflucht erwischt würde.
Was dann tatsächlich ablief, ist ein aus Bruchstücken zusammen gesetztes
Mosaik aus Spekulationen. Bis weit in die 1990er beharrte Bernhard darauf, er
habe die DDR wegen eines „Kavaliersdeliktes“ verlassen. Obwohl er
Stasi-Übergriffe da schon nicht mehr fürchten musste, ließ er sich detailliert
weder über die Fluchtroute noch über die drei Monate aus, die er brauchte, um
in Kerpen wohlbehalten wieder mit dem Großvater und seinem Bruder zusammen zu
treffen.
Da er auf seinem Rennrad samt „Zauberkasten“ dort eintraf, liegt die
Vermutung nahe, die Flucht sei radelnd und schwimmend erfolgt. Das beharrliche
Schweigen darüber war aber möglicher Weise auch aus Sicherheitsgründen derart
in Fleisch und Blut übergegangen. Nach und nach trafen in Kerpen nämlich
Genossen im Geiste ein; also andere „Freimaurer“, die mit Bernhard in
verschiedenen Kombinaten und Kolonnen malocht hatten. Das Schlupfloch, durch
das sie „rüber gemacht“ hatten, hielt zumindest bis zum Frühsommer 1962. Da war
es auf Initiative von Bernhard schon zur Gründung des „Bullenklosters“ gekommen:
Seine sieben „konspirativen“ DDR-Kollegen, Bruder Robert und Willy
Granzow, der sich fortan verbat, KPD- oder SED-Opa genannt zu werden, zogen mit
Bernhard in ein Appartementhaus vom Lenz, bei dessen Bau er gewissermaßen schon
als Polier gewirkt hatte.
Aber da hatte ja schon die wirklich
große, wahrhaftige und einzige Liebe seines Lebens Besitz von Bernhard
ergriffen.