Wäre ich wie mein Spitznamensgeber Obelix als Kind in den Zaubertrank gefallen, hätte ich zeitlos Kraft im Überfluss. Weil das aber nicht der Fall ist, muss ich für einige Wochen die Burg verlassen. Aus dem Glashaus in München Burgbriefe zu schreiben, wäre Etiketten-Schwindel. Ob ich dort aus hoffentlich sommerlich geöffneten Fenstern Steine ins Sommerloch werfe , ist fraglich. - Obwohl meine Wut auf europäische Volksvertreter und Euro-Jongleure grenzenlos ist.
Immerhin gibt es auch Gutes zu vermelden: Dass meine häufig gewählte Multi-Kulti-Thematik der Bayerischen Landeshauptstadt einen sich immer mehr zum Positiven wandelnden Vorbild-Charakter beschert, hat jetzt auch sz-online festgestellt.
http://www.sueddeutsche.de/muenchen/integration-von-auslaendern-da-kann-ja-jeder-kommen-1.1406995
Ab Ende August gibt es dann wieder Burgbriefe.
Bleibt mir gewogen liebe Leser!
Freitag, 13. Juli 2012
Donnerstag, 12. Juli 2012
Sperrmüll
Fortsetzung der regulären Burgbriefe
In der scharfen Kurve auf der Straße hinauf zu unserer Nachbar-Gemeinde lauert im Verborgenen ein kleines Naturspektakel. In Jahrtausenden hat dort der Bach der vom Ginster-Pass kommt, eine kleine Kette von Gumpen gebildet, die je nach Laune Gombi oder Laghetti genannt werden. Die Autofahrer konzentrieren sich natürlich auf die Passage und möglichen Gegenverkehr - genau wie die Radler, die den letzten Kilometer dieser lohnenden Bergstrecke vor sich haben, oder umgekehrt sich mit mehr als achtzig Sachen auf der Talfahrt in den Grenzbereich ihrer dünnen Felgen begeben. Zudem wuchert eine Art dichter Dschungel, der die Sicht verdeckt, bis über den Straßenrand. Kurz, nur Eingeweihte kennen diesen Ort und wollen ihn auch nicht gerne teilen. Deshalb verbreiten sie bei Leuten, die auf der Suche nach einem besonderen Badespaß sind, gerne auch Horrorgeschichten von sich sonnenden Vipern und saufenden Wildschweinen.
Ich selbst habe besondere Erinnerungen an diese Naturschönheit, weil sie mich - ganz im Gegenteil - bei einer Berg-Erkundung in den ersten Jahren meines Hierseins vor schlimmeren Folgen bewahrt hatte. Damals konnte ich noch richtig trainieren und war an einem Herbst-Nachmittag mit Langlauf-Stöcken zu einem Geländelauf auf dem Bergrücken aufgebrochen. Weit oberhalb vom Scheitelpunkt der Straße war ich in das Kreuzfeuer einer Jagdgesellschaft geraten. Da ich dummerweise erdfarbene Trainingskleidung trug, befürchtete ich, mit einer Wildsau verwechselt zu werden. Ich fragte also einen der Treiber, welcher Weg für mich wohl am sichersten sei. Er wies auf einen breit ausgetretenen Trampelpfad, der nahezu senkrecht ins Tal hinunter führte und äußerst rutschig war.
Ich verstehe wenig von Jagd und Wildtieren, aber mit dem Spitznamen Obelix sollte man zumindest eine Wildschwein-Suhle erkennen, wenn man denn in einer landet... Die Suhle war mitten im Bach auf einer Art Plattform, von der das Wasser in undurchdringliches Grün hinunter rauschte. Aber auf der anderen Seite begannen ja schon die historischen und aufgelassenen Oliven-Terrassen. Seit vielen Jahrzehnten werden sie nicht mehr bewirtschaftet. Manche Trockenmauern ragen mehr als 15 Meter hoch und sind teilweise auch schon eingestürzt. Dann bilden sie bis zum oberen Rand der Nächsten Terrasse einen kaum auszurechnenden, überwucherten Rutschkeil, der die Passage eventuell sogar unmöglich macht.
Auf so einem passierte mir dann das Missgeschick: Weil ich glaubte die grüne Umkränzung sei stabil genug, trat ich drauf und verlor sofort den Halt, denn es handelte sich tatsächlich um von Parasiten durchgrüntes Dornengestrüpp. Glück im Unglück: Es fing mich auf und umklammerte mich an den Beinen. Anderenfalls wäre ich sofort tot gewesen. So hing ich mit dem Kopf nach unten etwa acht Meter über dem ausgewaschenen Sandsteinrand einer der oberen Gumpen.
Wie ich es geschafft habe, mich in eine Position mit den Füßen nach unten zu manövrieren ohne abzustürzen, kann ich nicht mehr in Erinnerung rufen. Wie ich auch nicht weiß, wann ich meine Pulsuhr samt dem dazu gehörigen Brustgeschirr gesprengt habe; das alles aber mit fest an die Handgelenke gezurrten Langlauf-Stöcken!
Ich wusste, dass ich in die schiefe Ebene springen musste, wenn ich überhaupt eine Überlebenschance haben wollte. Ich riss an den Ranken, die Zentimeter um Zentimeter nachgaben, ehe sie dann doch plötzlich rissen. Urinstinkte, die mich ein Leben lang vor schweren Ski-Verletzungen bei Abfahrtsstürzen bewahrt hatten, schienen sich zu automatisieren. Ich kam kurz auf die Füße und stieß mich mit einem Hecht ab, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie tief die Gumpe sein würde. Aber das Wasser schlug über mir zusammen, und der Kälteschock brachte mein Adrenalin wieder auf Normalpegel.
Aus Hunderten von kleinen Wunden blutend, stellte ich fest, dass ich von einer Falle in die nächste geraten war. Das Wasser aus der Gumpe verschwand im nächsten Abgrund und rund herum war wieder Dornengestrüpp. Als ich es irgendwie durch das Gewucher zur nächsten freien Stelle geschafft hatte, raschelte es heftig neben mir.
Ein mächtiger Schweißhund, der der Jagdgesellschaft wohl ausgebüchst war, versperrte mir diesen Ausweg. Er musste das Blut gerochen haben. Was man so von Mastinos hört, standen meine Chancen nicht gerade günstig. Also setzte ich mich erst einmal hin und erprobte mein maues Italienisch an dem Ungetüm. Aus dem heiligen, aus allen Wunden blutenden Sebastiano wurde also ein Tiersprache seufzender San Francesco. Aber das funktionierte. Denn anstatt mich zu zerfleischen, fing das Muskelpaket an, mich zärtlich mit seiner ellenlangen Zunge abzuschlabbern.
Eine gut anderthalb stündige Schicksalsgemeinschaft war so entstanden. Auch wenn ich nicht jedem Durchschlupf meines vierbeinigen Wegweisers folgen konnte, kam er doch auf Umwegen immer wieder zu mir, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Zwei, drei Gumpen suchte ich noch auf, um im kalten Wasser meine Blutungen zu stillen. Als ich die Straße schon sehen konnte, bellte der Jagdhund zweimal und verschwand genauso geisterhaft, wie er aufgetaucht war. Ich hätte vielleicht an eine phantastische Sinnestäuschung aufgrund der Stress-Belastung geglaubt, wurde aber dann von der rauen Realität belehrt: In der Kurve stand ein aufgelöster Hundehalter mit einem Sprechfunkgerät. Als er mich in meiner Eigenschaft als blutender und halbtoter Waldgeist auf sich zu straucheln sah, fragte er nicht etwa, ob er mir helfen könne, sondern herrschte mich an: "Dov'è mio cane?"
Angesichts der Lupara in seiner Armbeuge zog ich ein gezischtes "Arschloch!!!" dem ihm verständlicheren "culo!!!" vor und erbrach mich über das jenseitige Brückengeländer. Dabei erlebte ich das eigentliche Drama dieses Tages: In Reichweite der Straße war der herrliche Torrente zugeblockt mit Dutzenden ausrangierter Waschmaschinen, Kühlschränke, halber Autos und sonstigem Wohlstandsmüll...
Das Erlebte liegt jetzt mehr als ein Jahrzehnt zurück. Mittlerweile gibt es Gemeinde-Verordnungen mit drastischen Konsequenzen für Sünder. Rifiuti ingombranti - wie Sperrmüll auf Italienisch heißt - muss jetzt in dem nagelneuen Wertstoffhof, den die Gemeinde für viel Geld gut zugänglich im Tal an der Schnellstraße samt riesen Büro eingerichtet hat. Wer den mittlerweile gesäuberten Torrente noch wie ich in Erinnerung hat, geht gerne zur Gemeinde und holt sich bei Teodora die notwendigen Papiere für das legale und kostenfreie Entsorgen. (Was an heißen Tagen gerne mal mit der Darbietung ihres prachtvollen Dekolletés belohnt wird - als Argument für Machos, das Richtige zu tun...)
Aber den Burggeistern hier oben haftet da diesbezüglich wohl immer noch etwas ewig Gestriges an. Als ich neulich auf dem Weg zum Auto mit einer Schubkarre voller kaputter Elektrogeräte beim alten Franco vorbei jongliere, hält der mich doch für komplett durchgeknallt, weil ich zum Wertstoffhof will: "Stell's doch an die Mülltonnen!"
Tatsächlich standen da schon ein alter Fernseher, ein mannshoher Kühlschrank und zwei Auto-Batterien. Die Müllfahrer der Gemeinde sind eigentlich angewiesen, die Sachen stehen zu lassen.Aber in diesem Ambiente, noch dazu zur Ferienzeit, sind sie dann doch immer wieder einmal nachsichtig
Ich denke da lieber an den Torrente, an das Jahrzehnt, das ich seinen kühlen Gumpen verdanke und fühle mich nach dem Besuch des Discarico einfach nur gut.
Dienstag, 10. Juli 2012
Abbiamo una crisi
Castellinaria Kapitel 16
Im Frühjahr 2009 saß Bernhard Kleiner auf seinem Lieblingsplatz, der
Zitronenlaube auf der Zinne im Garten, und wartete zum zweiten Mal in seinem
Leben auf die Russen. Diesmal aber wohl doch vergeblich. Und das war gut so!
So viel war seit jenem denkwürdigen Abend passiert, an dem er Goerz das Du angeboten hatte. Sie waren wirklich noch bessere Freunde geworden. Einem geheimen, unausgesprochenen Regelwerk folgend, rückten sie sich nie zu nah auf die Pelle. Aber beide sprangen ohne zu Zögern auf und ließen alles stehen und liegen, wenn es galt, Hilfe zu leisten oder für ein ernstes Gespräch bereit zu stehen.
So viel war seit jenem denkwürdigen Abend passiert, an dem er Goerz das Du angeboten hatte. Sie waren wirklich noch bessere Freunde geworden. Einem geheimen, unausgesprochenen Regelwerk folgend, rückten sie sich nie zu nah auf die Pelle. Aber beide sprangen ohne zu Zögern auf und ließen alles stehen und liegen, wenn es galt, Hilfe zu leisten oder für ein ernstes Gespräch bereit zu stehen.
Sie waren zum Fischen aufs Meer hinaus gefahren, hatten am Haus herum
gebastelt und herrliche Abende beim Kochen und Weinverkosten verbracht.
Goerz hatte Kleiner endlich die Geschichte
von Sali Besnik erzählt, und Kleiner die das Bild ergänzenden Dramen mit seinem kürzlich verstorbenen Schwager Lenz geschildert. Sie hatten gemeinsam diverse Kämpfe mit der
regionalen Kataster-Bürokratie ausgefochten, weil seit deren Umstellung auf
Computer kaum einer noch auf Anhieb sagen konnte, wofür und wie viel Steuern zu
zahlen waren.
Für zwei milde Winter und angenehm temperierte Frühlings- und
Sommerperioden führten Sie das einst erträumte Leben von Edelrentnern. Aber
dann war Bernhard von einem medizinischen Routine-Check in der Heimat nicht
gleich zurückgekommen.
Krebszellen in seiner Prostata hatten vollkommen unbemerkt bereits
derart metastiert, dass er direkt aus der Praxis auf den Operationstisch geschickt worden war. Der Totaloperation
folgte eine langwierige Chemo, die nur ein Mann von seiner Willenskraft und
Athletik derart stoisch und äußerlich
unversehrt wegstecken konnte.
Goerz hatte sich – als ob der Sensenmann
synchron arbeiten wollte – bei seinen Recherchen ungeahnt ebenfalls in
Lebensgefahr sowie aus dem seelischen Gleichgewicht bringen lassen. In der Folge
musste er sich der schwersten Depression seines Lebens erwehren. Ein im
Nachhinein lächerlich dramatisiert erscheinender Selbstmordversuch mit seinem
Boot schlug fehl. Und so schämte er sich unendlich, als er seinen tapfer
kämpfenden Freund in wirklich tragischer
Lebenssituation unverzagt wieder traf.
Innerliche Verletzlichkeit nach außen nicht zulassend, gingen die beiden
fortan in einer rüden Knarzigkeit und einem überzogenen Galgenhumor miteinander
um. Goerz, der Literaturbeflissene, hätte
das als „hemmingwaysche Macho-Scheiße“ eigentlich verachten sollen. Aber
es half ihnen über die Anflüge von Hilflosigkeit hinweg
Dass er sich unten herum neu orientieren musste, und dass der
Harnblasen- und Schließmuskelbereich bei diesem Treppauf Treppab in Castellinaria erniedrigend
zum Versagen gezwungen wurde, muss für Kleiner in den Monaten der
Rekonvaleszenz die Hölle gewesen sein.
Goerz, jeglicher Behinderung anderer gegenüber verkrampft, überwand sich
erstaunlicher Weise. Er überspielte zunehmend die eigene Unsicherheit im Umgang
mit dem Freund, indem er ihn vielleicht mehr antrieb, als gut war. Das zwang
ihn dann, Kleiner immer wieder einzubremsen.
Weil der kaum, dass es ihm besser ging, wie früher gewohnt, zupacken wollte. Wenn er Bernhard gar nicht mehr Herr wurde, petzte
er das unverfroren Traute, die mittlerweile wie eine Schwester für ihn war. Ja ihm
Gelang es sogar, dass Don Bernardo nach geduldigem Zureden einen knorrigen
Spazierstock aus poliertem Olivenholz als Absicherung gegen Fehltritte akzeptierte.
Eigentlich machte dieser Stock erst den wahren Don aus Kleiner. Denn
fortan erteilte und verteilte er Belehrungen und Hinweise bautechnischer Art,
indem er mit diesem auf Schwachstellen, Pfusch oder versteckte Mängel deutete.
Das gab ihm irgendwie eine Respekt einflößende Distanz.
Indem er niemanden mehr zur Seite schob, um immer gleich selbst Hand
anzulegen, wuchs ihm sogar noch mehr
Kompetenz und Souveränität zu.
Der knotige Stock wäre aber beinahe auch noch zur Schlagwaffe geworden, als dieser
junge Mann im schwarzen Designeranzug begann, mit seinem Klemmbrett durch die
Gassen zu spazieren.
Der Schweizer Jungmann in Diensten einer diffusen Touristik- und
Immobilien-Holding schwadronierte mühelos vielsprachig durch die historischen
Gemäuer und machte Angebote, die eigentlich niemand ablehnen konnte. Er war
bestens orientiert über Besitzverhältnisse, Nutzungszeiträume und die Standards
bei der Ausstattung diverser Häuser. Er wirkte wie der Frontsänger einer
Boygroup mit seiner Gelfrisur und den blondierten Haarspitzen, und gerade die
etwas älteren Nordeuropäerinnen verspürten bei seinem Scharwenzeln ein Prickeln
in tot geglaubten Körperregionen. Neben den unausgesprochenen, von
Testosteronfülle begleiteten Versprechungen war aber auch das rein
geschäftliche Angebot verlockend:
Verkauf des Anwesens zu einem Preis erheblich über aktuellem Marktwert
und geknüpft an ein noch fünf Jahre geltendes Gratis-Wohnrecht für insgesamt
jeweils acht Wochen pro Jahr; allerdings außerhalb der Hauptsaison-Monate.
Als Traute dem smarten Jüngling erstmals die Tür aufmachte, war sie
zuerst äußerst abweisend und misstrauisch, aber angesichts der jüngsten Ängste,
die sie um ihren Bernhard ausgestanden hatte, war ihr das Ganze doch des
Überlegens wert. Zumal Traute – was sie Bernhard bislang verschwiegen hatte – auch
einen Grund hatte, die ihnen noch verbleibenden gemeinsamen Tage in Castellinaria als gezählt zu betrachten:
Weil sie sich so gefreut hatte über die quasi normalen Werte ihres
Mannes hatte sie auf der Sagra zu Ehren der Santa Madalena auf dem
Dorfplatz des Capoluogo hemmungslos Masurka getanzt. Franco hatte
sie mit seinem großen Professorenkopf den Takt vornickend, herumgewirbelt, was
seine Schweißdrüsen hergaben, - sein Deo allerdings nicht hielt. Aber wer wird
schon die Nase rümpfen, wenn die Live-Band unermüdlich schmalzt und die
Juniluft selbst um Mitternacht noch dreißig Grad hatte? Zudem entspannte der
eiskalte Vermentino Trautes immer noch außerirdische Schönheit. Die
fortgeschrittene Osteoporose der Garbogöttlichen allerdings ließ sich nur bis
zur ersten längeren Pause betäuben. Den Wallfahrerweg hinauf nach Castellinaria schaffte sie im
Morgengrauen nur, weil sie zu beschickert war, um die Schmerzen zu spüren. Den
restlichen Sommer jedenfalls konnte sie ihre liebgewordene Gartenarbeit nur
noch unter unmenschlichen, heldinnenhaft
unterdrückten Schmerzen verrichten. Was letztlich auch dazu führte, dass
sie immer häufiger das verlockende Angebot des Schweizer Akquisiteurs zur
Sprache brachte.
Don Bernardo von neuer Lebenskraft beseelt, wollte von alldem nichts
wissen und geriet in der Folge derart in Wut, dass er dem jungen Mann eines
Tages auflauerte und ihn wild seinen Olivenholzstock schwingend über die Piazza
trieb. Der Charmebolzen, derlei rüde Reaktionen bislang bei seiner
erfolgreichen Akquise nicht gewohnt, ließ vor Schreck Klemmbrett und
Präsentationsmappen fallen. Goerz sammelte alles ein, ging aber weder
dazwischen, noch ergriff er Partei, denn schon auf den ersten Blick erkannte
er, dass hier etwas ganz Großes im Werden war.
Goerz nötigte die beiden Streithähne auf die Steinbank an der Fontana.
Gab das persönlich vertraulich wirkende Klemmbrett als erstes zurück.
Allerdings nachdem er schon registriert hatte, dass einer der Ersten auf der
Liste der Verkäufer Francos Enkel Marco war. Eine der Mappen hatte er für sich
behalten und begann sie zu studieren. Nicht ohne vorher mit einer herrischen
Geste jedweder weiteren Gemütsäußerung der Kampfhähne Einhalt zu gebieten.
Der Profi erkannte nicht nur die perfekte Präsentation, sondern auch den
genialen Ansatz hinter der Idee:
Auf dem Deckblatt war ein Screenshot von Google Earth zu sehen. Er war
mit einem Graphikprogramm derart brillant nachbearbeitet, dass Goerz in der
Draufsicht von Castellinaria deutlich auch seine Dachterrasse samt Schirm und
Markise erkennen konnte. Don Bernardos hängender Garten wirkte aus der
Satelliten-Perspektive so spektakulär wie in natura. Als Goerz ihm das zeigte,
schien sich die wütende Spannung für einen Moment zu lösen.
Auf den folgenden Seiten wich die Google-Darstellung immer mehr einem architektonischen
Relief-Plan vom zukünftigen „Castello in Aria“. Die großen Häuser des Ortes
wurden außenarchitektonisch vereinheitlicht als Residenzen hervorgehoben, die
kleineren als Ferien-Appartements. Die im Privatbesitz verbleibenden Häuschen
der Einheimischen, die nicht verkaufen wollten, waren mit Personaggio
betitelt, Personal!
– Es würde also auch um neue Arbeitsplätze gehen, und wohl deshalb hatte
auch die Gemeinde ohne Widerstand ihr Legat am Anwesen der ehemaligen
Klosterschule abgetreten. Die hatte ja mangels Kindern seit den 1970ern immer nur leer gestanden. Das
Atrium mit Kreuzgang und den hohen
Schlafsälen sowie den beiden Spielplätzen an der Burgmauer firmierte auf den
Prospektseiten bereits als künftiges Kulturzentrum mit Galerien und Bühnen für
Musik- und Theater-Darbietungen. In Standaufnahmen von Computer-Animationen
wurden die Gassen mit elektrischen Golf-Carts
befahren. Sämtliche Unstimmigkeiten an den Fassaden waren virtuell bereits
angeglichen. Das galt vor allem für die frischen Farben aller Häuser, die im
Plan einzigartig harmonierten und ganz besonders für das Castello.
Goerz sah den Hinweis auf eine interaktive Website und bat die beiden
Männer über die Piazza spontan in sein Arbeitszimmer, wo er seine Computer
online hatte:
Die virtuelle Fahrt durchs Dorf samt Anreise – oder sollte man besser
sagen Anflug – war noch spektakulärer. Der Cyber-Hubschrauber hob am neuen –
hier digital schon fertig gestellten - Jachthafen zwischen Oneglia und Porto
Maurizio ab, umrundete den mittelalterlichen Kirchberg und kletterte hoch über
den Monte Aquarone und das Imperotal, um die Totale über die Valle d’Olio zu
öffnen. Im Landeanflug auf den Heliport
des zukünftigen „Castello in Aria“ nahmen die Cyberspace-Reisenden zur Kenntnis,
dass der Ort hier schon von einem Par-3-Neunloch-Golfplatz umgeben war. In der
Realität würde der wohl nur von einem fanatischen Freak mit grenzenlosen Finanzen aus den Fasce
und Oliven-Terrassen heraus gegraben werden können. Aus den beiden Spielplätzen
der Klosterschule war eine römisch anmutende Pool- und Spa-Landschaft geworden…
Am Hubschrauber-Landeplatz oberhalb und ein wenig abseits des Ortes in
einer rundum geschützten Bodensenke (sie wurde Lardo - also Speck - genannt,
weil dort vor Zeiten ausgewilderte
Hausschweine lebten) wurden die Gäste der Website mit einem Golf-Cart zum
Einchecken ins Schloss gebracht. Es diente hier als stilvolles
Verwaltungszentrum vor dem das animierte Daten-Ebenbild des jungen Schweizers, auf Mausklick einen kleinen Einführungsvortrag in verschiedenen Sprachen hielt. Als die Fahrt dann weitergehen sollte, stoppte
Goerz sie per Mausklick. Sein Blick verharrte auf dem Haus der Francesa
– also seinem.
Dort hatte die Text-Einblendung das
„Zentrum für Werbung und Kommunikation“ angesiedelt.
„Das ist mein Haus“, bellte er empört in Richtung des Schweizer Smartys.
„Das wissen wir. Wir wissen auch, dass es Ihnen wirtschaftlich nicht so
gut geht, und der Job wäre ideal für Sie bis ins hohe Alter. Sie bräuchten
nicht zu verkaufen und wir zahlten Ihnen noch dazu Büro-Miete…“
„Also mir reicht es jetzt“, knurrte Kleiner und verließ wechselweise
wachsbleich und wutrot werdend das Haus seines Freundes. In der stets zur
Piazza hin offenen Tür drehte er sich noch einmal um und sagte ganz leise und
eisig:
„Ihr könnt kaufen, wen und was ihr wollt. So lange ich hier lebe,
bekommt ihr mein Haus nicht!“
Goerz indessen war bestürzt, dass er zu so einer drastischen Aussage
spontan nicht fähig gewesen wäre. Die Verlockung, doch noch einmal im Leben
wichtig zu sein und für den Austrag hier oben auch noch bezahlt zu werden,
drang in seine Nervenbahnen wie ein schleichendes Gift. War nicht „in den
Stiefeln zu sterben“ immer eine seiner Visionen gewesen?
Offenbar weil er sich nicht sofort auf dessen Seite geschlagen hatte,
war das Verhältnis zwischen Johannes und Bernhard - unausgesprochen zwar – in
den restlichen Sommer- und Herbstwochen belastet. Kleiners Stimmung wurde
natürlich nicht besser, als er erfuhr, dass auch Häubel sein Anwesen am unteren
Ortseingang verkaufen wollte. Der Sindaco hatte ihm das Baurecht auf
einer seine Fasce eingeräumt, und die Holding würde ihm zum
Selbstkostenpreis dort eine Villa hinbauen, so dass noch ein ordentlicher Teil
des Verkaufserlöses für die Enkel übrig bliebe. Außerdem war ihm das
exklusive Recht angeboten worden, mit seinen und den Produkten anderer,
einheimischer Bauern einen gesponserten Bioladen an der Piazza zu betreiben.
Die größtmögliche Wut und das absolute Stimmungstief lösten jedoch bei
Bernhard Kleiner die weiteren Recherche-Ergebnisse seines dann wieder Freundes
aus.
Der touristische Multi - so hatte Goerz herausgefunden - wurde von einem
Konsortium namhafter Schweizer Banken getragen, die aber offenbar wiederum nur
die Geldmacht eines in London ansässigen russischen Oligarchen (dessen Riesen-Jacht samt Helikopter bereits im Hafen lag) kaschieren
durften. Der trat natürlich zunächst nicht einmal annähernd selbst in
Erscheinung. Goerz kam nur drauf, weil er im Laufe früherer, letztendlich lebensbedrohender Recherchen
schon einmal auf die Namen zweier auch in diesem Umfeld wieder beteiligter
Institute gestoßen war. Das eine war eine Art Islamische Bank für Wiederaufbau
mit Firmensitz in Dschidda und das andere ein Private Equityfund,
der auf Grand Cayman in der Karibik ansässig war. Trotz oder gerade wegen der
internationalen Immobilien-Krise und der Liquiditätsengpässe selbst größerer
Banken wurden in diesem Dreieck während der folgenden Monate Liegenschaften mit
massiven Geldmitteln aus sehr diffusen Quellen aufgekauft und bisweilen zu Spottpreisen übernommen. Wen wunderte es da doch, dass man auch in Castellinaria
so großzügige Angebote machte. Vergleichsweise "Peanuts"...
Aber dann waren die Billionen von im Nebel der Immobilien-Spekulation in den
Sand gesetzten Dollar der weltweiten Finazkrisen doch zu etwas gut: Sie entzogen
den neuen, luftschlössrigen Plänen der Spekulanten in Castellinaria jegliches Fundament und waren über Nacht nur noch
Wolkenschiebereien. Andere
großmannssüchtige Vorhaben in den Emiraten waren ja schon im Bau und verlangten vorrangig nach Schadensbegrenzung. Der Smarty
aus der Schweiz verschwand heimlich mit eingezogenem Schwanz und letztlich leerem
Klemmbrett. Wer wann wie viel Geld verloren hatte, wurde peinlich berührt
verschwiegen.
Fünf Jahre sind inzwischen vergangen, und Castellinaria hat wieder seinen alten gegenläufigen Rhythmus aufgenommen. Die Ruinen-Baumeister hat das Zeitliche gesegnet. Im wahrsten Sinne! Denn unterm Strich konnten sich deren Lebensbilanzen - auf welchen Zickzack-Wegen auch immer erreicht - durchaus sehen lassen. Selbst wenn jenen der Ruhm im größeren Rahmen versagt blieb, so hatten sie etwas geschaffen, was den wenigsten beschieden war: Sie hatten ein historisches Ensemble für weitere Generationen fit gemacht. Ja, man war fast geneigt zu sagen "so wie die Natur das Menschlein überlebt, so wird Castellinaria gegen die Veränderungen unten am Meer weiter bestehen. Auch wenn sich die Dinge - wie stets im Laufe der Geschichte -vermutlich wiederholen werden...
Die dauerhafte in ihren Folgen nicht absehbare Euro-Krise förderte aktuell die Flucht der Italiener ins Beton-Geld. Sie holten sich Castellinaria Haus um Haus von den "Parttime-Lovers" jenseits der Alpen zurück, um in unsicheren Zeiten ihren Ruhestand hier zu leben. Innen- und außenarchitektonische Schmuckstücke gingen - wie einst weit unter Wert - an neue Eigentümer. Und das ist keine zynische Gerechtigkeit, sondern einfach wieder einmal der Lauf der Zeit.
Das Bewahren von Einzigartigkeit ist hoffentlich nun auch bei jenen angekommen, die la nostalgia bisher kaum in ihre Seelen lassen wollten. Castellinaria wird auch in Zukunft weiter so leben – wie es sich seine Bewohner individuell erträumen. Und wer weiß? In ein paar hundert Jahren ist dieser Zauberberg vielleicht das einzige, was vom großen paneuropäischen Traum übrig geblieben ist.
Die dauerhafte in ihren Folgen nicht absehbare Euro-Krise förderte aktuell die Flucht der Italiener ins Beton-Geld. Sie holten sich Castellinaria Haus um Haus von den "Parttime-Lovers" jenseits der Alpen zurück, um in unsicheren Zeiten ihren Ruhestand hier zu leben. Innen- und außenarchitektonische Schmuckstücke gingen - wie einst weit unter Wert - an neue Eigentümer. Und das ist keine zynische Gerechtigkeit, sondern einfach wieder einmal der Lauf der Zeit.
Das Bewahren von Einzigartigkeit ist hoffentlich nun auch bei jenen angekommen, die la nostalgia bisher kaum in ihre Seelen lassen wollten. Castellinaria wird auch in Zukunft weiter so leben – wie es sich seine Bewohner individuell erträumen. Und wer weiß? In ein paar hundert Jahren ist dieser Zauberberg vielleicht das einzige, was vom großen paneuropäischen Traum übrig geblieben ist.
E N D E
Montag, 9. Juli 2012
Die Rückkehr der Enkel
Castellinaria Kapitel 15
„Ich komme einfach nicht an!“, sagte Johannes Goerz und schaute über den
erleuchteten Kirchturm der Nachbargemeinde auf das vom Mond beschienene Meer
hinunter. Offenbar recht große Wellen, die der Scirocco vor sich her schob,
ließen es mit ihren streifigen Schatten von dort oben, wo sie saßen, wie ein
Teller aus gehämmertem Silber erscheinen.
„Ich komme einfach nicht an - in diesem so genannten Dritten Leben. Ich
erkenne, das Privileg hier sein zu dürfen. Ich sauge diese einzigartige
Schönheit in mir auf, aber anstatt es zu genießen, lasse ich zu, dass gerade in
solchen Momenten ein aberwitzig schlechtes Gewissen von mir Besitz ergreift.“
Bernhard Kleiners lange Beine baumelten wie die von Goerz in lässiger
Fahrlässigkeit außen von der Zinne des Kastells über dem schwarzen Abgrund, der
sich an der Südostfront der Burgmauer erstreckte. Glühwürmchen tanzten in der
Tiefe. Er schmauchte seine Pfeife mit zerkautem Mundstück und sagte gar nichts.
Längst wusste er, dass sein neuer Bekannter ein komplizierter und zerrissener
Charakter war, dem mit seinem gesunden Menschenverstand kaum beizukommen war.
Indem er ihn aber schweigend und fest anschaute, wenn der eine Pause machen
wollte, ermutigte er den Jüngeren stets mit seinen Monologen fortzufahren. Das
klappte und war besser, als sich mit Traute via Satellit deutsche Fernseh-Soaps
anzusehen. Diese fortwährende Selbstzerfleischung war eine Reality-Show –
exklusiv und wegen beiläufig gewonnener Erkenntnisse unbezahlbar. Er selbst war ja auch auf Wichtigkeitsentzug
gewesen, nachdem er die Großbaustellen seines Lebens auf immer verlassen hatte.
Er wusste, dass Verluste von Macht, Kraft, Sex und anderer Antriebskräfte auch
bei dem Journalisten seine Zeit brauchen würde, aber er war sich nicht ganz
sicher, ob Goerz - so wie er - den Stand der Weisheit durch homöopathischen Genuss
des noch Gewährten erreichen würde.
„Der Gogel hat mir außer der Bruchbude noch einen Spruch da gelassen.
Quasi ein Leitsatz aus seinen Management-Seminaren: Man merke sich: Die beiden
größten Arschlöcher in meiner Karriere sind mein Vorgänger und mein Nachfolger…“
„Ich habe übrigens meine Wohnung an den Enkel von Franco verkauft“, warf
Kleiner mitten in den unvollendeten Satz.
„Was hat das jetzt mit dem Spruch vom Gogel zu tun?“ hakte Goerz in
einer Mischung aus Erstaunen und Ungehaltenheit nach. Kleiner hatte ihn noch
nie unterbrochen, und schon gar nicht, indem er ein völlig anderes Thema
anschnitt.
„Nehmen Sie doch Castellinaria!
Das ist eine über Jahrhunderte andauernde Abfolge von Vorgängern und
Nachfolgern. Aber die gegenwärtigen Arschlöcher sind wir, die wir gedacht
haben, wir könnten einfach ein fremdes Stück Paradies kaufen und nach unseren
Vorstellungen formen und verändern. Wie sehr wir in die historische Nachfolge
eingegriffen haben, ist mir gerade erst durch diesen Spruch und das, was ich
mit Francos Enkel erlebt habe, bewusst geworden.“
„Sie sprechen in Rätseln. Don Bernardo!“
„Nun, die Wohnung, die ich seinem Enkel verkauft habe, hat einmal Franco
gehört. Er hat mir und Häubel das Haus zu Beginn der Achtziger verkauft, weil
seine Kinder nach Turin und Genua gegangen waren und von Castellinaria nichts mehr wissen wollten. Unser Geld hat er –
genügsam wie er immer war – für seine ungeborenen Enkel bei der Ambrosiana angelegt.
Stellen Sie sich das mal vor. Damals haben sie die Italiener auf den Baustellen
bei uns wegen ihres ungebremsten Kinderzeugens noch ‚Katzelmacher’ genannt…“
„Ja, so hieß doch auch ein Film von Rainer Werner Fassbinder…“
„…Und jetzt sind die bei den Geburtenraten in Europa das Schlusslicht.
Francos Töchter sind geschieden und
haben gar keine Kinder. Einer der beiden Söhne seines Sohnes ist jetzt bei Imperia
Mare für die künftige Hafen-Entwicklung zuständig. In den 26 Jahren seines
Lebens war er vielleicht dreimal hier oben, ansonsten durfte Franco, um seine
Enkel zu sehen, nach Genua reisen. Marco, der ältere der beiden Enkel,
erinnerte sich also, dass sein Vater häufig von einem zweiten Häuschen seines
Großvaters gesprochen hatte und fragte nach Jahrzehnten des Desinteresses Opa
Franco, ob er dieses Häuschen als Wohnung haben könnte, weil die Mieten am
Hafen so absurd teuer seien. Franco erzählte ihm, dass das Haus schon vor
seiner Geburt verkauft worden sei. Dass er ihm aber die Hälfte des damals
angelegten Erlöses zugedacht habe.“
„Und da hat der sich riesig gefreut und Ihnen davon gleich die Wohnung
abgekauft?“
„Nein! Ganz im Gegenteil! Der hat seinen Opa wüst beschimpft. Er habe
ein Fundament der italienischen Kultur für centesimi an Ausländer
verhökert. Und seine Wut wurde fast zu einem Tobsuchtsanfall, als er
feststellte, dass das Geld vom Opa mit Zins und Zinseszins gerade dazu
ausreichen sollte, davon die Hälfte von der Hälfte des früheren Hauses zu
bezahlen. Er nannte mich einen Spekulanten, obwohl ich ihm sogar die Wohnung aufgrund meiner Freundschaft zu
seinem Großvater noch um 25 Prozent günstiger angeboten habe. Häubel und ich hatten ja in die Renovierung
neben dem Material und der Ausstattung einen Haufen eigene aber auch viele
Arbeitstunden der Albanesi gesteckt. Jeder von uns hatte Franco damals 15 000 Mark bezahlt und etwa die gleiche Summe in die durch die Teilung
entstandenen Wohnungen investiert. Lustiger Weise hatten auch wir beide die
Idee, diese dereinst mal unseren Enkeln zu überlassen…“
„Und?“
„Häubel hat ja welche. Unser Sebastian hat das
Thema Kinder längst abgehakt. Und was Sie erzählt haben, wird es doch auch bei
Ihnen keine geben. Die wenigsten der Deutschen hier oben – so sie überhaupt
Kinder hatten – haben Enkel, und da sich deren Eltern schon kaum mehr
interessierten, wird es von denen hier keine wirkliche Nachfolge-Generation
geben.“
„Luftschlösser taugen offensichtlich nicht für Dynastien“, Goerz
schüttelte in jäher Erkenntnis und ein wenig resigniert seinen Kopf und fuhr
dann fort: „aber waren wir denn blind in unserer Sehnsucht nach so einem Ort?
Wenn es so sein wird, dass unsere Kinder und Enkel im Globalismus nicht mehr
sesshaft werden können, weil sie für den Job vielleicht alle fünf Jahre wieder
an einen anderen Ort müssen, dann wäre doch so eine Zufluchstätte eine tolle
Alternative.“
„Ja, schon. Aber sie wäre eben keine Heimat oder nur ein Ersatz für sie.
So etwas wie ein Elternhaus hat keine Bedeutung mehr, so bald es in dessen Umfeld
nicht mehr genügend Jobs gibt. Im Prinzip ist das so, wie es hier oben war.
Francos Generation hatte schon keine Perspektive mehr als Bergbauern. Also
haben die meisten damals Castellinaria
verlassen, um ihr Glück anderswo zu suchen. Wenn meine Generation Deutscher
nicht die Sehnsucht nach den italienischen Momenten gehabt hätte, wäre das hier
oben alles verfallen. Klar haben wir die alten Gemäuer für vergleichsweise
lächerliche Summen gekauft. Aber niemand zählt ja die Arbeitsstunden und die
Kosten für das Material zusammen, die wir all die Jahre in die Restaurierung
gesteckt haben, ohne dafür Subventionen für den Denkmalschutz einzustreichen…“
„Nein, die Enkel sehen natürlich nur die Preise, die sie sich meist mit
normalen Jobs nicht leisten können – selbst wenn sie Opas wie Franco haben.“
„Fünf der Häuser, die verkauft wurden, seit Sie das Haus der Francesa
übernommen haben, sind nicht mehr an Nordeuropäer gegangen, sondern als
Investments für Ferienwohnungen an Immobilien-Firmen aus Turin und Mailand.“
„Februar und März war der Ort tatsächlich so ausgestorben, dass ich mir
hier wie in einer Geisterkulisse vorgekommen bin, aber das war auch irgendwie
mystisch und schön.“
„Es werden also andere Nachfolger kommen, aber bis dahin sind wir die
Arschlöcher. Ich sage es ungern – obwohl wir ja auch zum Wohlstand der Gemeinde
beitragen – baut sich hier erstmals in all den Jahren eine unterschwellige
Feindseligkeit auf. Die Enkel-Generation weint einem verlorenen Paradies nach,
dass ihre Eltern verlassen haben und in dem ihre Großeltern erst einen
verbesserten Status erfuhren, als wir dessen Verfall gestoppt haben.“
„Dürfen wir ihnen das denn verübeln?“
„Nein, natürlich nicht! Man muss sich ja nur vorstellen, das wäre mit
einem unserer historischen Dörfer daheim passiert – beispielsweise durch
Japaner. Oder einfacher: Wir erinnern uns daran, was die vermögenden Wessies
nach der Wiedervereinigung an Luxussanierungen und Spekulationen allein in
Dresden, Leipzig und Weimar mit Unterstützung der Treuhand durchgezogen haben.“
Goerz bewegte eine Weile schweigend seinen mächtigen Schädel mit der
Einsteinmähne hin und her. Dann grinste er schüchtern wie ein Schuljunge, der
seinen Lehrer in einer Mischung aus Respekt und Erkenntnis um einen Gefallen
bitten will:
„Ich weiß, wir haben in Deutschland die Sitte, dass die Aufforderung zum
vertraulicheren Du vom Älteren auszugehen hat. Wir beide - glaube ich - lassen
uns mit dem Duzen wohl auch aus einem gewissen Misstrauen heraus immer noch
mehr Zeit als andere. Aber ich möchte hier und jetzt etwas zum Ausdruck
bringen, was mir schon seit einiger Zeit klar ist. - Bernhard Kleiner, Sie haben einen außergewöhnlichen
Charakter und Sie sind ein inspirierender Quell der Weisheit. Es wäre mir eine
Ehre, wenn Sie mir das Du anböten.“
Sonntag, 8. Juli 2012
Euros Gnaden
Castellinaria Kapitel 14
Und
dann galt ab 1. Januar 2002 der Euro und sorgte für einen Wertewandel sowie
höchst unterschiedliche Wahrnehmungen bezüglich seiner wirtschaftlichen
Wirkung. Das traf sicher überall in Europa zu, war aber auf dem Zauberberg von
Castellinaria mit seinem verlangsamten Raum-Zeit-Kontinuum und den höchst
persönlichen Perspektiven seiner Bewohner geradezu exemplarisch. Durch den
Nationen-Mix war hier quasi ein Musterzoo oder besser ein Reservat für
unterschiedlichste Wirtschaftswesen europäischer Herkunft entstanden. Je
nachdem in welchen Biotopen sie aufgewachsen waren, gediehen sie jubelnd oder verkümmerten
seelisch; jedwedes aber eigentlich ohne ersichtlichen Grund:
Bernhard Kleiner war bedingt durch seinen Lebenslauf Vertreter einer
raren, gegen diese Anwandlungen immunen Spezies. Das galt auch für die
steinalten, immer schon hier angesiedelten „Gewächse“, die sich
landwirtschaftlich selbst versorgten. Sie suchten höchsten bei schwersten
Krankheitsfällen niedere Gefilde auf oder wurden meist erst nach weit über 80
Jahren harten Lebens im Sarg auf den Friedhof ins Tal gebracht.
Die Gogels hatten zwar noch das Haus mit Garten gekauft, es aber sofort,
nachdem sie es wieder in bewährter Manier dekoriert hatten, an eine Agentur zur
Vermietung weiter gegeben. Im Übrigen aber waren sie gleich über die nur noch
in den Köpfen vorhandene Grenze nach Frankreich entwischt und hatten von den
Gewinnen in Castellinaria eine Villa auf dem Cap d’Ail zwischen Monaco und Nizza erstanden. Bevor der
Rest der Welt begriff, dass der Euro bald nicht mehr heimlich in Gedanken
umgerechnet zu werden brauchte, kauften sie diese von verängstigten Amerikanern
in Dollar auf der Basis von Franc-Umrechnung. 2007 sollten sie (wieder einmal
fristgerecht und hübsch dekoriert) die Villa in Euro zur gleichen Summe verkaufen
und das taten sie dann auch gleichermaßen bei dem Haus in Castellinaria.
Natürlich bekam Johannes Goerz seine vermeintlichen Nachbarn niemals
mehr zu Gesicht, um ihnen zumindest einmal die Meinung zu sagen. Der ehemalige Journalist
gehörte also schon wegen seines baufälligen Domizils und der Tatsache, dass er nun
weitgehend vom „Eingemachten“ leben musste, ganz sicher zu denen, die Gefahr
laufen würden, zu verkümmern. Er entwickelte jedoch für das Phänomen des
Euro-Wertwandels ein Ursachenschema, mit dem sich außer ihm auch andere
Europa-Depressive gedanklich aus dem schwarzen Loch hätten hieven können: Das
Pizza-Theorem.
Das Pizza-Theorem zeigte einerseits die Machtlosigkeit des Individuums,
machte ihm andererseits aber auch deutlich, dass es zumindest nicht allein von
den Wirtschaftsmächten verarscht wurde – dass das Volk als Volkswirtschaft
demnach immer noch die Chance gehabt
hätte, zurück zu schlagen:
Der Euro war im März/April 2002 für die Italiener immer noch so
ungewohnt, dass die Kaufhäuser und Laden-Ketten die Waren (zum Teil bis heute)
auch noch mit Lire auszeichneten. Restaurants gestalteten ihre Menükarten nach
diesem Vorbild, um zu suggerieren: Schaut her, nichts hat sich durch die neue
Währung geändert. Aber der Euro war für den kleinen Mann eben ein schleichendes
Gift. Drehbuchschreiber von Verschwörungsthrillern könnten rückblickend
vielleicht einen Zusammenhang zwischen der Euro-Einführung, „Nine Eleven“, Börsen-Crash, „America at War“ und dem damit
verbundenen Angriff auf den Irak konstruieren. Tatsache war, dass das beidermaßen
in Friedenskundgebungen und Kriegshandlungen engagierte Berlusconi-Italien mehr
damit zu tun hatte, die regenbogenfarbenen „Peace“-Flaggen auf die Balkons zu
hängen, als Preise zu kontrollieren.
Der kleine Riss im Damm gegen den
„Teuro“ wurde durch eine Pizza-Kette verursacht. Die Schallgrenzen für Pizze
lagen 2001 zwischen 6000 und 9000 Lire (etwa sechs bis neun Mark). Heimlich
hatte sich im April der Euro-Preis für die „Margherita“, die nur mit
Mozzarella, Tomaten und Basilikum belegte in der Regel billigste Version, mit
3,90 Euro von der alten Einstiegsmarke entfernt. Als sie erstmals die
Vier-Euro-Grenze überschritt, schlugen die Italienischen Verbraucherschützer
angesichts der Preissteigerung um 25 Prozent innerhalb dreier Monate erstmals
Alarm und riefen zum landesweiten Boykott von Pizzerien, Pizza-Bäckereien und -Lieferanten auf.
Das funktionierte. Ein Wochenende lang aß Italien nur selbst gemachte
oder tiefgekühlte Teigfladen. Es rutschte jedoch nur die Margherita unter die
frühere Marke zurück. Die nicht so leicht typologisch zuzuordnenden übrigen Pizza-Kreationen
mogelten sich weiter auf die Neun Euro zu oder schlichen sich im Jahr darauf
gar schon darüber. Im Frühjahr 2008 kostete die Durchschnittspizza bei gleichem
Lohn-Niveau und EU-weit geringeren
landwirtschaftlichen Erzeuger-Preisen mit Neun Euro nach nur fünf Jahren um
jedenfalls 100 Prozent mehr.
Das Theorem hätte übrigens ohne weiteres auch auf Deutschland als
Schweinsbraten- oder in Österreich als Kaffeehaus-Theorem angewendet werden
können… Der 1000Lire-Steh-Espresso war auf wundersame zwei Euro geklettert,
aber da hatte dieses Genussraucher-Volk auch schon ohne jeglichen Widerstand
und vor allen anderen EU-Mitgliedsstaaten die härtesten Restriktionen gegen
Tabakqualm akzeptiert…
Bernhard Kleiner wusste zunächst mit Johannes Goez, dem neuen,
streitbaren Bewohner Castellinarias nichts anzufangen. Ihm fiel auf, dass dieser
sich jedoch sehr schnell in seinem Umfeld zurechtfand, weil er ungeachtet
seiner geringen Sprachkenntnisse auf die Einheimischen zuging und ihnen
sichtlich bemüht zuhörte - wie ein Therapeut oder Seelsorger. Goerz signalisierte
ihnen – anders als der beflissene Peter Häubel - dass er mit ihnen leben, aber nicht um jeden
Peis dazu gehören wollte. Man zollte ihm wohl gerade deshalb schnell Respekt.
Dieser wuchs auch, weil der Autor für Dienstleistungen und Reparaturen
sein Geld strikt im inneren Zirkel der Gemeinde ausgab, selbst wenn er sich
dafür manche Unzuverlässigkeit (zunächst durchaus bewusst) einhandelte. Aber
irgendwann erträgt auch der dickste Nacken keine weiteren Schläge mehr.
Der von ihm engagierte Baumeister war mitten
im totalen Sanierungs- und Umbau-Chaos in Folge eines Herzinfarktes von der
Leiter gepurzelt. Dadurch geriet dessen „banca di favore“, die
Gefälligkeitsbank, in Schieflage. Mit den Lebensgeistern des „impresarios“
waren nämlich auch 15 000 per Handschlag a conto übergebene Euro entfleucht.
Und unmittelbar darauf stellte sich heraus, dass die Baugenehmigung für eine
Säulenreihe, die eine marode Mauer an der Dachterrasse nach Maßgabe des
Verstorbenen ersetzen sollte, beim „Sindaco“ nicht eingeholt worden war. Das bedingte eine Anzeige wegen Verstoßes
gegen den mittlerweile sehr strengen Denkmalschutz. Eine neue, kostenpflichtige Vermessung für das
Katasteramt zuzüglich eines stattlichen Bußgeldes wurde fällig.
Bernhard Kleiner war ein harter Mann, und nichts von dem, was seinem Landsmann
widerfuhr, hätte ihn jemals emotional tangiert. Doch als er den Fleischberg
eines Morgens heulend und zusammen gesunken durch die offene Haustür an seinem
Küchentisch sitzen sah, trat er ungefragt und auch besorgt von der Piazza in
dessen Haus.
Goerz wischte sich verschämt die geröteten Augen und versuchte sich an
einem Grinsen:
„Ich gebe auf. Dieses Haus schafft mich. Das ist eine Sparbüchse ohne
Boden. Und jetzt das!“
Er wies auf die vor kurzem frisch gestrichene Küchendecke. Dort breitete
sich zügig ein pechrabenschwarzer Fleck aus. Irgendwie war das ablaufende
Wasser aus der Wanne des darüber liegenden Bades seit Jahren unbemerkt in einen
stillgelegten, zu zementierten und total verrußten Kaminabzug geraten.
Jahrhunderte Olivenholz-Befeuerung mussten sich in ihm abgelagert haben. Jetzt
hatte sich das seit wohl geraumer Zeit zusickernde, sehr kalkhaltige Wasser
einen Weg durch die Hohlräume der Mauern gebrochen und diese Melange war zusätzlich
rabenschwarz oxidiert.
Dies also war der Moment, in dem der legendäre „Ruinen-Bernd“ seine
Wiedergeburt feierte, und es war auch der Beginn einer eigentümlichen
Männerfreundschaft. Zwei vom Leben unterschiedlich geschundene Alpha-Wesen
gingen zunächst eine Symbiose ein, die sicherlich keiner von beiden noch ein
paar Jahre zuvor für möglich gehalten hätte. Der eher Manuelle und der ans
Dominieren gewöhnte Delegierer – konnte das gut gehen?
Instinktiv spürte Goerz die einfach strukturierte Kompetenz und den unerschütterlichen
Mut zum Anpacken bei dem zehn Jahre Älteren und lieferte sich erstmals in
seinem Erwachsenen-Leben einem anderen Menschen vorbehaltlos aus.
Dank Euros Gnaden sollte dies eine der besten Entscheidungen seines
Lebens werden. Mit „castorpschem“ (nach dem Zauberberg-Held entlehnte Charaktereigenschaft)
, naivem Staunen nahm er in den kommenden Monaten die Urkraft wahr, die von
diesem Zauberberg ausgehen konnte, wenn man sich nur bewusst auf ihn einließ. Es
schien auch, als wolle jener seine Bewohner erst prüfen, ehe er sie dauerhaft
als Residenten duldete.
Schutthalden, Trümmer im Haus, Deckenkonstruktionen,
die nicht hielten, was sie versprachen – das alles hätte den alten Johannes an
den Rande eines Nervenzusammenbruches geführt. Jetzt war es ihm wurscht, wenn
er sich einen Abend mal staubverkrustet und stinkend zum Schlafen niederlegte,
weil das Wasser abgestellt bleiben musste. Jetzt war ihm auch egal, dass sein
ramponiertes Vermögen stetig schrumpfte wie die von Signora Edda auf blitzenden
Blechen zum Ausdörren auf dem Dach gegenüber ausgelegten Tomaten. Jeden Morgen trat er mit breiter Brust auf die Piazza oder seine
über allem schwebende Terrasse, umarmte das einzigartige Panorama und sog die
vom Meer aromatisierte, frische Bergluft wie befreit in seine Lungen. Sein
Leben hatte als Ruinen-Bauherr einen neuen Orientierungspunkt, und diese
Zielsetzung riss sein Umfeld mit.
Milan Besnik war der erste, der Johannes Goerz in einer Mischung aus
Respekt und Baustellen-Kumpanei mit seinem zukünftigen Spitznamen „Don
Giovanni“ ansprach. Kleiner hatte die beiden Albaner in kleiner Nachbarschaftshilfe
engagiert, weil diese neben ihrer erwiesenen und erprobten Zuverlässigkeit als
einzige nicht mit dem Euro ihre Preise eins zu eins angehoben hatten. Er ahnte
ja nicht, was Johannes Goerz bald erfahren sollte, aber seiner Verschwiegenheitspflicht gehorchend, noch Jahre für sich behalten musste:
Die „Sterbenachhilfe“ in Euroland war bei
zunehmender Zwielichtigkeit derart gefragt, dass die zwei das Schuften am Bau,
schlicht als einen, die Nerven
beruhigenden Ausgleichssport
betrachteten. Den meist ausländischen Bauherren fielen dabei die immer häufigeren
partiellen Abwesenheiten des einen oder anderen Besnik nicht wirklich auf. Dass
auf einmal Sali Besnik häufig allein auf seiner Baustelle schuftete, führte
beispielsweise Johannes Goerz darauf zurück, dass nur der titanische Rotschopf
so mühelos dazu in der Lage war, die Tonnen von Schutt durch das winkelige
Anwesen nach draußen zu schaffen.
Als auch „Il Mulo“ ihn zum ersten Mal mit „Don
Giovanni“ ansprach, fühlte sich der Schreiberling gruselig amüsiert an die
Szene in „Der Pate I“ erinnert. Die, in der der Killer Clemenza Don Corleone
seine Aufwartung macht und in gutturalem Dialog seine tödlichen Anweisungen
empfängt. Wie sollte „Don Giovanni“ da schon ahnen, wie treffend diese
Assoziation noch werden würde?
Und dann hatte Goerz beim gemeinsamen Schleppen einer schweren Säule in
Folge von Pressatmung eben diesen bereits beschriebenen, kurzen Herzstillstand,
der den Exil-Albaner aus seiner zementierten Rolle zwang.
Ausgerechnet beim Lebensretten hatte Sali Besnik seine Tarnung
aufgegeben. Das Schicksal schreibt wirklich die besten Sketche!
Johannes Goerz hielt die gesamten Hintergründe für einen geplanten Roman
lange unter Verschluss. Was womöglich auch damit zusammen hing, dass Sali
einige Wochen, nachdem die Renovierung von Goerzens Haus endlich abgeschlossen war, auf die beschriebenen Weise zu Tode kam. Kurze Zeit darauf war dann übrigens auch Milan samt dem kleinen Bauhof bei
Garlenda verschwunden.
Bernhard Kleiner waren die stimmungsmäßigen Veränderungen seines neuen
Bekannten nach dem euphorischen Zwischenhoch durchaus nicht verborgen geblieben,
aber so sicher war er sich, dass Goerz ihm eines Tages erklären würde, was
geschehen war, dass er nicht neugierig war. Noch waren sie beim Umgang
miteinander zur Sicherheit distanziert beim Sie geblieben.
Kleiner
hatte Goerz genauestens studiert, ehe er langsam begann, ihm zu vertrauen. Ihm war aufgefallen, dass dessen
augenscheinliche Interesselosigkeit im näheren Umfeld in erster Linie den
deutschen Landsleuten auf dem Zauberberg galt. Bei den Italienern war das
anders. Lucca, Enzo und die anderen mit Bernhard in die Jahre gekommenen Spießgesellen
der ersten Zeit in Castellinaria hatten
„Il Rullo“, die Dampfwalze, sofort in ihr Herz geschlossen. Sie nannten
Goerz wegen seiner bisweilen plattmachenden Herzlichkeit ihnen gegenüber und
natürlich auch wegen seiner Figur so. Bernhard beschrieb Traute die Art, wie
Goerz, sich so schnell auf neue Bekannte oder alte Antipathien einstellte, als
sie einmal an der Kasse im Supermarkt standen:
Die Kassiererin zog Produkt um Produkt stoisch über das Scannerfenster.
Erst wenn eines keinen Signalton von sich gab, widmete sie ihre Aufmerksamkeit
ganz individuell dieser Ware. Dann tippte sie die Zahlen des Strichcodes ein
und schickte sie auf dem Laufband hinterher. Manche Produkte - meist selten
ausgewählte aber auch besonders neue wurden dann per Aufruf durchs Mikrofon
ausgezeichnet an die Kasse nachgeliefert. Die nicht derart standardisierten
Stücke gingen in einen besonderen Korb. Bernhard wies auf das Scan-Fenster:
„Ich glaube der Goerz macht das mit Menschen genauso. Er scant sie und
bevorzugt die, die nicht gleich per Strichcode ihren Euro-Preis zu erkennen
geben. Wir sind wohl bei ihm in diesem Sonderkorb gelandet. Anders wäre das bei
unserer Unterschiedlichkeit ja kaum zu erklären.“
Samstag, 7. Juli 2012
Il Mulo
Castellinaria Kapitel 13
Spitznamen können
schrecklich sein. Manchmal sind sie auch noch schrecklich zutreffend. Um den
Mann, den sie Mulo, Muli oder das Maultier nannten, rankten sich viele
Legenden. Die ehrabschneiderischste war
die, die sich an der Zoologie anlehnte: Mulos Vater sei eben der "geile
kleine Esel" gewesen, der die schönste und größte Pferde-Stute im Dorf geschwängert
habe. Die ehrfürchtigste wurde über seinen Weg in den Westen verbreitet:
Als die Guardia Costiera den mit albanischen
Flüchtlingen überladenen Fischerkahn in einer stürmischen Winternacht vor
Brindisi aufgebracht hatte, habe sich das Maultier in einem unbeobachteten
Moment mit einem hufeisenförmigen Rettungsring über Bord gestohlen. Der Ring
sei noch nicht einmal groß genug gewesen, um über Mulos Nacken zu passen, damit
sein Kopf nicht unter Wasser geriet. Er habe nur seinen Hinterkopf drauflegen
können, hätte seine überlangen Arme zur Toter-Mann-Lage ausgebreitet und sei
auf diese Weise die ganze Nacht im kalten Wasser herumgetrieben, bis ihn eine
gnädige Welle an Land gespült habe. Das sei bei Bari gewesen. Neun Monate hätte
er sich tagelöhnernd von Ort zu Ort immer dort verdingt, wo seine gewaltigen
Körperkräfte von Nöten gewesen seien. Eines Tages sei er dann gar nicht
überraschend bei einem legal als Maurer an der Ponente lebenden Vetter
aufgetaucht, hätte ihm das unterwegs verdiente Geld wortlos in die Hand
gedrückt, und es sei genug gewesen, um die kleine Baufirma bei Albenga zu
gründen, die sie nun seit einigen Jahren gemeinsam betrieben.
Die
furchterregendste Version der Maultier-Legende war jedoch die: Mulo sei ein
kosovarischer Killer, und seine Existenz als Bauarbeiter nur eine Tarnung für
seinen Blutjob. Den Spitznamen Mulo hätte er von seinen Auftraggebern bekommen.
Wegen der sturen, unbeirrbaren und ausdauernden Weise, mit der er seine Hits zu
arrangieren pflegte.
Zwar gab Mulo den
Gerüchten keine weitere Nahrung, aber Legenden haben eben ihr Eigenleben, und
das wurde durch den Umstand noch angeregt, dass sich der Albaner auf den
Baustellen mit selten mehr als einem Dutzend Worten pro Tag aus einem
ligurisch-albanischen Vokabular artikulierte.
Als der Autor Johannes
Goerz den legendären Mann zum ersten Mal sah, stand dieser gerade ungesichert
in 13 Meter Höhe auf der Terrassenmauer in einem Teil des mittelalterlichen Hauses,
das sich der Deutsche zu seiner Ruhestandsresidenz umbauen ließ. Das Maultier
wuchtete Hand über Hand eine Palette Bodenfliesen aus der Gasse hoch, obwohl es
in Armlänge von ihm einen Flaschenzug gab, der ihm die Arbeit hätte erleichtern
sollen. Als Goerz zu ihm auf die Terrasse kam, sah er das Malheur. Das
angeblich strecksichere Bau-Seil, das er in den Zug eingelegt hatte, hing
überstreckt zwischen den Blöcken und ringelte sich wie Schillerlocken die Wand
hoch. Der Schrat musste es mit einer Tonne oder mehr belastet haben... In dem
Moment, in dem er die Palette über die Mauerkrone schwang, als handele sich um
ein Geschenkpaket, blinzelte Mulo Johannes aus einem Auge seines schräg
gestellten Kopfes zu und gab einen grinsenden Grunzlaut von sich. Die
Ideal-Besetzung für einen Quasimodo, schoss es Johannes Goerz durch den Kopf, aber
er sollte sich gründlich irren.
Wenige Wochen vor
dieser denkwürdigen Begegnung war der Autor, der bis dahin selbst gern die
Muskeln hatte spielen lassen, von irreparablen
Herzrhythmusstörungen heimgesucht worden und knapp an seinem ersten
Schlaganfall vorbei geschrammt. Unter starken Medikamenten versuchte er, sich
in die Nähe seiner alten Form zu bringen, aber für die richtig harten Sachen
brachte sich eben von nun an ohne viel Worte das Maultier ein. Mitunter kam er
allein von einer anderen Baustelle, um zu helfen oder etwas fertig zu machen,
und dann ergab es sich, dass die beiden
so unterschiedlichen Männer bei einem Bier in der Abendsonne saßen oder
schweigend gemeinsam eine Pasta-Mahlzeit spachtelten, die Johannes ihnen zubereitet
hatte. Da der Blick des Urwesens immer freundlicher und offener wurde, fasste
Johannes eines Abends den Mut, eine Art Konversation zu beginnen: In seinem
einfachen Italienisch machte er seinem Gegenüber klar, dass für Deutsche der
Spitzname Maultier oder Muli eher eine Beleidigung darstelle. Er wollte ihn bei
seinem richtigen Namen nennen. Nein, Johannes hatte nie den Eindruck, es mit
einem Debilen zu tun zu haben, aber er war doch einigermaßen überrascht, als
sich in das Gesicht seines Gegenübers beim Zuhören ein aufgewecktes Lächeln
schlich. Er heiße Sali Besnik, und es sei ihm eine Ehre, meinte der Mann, den
sie Mulo nannten. Das war der erste ganze Satz ihrer Kameradschaft, die sich
dennoch zunächst einmal nur stillschweigend weiter entwickelte.
Eines Tages musste der
körperliche Arbeit nicht sonderlich Gewohnte bei einer Säule mit anpacken, die
über eine enge Treppe hinauf sollte. Und obwohl Sali als Untermann den
Löwenanteil des Gewichtes auf sich nahm, geriet Johannes durch das Tragen vor der
Brust und die erzwungene Pressatmung offenbar in eine Art Sauerstoff-Defizit.
Genau das, wovor ihn die Ärzte nachdrücklich gewarnt hatten. Es gelang ihm
gerade noch, die Säule abzusetzen, ehe er in eine kurze Ohnmacht fiel. Als er
aufwachte, spürte er den Kopf des Albaners auf seiner Brust. Er horchte in Ihn
hinein und schaute dann mit einem eindeutig geschulten Blick in die benommenen
Augen von Johannes.
"Du bist ein
Arzt! Sali?"
"Das Problem
sind nicht die Arhythmien, mit denen könntest du hundert Jahre werden. Das
Problem ist dein hektisches Atmen. Das bringt dir den Sekunden-Tod, wenn du dir
nicht eine Atemkontrolle
antrainierst."
Goerz war zwar noch konfus, aber nicht so sehr, dass er nicht
gemerkt hätte, dass der Mann - mit einem guturalen Akzent zwar - Deutsch
gesprochen hatte.
"Wer bist
du?"
"Ich war mal Dr.
Sali Besnik. Jetzt bin ich il Mulo. Ich weiß, du bist ein Geschichten-Erzähler,
aber die Geschichte, die ich dir erzählen könnte, würde keiner glauben. Also
lassen wir es besser."
Für eine Weile sahen
sich die beiden nach diesem Outing nicht mehr.
Aber auch der ehemalige Reporter
erzählte aus einer Eingebung heraus - quasi im Hinblick auf einen nicht
vereinbarten Quellenschutz - niemandem von
dem Erlebten. Er hatte aber im Internet gestöbert. Mit diversen Suchbegriffen
hatte er versucht, einen Zeit- und Ereignisraster zu konstruieren, denn schon
bald war ihm klar geworden, dass es zwar diverse Sali Besniks gab, aber keinen,
der annähernd deckungsgleich mit dem Signalement des Mulis war. Auch indem er
die Legenden, die sich um Mulo rankten, in Suchbegriffe zerlegte, landete er
keinen Treffer. Der Mann war zwar deutlich jünger als er selbst, aber er war
alt genug, dass er noch unter der finstersten kommunistischen Regierung Europas
studiert haben musste. Das Deutsch hatte er vermutlich bei Gastsemestern oder
als Assistenzarzt in der ehemaligen DDR gelernt.
Dann hatte auf
einmal alle Spekulation ein Ende, weil Mulo eines Abends vor der Tür stand.
Eine Flasche Grappa und eine Tüte frische Focaccia
unterm Arm:
"Irgendjemand
muss ich es ja mal erzählen. Sie sind schon hinter mir her, um mich
umzubringen. Meine Leute sind ja alle tot,
aber mein Vetter mit seiner Familie hängt noch mit drin. Aber du wirst
wissen, wie du mit dem Wissen umgehst. - Du könntest meine Geschichte eines
Tags vielleicht verwenden. Ich würde nicht umsonst gestorben sein und ein paar
bekämen dann vielleicht mal selber
Angst. Ich war ein..."
An jeder Legende
haftet ein Teil der Wahrheit. Diese Erkenntnis gewann Johannes in jener Nacht.
Der Vater vom Muli war zwar klein gewesen, aber längst kein Esel. Er war
Bibliothekar und trotz aller Repressalien hatte er als orthodoxer Christ
gelebt. Seine Furchtlosigkeit hatte ihn zum Ankerplatz einer intellektuellen
Opposition gemacht, und da viele Kinder
aus Familien der Nomenklatura Tiranas sich darin gefallen hatten, Ilja
Ehrenburgs "Tauwetter" oder Boris Pasternaks "Dr. Schiwago"
zu diskutieren, waren diese Kreise relativ unbehelligt geblieben. Gefährlich
war es erst geworden, als eine üppige hoch aufgeschossene, honigblonde
Kosovarin regelmäßig zu den Treffen gekommen war. Wie viele körperlich kleine
Männer war der Bibliothekar urinstinktiv den ausladend einladenden Reizen der Studentin
erlegen und er träumte fortan geradezu besessen davon, sein Denkerhaupt auf
immer zwischen diesen gewaltigen Brüsten zur Ruhe zu betten. Doch die
Rubensschönheit, die ihn nicht nur um Haupteslänge überragt hatte, sondern auch
Muslima war, wurde von eigenen Tugendwächtern, nämlich ihren vier äußerst
aggressiven und gnadenlosen Brüdern observiert... Furchtlosigkeit - vor allem,
wenn man körperlich nichts zuzusetzen hat - zehrt aus. Der Muli sollte nie
erfahren, wie es sein Vater angestellt hatte, alle Hindernisse aus dem Weg zu
schaffen, um seine Mutter nicht nur zu heiraten, sondern ihn auch noch zu
zeugen. Denn der Beginn seiner Wahrnehmungsfähigkeit war mit dem Verfall jenes
kleinen, Brille tragenden Männchens zusammen gefallen, den er wohl mit den ersten
Worten Papa genannt hatte, der aber noch vor seinem dritten Geburtstag seinem Leberkrebs
erlag.
Es war nach dem Tod
seines Vaters nicht zu der tragischen Kindheit gekommen, die gemeinhin zu
erwarten gewesen wäre. Ljuba, seine Mutter, hatte seinen Vater so geliebt, dass
sie nie wieder heiraten sollte. Aber sie hatte die Männer gut genug studiert, um mit dem Fetisch ihres
Körpers auf die meist kleinwüchsigen Machtneurotiker ihres Landes Einfluss zu nehmen.
Als in Deutschland die Mauer fiel, war sie gerade die Lebensgefährtin des
albanischen Botschafters in „Berlin, der Hauptstadt der Deutschen
Demokratischen Republik". Ihr Sohn stand in Jena kurz vor dem Facharzt für
Kardiologie.
Wie schnell das
damals gegangen war: Die Genossen waren im wieder vereinten Deutschland über
Nacht zu unbequemen Gästen geworden. Gerade noch politisch hofiert, war ihnen
unmissverständlich nahe gelegt worden, in ihre trotz freier Wahlen noch zwei
weitere Jahre im Kaderkommunismus verharrende Republik zurück zu kehren.
Il Mulo hatte das
getan, was er bei Veränderungen am liebsten tat. Er stellte sich stur und
konzentrierte sich auf seine Berufung als Arzt. Ljuba war ebenfalls beim
bewährten Rezept geblieben und leistete erneut vollen Körpereinsatz.
Gleichzeitig mit der ersten demokratischen Regierung Albaniens hatte sie es
wieder einmal an die Spitze geschafft. Man nannte sie nur noch die
"Prinzessin der Pyramiden". Damit waren nicht die von Ägypten
gemeint, sondern jene Kapitalanlage-Modelle, die den gerade mal aufkeimenden
Wohlstand in der albanischen Bevölkerung durch unsaubere Machenschaften auf
nimmer Wiedersehen abschöpften. Am zweiten Tag des so genannten
"Lotterie-Aufstands" drangen aufgebrachte Menschen im Morgengrauen in
die Strandvilla eines der verantwortlichen Bankiers und erschlugen ihn in
seinem Bett. Ljuba, die neben ihm lag, wurde auf die Straße gezerrt und
schließlich auf obszöne Weise vor den Augen aller geschändet. Sie erlag ihren
inneren Verletzungen ausgerechnet in dem Krankenhaus, in dem ihr Sohn als
Stationsarzt Bereitschaftsdienst hatte.
Der nicht mehr
einzudämmende Wortschwall, mit dem Il Mulo Johannes sein Leben geschildert
hatte, endete mit Tränen, die dieses Urtier von einem Mann geradezu grotesk erscheinen
ließen.
"Ich habe so
große Schuld auf mich geladen. Statt Leben zu retten und zu bewahren, habe ich
Leben ausgelöscht. Ich dachte, die harte körperliche Arbeit könnte mich
läutern. Mein Gewissen abstumpfen. Aber ich wollte so gerne wieder einmal
Deutsch reden, und dann kam dein Schwächeanfall. Plötzlich war er wieder da,
der Arzt - verstehst du? Und damit das Grauen.“
Es vergingen nach
dem ergänzenden Bekenntnis, erneut viele Tage, in denen Johannes wieder nichts
vom Maultier hörte. Und dann kam es - von den meisten kaum beachtet - in den RAIregionale-Nachrichten.
Ein Fischer hatte
mit seinen Stellnetzen vor dem Capo Berta einen Mann aus dem Meer gezogen. Der
Mann sah so entspannt und zufrieden aus, dass die Behörden an einen betrunkenen
Bade-Unfall geglaubt hatten. Die Obduktion bestätigte zwar, dass der Mann
ertrunken war, aber eben an flüssigem Marmorkleber. Es war der Mann, den
sie il Mulo genannt hatten...
Freitag, 6. Juli 2012
Das Spiel der Spekulanten
Castellinaria Kapitel 12
War der Lenz durch sein Unwesen doch so etwas wie ein Katalysator für
Castellinaria gewesen – oder eher eine Art Reaktionsbeschleuniger?
Indem er sich nicht ganz freiwillig von
dem Burgberg zurückzog, öffnete er den Wegelagerern, die an den Geldflüssen des
neuen Europas lauerten, jedenfalls ein weiteres Feld. Eine zweite, diesmal viel
breitere Invasionswelle von Spekulanten rollte nun auf die höher gelegenen
Bergdörfer Liguriens zu. Sie erfasste vor allen auch das durch die neue
Schnellstraße im Tal dem Meer näher gerückte Castellinaria
Das Jahrzehnt der Habgier hatte zur Jahrtausendwende und bis zum
Anschlag auf die Twintowers des World Trade Centers einen sich selbst
erhöhenden Menschenschlag von Gewinnlern, Spekulanten und Raffern in die
schönsten Regionen des alten Europas geschwemmt. Sie nutzten vor allem die Gier
der Neureichen, die ihr langes kommunistisches Darben hinter dem Eisernen
Vorhang mit einer Art Hochgeschwindigkeitskapitalismus wett zu machen hofften.
Über Nacht waren die in der Lage, jeden Preis für aufgestaute mediterrane
Träume zu bezahlen.
Das westliche Ligurien, das nach den beiden Weltkriegen irgendwie im
Windschatten diverser Wirtschaftswunder weitgehend unbeschadet ausgeharrt
hatte, geriet nun auf einmal auf die Landkarte spekulativer Begehrlichkeiten.
Die Toskana war zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend abgegrast. Die Cote D’Azur
- vor allem zwischen Nizza und Menton –
durchbrach bereits die ökologisch vertretbare Bebauungsdichte, also schwappte
das Geld nun ins Hinterland von Bordighera und Sanremo und begann den
küstennahen Blumen- und Gemüsegürtel in Richtung Imperia zu verdrängen.
Der große Rahmen der Veränderung war beispielhaft am alten Hafen von Imperias Ortsteil Oneglia fest zu machen:
Im Jahr 2000 vermittelte er noch den morbiden Charme des
Industrie-Zeitalters. Wie Urzeittiere standen die auf Schienen beweglichen
Riesenkräne an den Kais und die Gleise des Güterverkehrs führten noch direkt zu
ihnen hin. Gebraucht aber wurden beide kaum noch. Große Frachter legten schon
längst nicht mehr an. Den kleinen Kümos, die Oliven-Schrot zum Verschneiden des
ligurischen Öls aus Nordafrika herüber
brachten, reichten die zwei restlichen Kräne…
2007 lagen bereits die ersten Millionen-Jachten Bug voraus am Pier.
Angedockt an ultra modernen
Versorgungseinheiten und mit unmittelbarem Blick auf die renovierte und in
vielen neuen Farben erstrahlende historische Häuserfront, in der die
einfacheren Appartements nun ab 300 000 Euro aufwärts kosteten. Eine
wunderschöne „zona divertimento“ war
aus dem alten Hafen geworden und veränderte das vergnügliche Leben in dieser
Stadt, die bis dahin eher das hässliche Entlein im Reigen der ligurischen
Küstenorte war.
Der kleinere Rahmen der Veränderung wurde 600 Meter höher rund ums Kastell
von Castellinaria gezogen: Allerdings vollzog sich der Wandel der Zeit dort mit
mehr Zeit beim Wandeln. Denn je länger es dauerte, desto mehr Gewinn versprach
bei den rasant steigenden Preisen unten das umsichtige Engagement oben. Auch die restlich
verbliebenen Ruinen des Ortes erfuhren daher nun nach und nach ihre
Wiederauferstehung als kapriziöse Wohnobjekte. Wobei gar nicht mehr zählte, ob
die Gemäuer einst jemals als Wohnraum für Menschen gedacht gewesen waren.
Ehemalige Tierställe, Speicherräume für die Olivennetze und die leeren Glasflakons
avancierten über Nacht zu romantisch rustikalen Ferienwohnungen. Ja sogar der
örtliche Ölmüller, der Frantoio, gab sein verwinkeltes, mittelalterliches
Bogengewölbe auf, um einem aufstrebenden Künstler stilvoll und preislich
absolut überzogen Wohnung und Atelier zu bieten.
Gegen die neuen Bauherren hatte vergleichsweise sogar der Lenz noch
einen gewissen Ethos bei der Renovierung gehabt. Die Devise der neuen
Spekulaten war es, schnell zahlungsbereiten Sonnen-Sehnsüchtigen eine Art
potemkinsches Dorf vorzugaukeln. Wie sehr sich die Geschichte im zaristisch russischen
Sinne wiederholte, sollte das vorläufige Ende dieser Geschichte noch zeigen.
Eines Tages war nach Jahren der Abwesenheit „la Dottoressa“, die Dröse
also, wieder mit einem schicken Mann an der Hand zur Piazza hinauf gestöckelt. Sie
hieß jetzt allerdings nicht mehr Dröse,
sondern Gogel. Aber der Spitzname „la dottoressa“ blieb ihr noch eine Zeit
lang, obwohl sie nie eine Uni von innen und „akademische Grade“ allenfalls auf
diversen Liebeslagern beim Ausüben seltener Körperstellungen erworben hatte. Das
alte Prinzip „was du dir erheiratest, musst du dir nicht erarbeiten“ hatte sie jedenfalls
erneut mit zusätzlichem, krisenfestem Wohlstand versorgt. Zu dem trug nämlich
ihr neuer, fast ein Jahrzehnt jüngerer Prinzgemahl mit der Kaltschnäuzigkeit
einer just beendeten internationalen Banker-Karriere bei.
Patrik Gogel sah die Piazza und das hufeisenförmige Ensemble rund um die
Fontana, und sein Midas-Blick verwandelte es vor seinem geistigen Auge in pures
Gold: die Rudimente vom Castell mit dem gegenüber liegenden Haus der
„Francesa“, die Metzgerei aus dem vorvorigen Jahrhundert samt Zerwirkgewölbe
und die dazwischen gequetschte Kapelle. Innerhalb von Sekunden hatte er die
Summe im Kopf, die er noch herausschlagen würde, selbst wenn er seiner Königin
quasi als Abfallprodukt auch wieder eine neue, hochherrschaftliche Residenz – diesmal
aber am Meer - kaufen würde.
Die ehemalige „dottoressa sesso“ jedenfalls war nun voller
Inbrunst und Leidenschaft Bankiersgattin Gogel. In Erkenntnis eigener
fortschreitender Reife hatte sie sich, um den Altersunterschied auszugleichen, in
diesen Jahren einen gewagten Farb-Code verschrieben. Eine Vorliebe für den
Farbton Purple sollte visuell das anregen oder erregen, was die unsichtbaren
und immer noch reichlich verschütteten Botenstoffe nun nicht mehr so hergaben.
Obwohl sie dazu auch noch signalisierte, vollen Körper-Einsatz leisten zu
wollen, blieb allen außer Patrik Gogel nicht verborgen, dass das ganze immer
mehr zu einer Parodie auf Laszivität geriet.
Halt, das stimmt nicht ganz. Johannes Goerz, der sie ja nicht von früher
kannte und - gleich alt – die Tragik nachlassender sexueller Attraktivität am
eigenen Leib nachvollziehen konnte, fuhr vom ersten Blick voll auf sie ab. Er
nannte sie unpassend My Purple Heart,
schenkte ihr CDs von Deep Purple und ein Video von „Jimmy plays Monterey“ auf
dem Hendrix die lange Version von Purple Haze zum Besten gab. Die purplefarbene
Gel-Frisur, die langen, künstlichen Finger- und Fußkrallen sowie dazu passend
Lippenstift und hauchzarte Jeans aus Satin oder Saffian im gleichen Farbton
lösten bei dem Schreiberling auch noch ganz andere vorpubertäre Reaktionen aus.
Gogel, der Goerz aus gemeinsamer beruflicher Vergangenheit kannte, boten
diese jedenfalls die Initialzündung für
ein Bomben-Geschäft. Er nutzte das Überreizen seiner welkenden Venusfalle,
indem er sie noch einmal zu voller Blüte anstachelte. Obendrein hatte Frau
Gogel aber nicht nur ein Händchen, oberflächliche Verschönerungen an der
eigenen Person vor zu nehmen. Was sie mit wenigen Tricks aus dem Haus der „Francesa“
bis zum Ablauf der Spekulationsfrist gemacht hatte, war innenarchitektonische
Bauernfängerei vom feinsten. Goerz, der die Trennung von seiner Familie gerade
hinter sich hatte und dessen offene Wunden eines über Nacht von Geschäfts- und
Vertragspartnern brutal herbei geführten Buyouts nicht verheilen wollten, war
zudem ein willfähriges Opfer.
Er war einen Sommer lang von Port Bou an der spanisch-französischen
Grenze nach Porto Venere am Ende der Cinque Terre entlang des Mittelmeers gereist, um sich in selbstmitleidiger
Larmoyanz einen Platz zu suchen, an dem er sterben wollte. Als ihn Gogel am
Handy erreichte, war er schon dabei, unverrichteter Dinge in eine Heimat ohne
Heim zurückkehren:
„Suchen Sie immer noch ein Haus im Süden?“
„Ja. Allerdings wollte ich gerade aufgeben.“
„Wo sind Sie denn im Moment?“
„In Porto Venere am Hafen. Preise haben die hier!“
„Was wollten Sie denn anlegen?“
„Na ja, maximal 300 000 Mark. -
Renovierung und Umbauten inklusive!“
„Bei unserem Haus könnten Sie ohne weiteres sofort einziehen.“
„Wieso wollen Sie denn verkaufen?“
„Meine Frau will unbedingt einen Garten. Ein älterer Herr verkauft sein
Haus hier am Ortsrand - eine Gasse weiter. Wir wären Nachbarn. Schauen Sie
sich’s an! In weniger als drei Stunden könnten wir hier auf unserer Terrasse
bei einem eiskalten Vermentino den Sonnenuntergang genießen. Mit dem
Preis werden wir uns dabei sicher einig.“
„Wo sind Sie denn?“
„In Castellinaria oberhalb von Imperia. Mitten in einem Kastell umgeben
von endlosen Olivenhainen. Es wird Ihnen die Sprache verschlagen.“
„Castellinaria? Heißt das nicht sinngemäß Luftschloss? – Wenn das mal
kein böses Omen ist…“, lachte Goerz mit
überzogener Heiterkeit.
Gogels Kalkül ging auf. Die spektakuläre Aussicht von seiner Terrasse
über vier Täler und ein Dutzend noch
tiefer gelegene Bergnester knockte Johannes Goerz an. Der Anblick von
Frau Gogel jedoch schickte ihn sinnbildlich auf die Bretter. Diese
kaschierende Verplankung der Terrasse hatte die Purple Lady eigenhändig frisch
schwarzbraun lackiert, um davon abzulenken, wie marode der Freisitz in
Wirklichkeit war. Das Schwarzbraun kontrastierte obendrein genial ihre
Purple-Aura.
Anfang September saßen sie schon zu Dritt beim Notar, wo 150 000 Mark –
der verbriefte und später ermittelte, tatsächliche
Wert – in Form von registrierten Bankschecks über den Schreibtisch gingen. Als
der Notar kurz mal auf Toilette ging, ließ Gogel weitere 140 Tausender in seinem
Aktenkoffer verschwinden. Goerz hatte sie ihm, in der Auffassung ein gutes
Geschäft gemacht zu haben, nach tolerierter, alter italienischer Steuer-Sitte bar - und für
Gogel natürlich schwarz - mitgebracht.
Am 11. September flogen die
Flugzeuge ins World Trade Center. Am 12. November kam ein Kälte-Einbruch und es
begann zu regnen; vier Tage wie aus Eimern. Die angeblich neue Gasheizung gab
ihren Geist auf. Wasser brach über die Terrasse und das Treppenhaus ins
Esszimmer und riss die halbe Decke samt der Verschleierung aus billigem Samt
mit sich. Ein Wasservolumen von einem Dutzend randvoller Badewannen musste aus
dem Stockwerk geschöpft werden. Von den ungezählten Litern, die in die neunzig
Zentimeter dicken Trockenmauern eingedrungen waren ganz zu schweigen. Aber
dabei konnte Johannes Goerz auch entdecken, dass die dekorativ gebogenen und
ziselierten, schmiedeisernen Vorhangstangen unter den Saal hohen Decken in
Wirklichkeit an den Enden gold lackierte, schwarz angemalte Armiereisen waren.
Zu Weihnachten gab es passend auch noch ein sakrales Erlebnis. Als der
Autor im Rundgewölbe seines Arbeitszimmers ein Regal aufhängen wollte,
brach eine Teller große, vielschichtige Scholle Putz aus der Wand. Dahinter
trat deutlich ein altes Fresko mit christlichen Motiven ans Tageslicht. Goerz war kein Experte, wie alt und wichtig es sein mochte. Aber italienische
Denkmalschützer, die seine mittelalterliche Bruchbude nach geltendem Recht auf
seine Kosten okkupieren konnten, bis die Provenienz gesichert war, wollte er sicher
nicht konsultieren. Der Hand eines heiligen Mannes folgten unter seinen
wütenden Hammerschlägen ein Stück Heiligenschein, der Turm einer brennenden
Kirche, sowie ein Fluss mit Kähnen drauf. Und von der Gewölbedecke fielen einige Engel aus
einem überputzten, blauen Himmel oder ließen brüchig Federn. War das in den
Anfangsjahren des Gemäuers vielleicht die Hauskapelle gewesen? Ein vermutlich
unwiederbringlicher Schatz ging da Schlag auf Schlag verloren. Selbst den
erklärten Agnostiker Johannes Goerz
überkam bei seinem Tun und aller Wut auf die Gogels massiv das schlechte
Gewissen.
Und dann galt ab 1. Januar 2002 der Euro…
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